Verfahrensgang

SG Leipzig (Entscheidung vom 18.01.2019; Aktenzeichen S 25 SB 299/16)

Sächsisches LSG (Urteil vom 16.04.2021; Aktenzeichen L 9 SB 18/19)

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 16. April 2021 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin wehrt sich in der Hauptsache gegen die Herabsetzung ihres Grades der Behinderung (GdB) von 100 auf 80.

Die 2005 geborene Klägerin leidet an einer hochgradigen Schwerhörigkeit beidseits, die an Taubheit grenzt sowie an einer audiogenen Sprachentwicklungsverzögerung. Im Mai 2008 wurde sie deshalb rechtsseitig mit einem Cochlea-Implantat und links mit einem Hörgerät versorgt.

Der Klägerin waren zuletzt ein GdB von 100 sowie die Merkzeichen "G", "B", "H", "RF" und "GL" zuerkannt (Bescheid vom 29.1.2009). Als Ergebnis einer 2015 vorgenommenen Nachprüfung setzte die Beklagte den GdB ab 22.8.2016 auf 80 herab, weil sich die Funktionseinschränkung "Gehörlosigkeit mit Sprachstörung" nachweislich gebessert habe (Bescheid vom 16.8.2016; Widerspruchsbescheid vom 16.9.2016).

Das SG hat den Änderungsbescheid aufgehoben, weil sich der Gesundheitszustand der Klägerin nicht wesentlich geändert habe. Sie habe ihren Entwicklungsrückstand nicht aufgeholt (Urteil vom 18.1.2019).

Das LSG hat das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Sprachstörungen der Klägerin hätten sich wesentlich gebessert, wie auch ihre schulische Entwicklung zeige. Nach den Vorgaben der maßgeblichen Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG) liege daher nicht wie bisher eine schwere, sondern nur noch eine mittelgradige bis schwere Sprachstörung vor, die bei der Klägerin mit einem GdB von 80 zu bewerten sei (Urteil vom 16.4.2021).

Mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin geltend, das LSG habe die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache verkannt und sei von der Rechtsprechung des BSG abgewichen.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Die Begründung verfehlt die gesetzlichen Anforderungen, weil weder die behauptete grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache noch eine Divergenz ordnungsgemäß dargetan worden sind (vgl § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).

1. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 18.6.2018 - B 9 V 1/18 B - juris RdNr 4 mwN).

Diese Darlegungen enthält die Beschwerde nicht. Sie formuliert bereits keine eindeutige Rechtsfrage zum Tatbestandsmerkmal einer gesetzlichen Norm. Soweit die Beschwerde die Auslegung von Teil B Nr 5.1 der (in Anlage zu § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung - VersMedV - geregelten) VMG und das Verhältnis der dort geregelten Fallgruppen in der Konstellation einer Cochlea-Implantation bei angeborener Taubheit für klärungsbedürftig hält, versäumt sie es bereits, auf die aktuelle Rechtsprechung des BSG einzugehen. Danach hätte sich die Beschwerde mit dem Beschluss des ärztlichen Sachverständigenbeirats Versorgungsmedizin vom 6. und 7.11.2008 auseinandersetzen müssen (BSG Beschluss vom 20.1.2020 - B 9 SB 28/19 B - juris RdNr 7). Nach diesem Beschluss ist bei angeborener oder in der Kindheit erworbener Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit nach Cochlea-Implantation - wie im Fall der Klägerin - nicht stets unterschiedslos ein GdB von 100, sondern je nach Ausmaß des Spracherwerbs im Einzelfall ein GdB von 80 bis 100 gerechtfertigt (vgl Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung vom 15.12.2008 - IV c 3 - 46052 - 2/60, GMBl 2009, S 233, 234). Diese Auseinandersetzung lässt die Beschwerde vermissen. Ebenso wenig legt sie dar, welche Rechtsqualität dem noch unter der Geltung der "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) ergangenen und mit dem zitierten Rundschreiben umgesetzten Beschluss zukommt (vgl BSG Urteil vom 23.4.2009 - B 9 VG 1/08 R - juris RdNr 43; BSG Urteil vom 18.9.2003 - B 9 SB 3/02 R - BSGE 91, 205 = SozR 4-3250 § 69 Nr 2, RdNr 18). Daher geht sie auch nicht darauf ein, ob sich nicht mithilfe der ua von der Beklagten und vom SG thematisierten Vorgaben des Sachverständigenbeirats in der Zusammenschau mit Teil B Nr 5.1 VMG die von ihr aufgeworfene Frage beantworten lässt.

2. Die für eine Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) notwendigen Voraussetzungen zeigt die Beschwerde ebenfalls nicht in der gesetzlich gebotenen Weise auf.

Wer eine Rechtsprechungsdivergenz entsprechend den gesetzlichen Anforderungen darlegen will, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in der herangezogenen höchstrichterlichen Entscheidung des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und dazu ausführen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen. Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (BSG Beschluss vom 12.1.2017 - B 9 V 58/16 B - juris RdNr 21 mwN).

Entsprechende Ausführungen enthält die Beschwerde nicht. Sie räumt selbst ein, dass die von ihr zitierte Entscheidung des BSG (Urteil vom 23.6.1993 - 9/9a RVs 1/91 - BSGE 72, 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6) nicht Teil B Nr 5.1 VMG, sondern das Merkzeichen "H" noch unter der Geltung der AHP behandelt, welches das LSG der Klägerin aber ohnehin weiterhin zugebilligt hat. Soweit die Beschwerde daraus einen "Erst-Recht-Schluss" auf die Auslegung von Teil B Nr 5.1 VMG ableiten möchte, handelt es sich ersichtlich um ihren eigenen Rechtssatz, nicht aber um denjenigen des von ihr zitierten BSG-Urteils.

Die Frage der zutreffenden Rechtsanwendung im Einzelfall der Klägerin ist im Übrigen nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (vgl stRspr; BSG Beschluss vom 26.1.2017 - B 9 V 72/16 B - juris RdNr 14 mwN).

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

3. Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2, § 169 Satz 2 und 3 SGG).

4. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Kaltenstein                                     Othmer                                         Röhl

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15098665

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