Verfahrensgang
SG Mannheim (Entscheidung vom 30.11.2020; Aktenzeichen S 16 R 2285/19) |
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 05.05.2022; Aktenzeichen L 7 R 4145/20) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 5. Mai 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung. Die Beklagte lehnte den Rentenantrag des im Jahr 1982 geborenen Klägers mit Bescheid vom 17.12.2018 und Widerspruchsbescheid vom 12.7.2019 ab.
Im Klageverfahren hat das SG Befundberichte der behandelnden Ärzte sowie zwei medizinische Sachverständigengutachten eingeholt. Der Facharzt für Innere Medizin, Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie S hat in seinem Gutachten vom 13.5.2020 festgestellt, der Kläger könne noch vollschichtig leichte Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt mit qualitativen Leistungseinschränkungen erbringen. Auch sei er in der Lage, einen Pkw zu führen. In einem HNO-ärztlichen Gutachten vom 7.7.2020 und einer ergänzenden Stellungnahme vom 10.10.2020 hat Horn festgehalten, es bestehe keine quantitative Einschränkung der Leistungsfähigkeit aufgrund von Schwindel. Gehstrecken in der Dämmerung oder in Dunkelheit bei schlechter Beleuchtung seien für den Kläger nicht geeignet. Zudem sollten sehr unebene Strecken vermieden werden. Öffentliche Verkehrsmittel könnten benutzt werden. In der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 30.11.2020 hat die Beklagte zu Protokoll gegeben, dass die Wegefähigkeit des Klägers nicht mehr gegeben sei und erklärt, nach Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses die notwendigen Fahrtkosten zwischen Wohn- und Arbeitsort durch einen zu beauftragenden Fahrdienst zu übernehmen. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 30.11.2020). Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und einen Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente ebenfalls verneint. Zwar bestünden qualitative Leistungseinschränkungen. Nach den Feststellungen der medizinischen Sachverständigen bestehe aber - auch unter Berücksichtigung der Schmerzen und der psychischen Beeinträchtigungen - keine zeitliche Leistungseinschränkung. Die eingeschränkte Wegefähigkeit sei durch die Zusage der Beklagten zur Übernahme der Kosten für einen Fahrdienst kompensiert. Das LSG hat die Berufung insoweit aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung des SG als unbegründet zurückgewiesen (Urteil vom 5.5.2022).
Gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht als Zulassungsgründe eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie eine Divergenz geltend (§ 160 Abs 2 Nr 1 und 2 SGG).
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil sie nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form begründet ist. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.
1. Soweit der Kläger zunächst geltend macht, das Berufungsgericht weiche von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ab, hat er eine Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG nicht hinreichend dargelegt. Eine solche liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies, dass die Beschwerdebegründung erkennen lassen muss, welcher abstrakte Rechtssatz in der höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht (vgl BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 5 R 296/20 B - juris RdNr 9 mwN). Diese Darlegungserfordernisse erfüllt die Beschwerdebegründung nicht.
Der Kläger trägt vor, nach höchstrichterlicher Rechtsprechung sei auch dann eine volle Erwerbsminderung anzunehmen, wenn der Versicherte zwar noch eine Beschäftigung von mindestens sechs Stunden täglich ausüben könne, ihm der Arbeitsmarkt aber dadurch praktisch verschlossen sei, dass entsprechende Arbeitsplätze aus gesundheitlichen Gründen nicht aufgesucht werden könnten. Ein solcher Fall der Wegeunfähigkeit sei in seinem Fall unstreitig gegeben. Die Beklagte habe dies in der mündlichen Verhandlung vor dem SG am 30.11.2020 zu Protokoll gegeben. Bereits das SG sei mit seiner rechtlichen Bewertung, die Wegeunfähigkeit des Klägers werde durch die zugesagte Übernahme der Fahrtkosten zwischen Wohn- und Arbeitsort kompensiert, von der Rechtsprechung des BSG abgewichen. Indem es die Berufung insoweit nach § 153 Abs 2 SGG aus den Gründen des erstinstanzlichen Urteils zurückgewiesen habe, weiche auch das LSG von der höchstrichterlichen Rechtsprechung ab. Zur weiteren Begründung verweist der Kläger auf das Urteil des 13. Senats vom 12.12.2011 (B 13 R 79/11 R - BSGE 110, 1 = SozR 4-2600 § 43 Nr 17) und entnimmt ihm den Rechtssatz, "dass eine rentenrechtliche Wegeunfähigkeit durch geeignete Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben wieder behoben werden kann und dass eine Behebung der Wegeunfähigkeit nicht erst eine erfolgreiche Durchführung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben voraussetzt, sondern dass es ausreicht, wenn durch behördliche Verwaltungsakte hinreichend klar bestimmt wurde, mit welchen konkreten finanziellen Mobilitätshilfen gerechnet werden kann".
Dem stellt der Kläger jedoch keinen davon abweichenden abstrakten Rechtssatz des LSG gegenüber. Er macht zunächst eine Abweichung dadurch geltend, dass die Beklagte hier, anders als in dem vom BSG entschiedenen Fall, keinen Verwaltungsakt erlassen habe. Abgesehen davon, dass er damit lediglich einen Unterschied im Sachverhalt geltend macht, steht dies bereits in Widerspruch zu der von ihm selbst - wenngleich an einigen Stellen der Argumentation lediglich unterstellten - Bewertung der Erklärung der Beklagten als Zusicherung, die nach stRspr stets die Rechtsqualität eines Verwaltungsaktes hat und einen Rechtsanspruch begründet (vgl BSG Urteil vom 12.12.2011 - B 13 R 79/11 R - BSGE 110, 1 = SozR 4-2600 § 43 Nr 17, RdNr 31 mwN; zur Einhaltung der Schriftform bei gerichtlicher Protokollierung vgl BSG Urteil vom 26.5.2021 - B 6 KA 7/20 R - SozR 4-1300 § 56 Nr 2 RdNr 23 ff; BVerwG Beschluss vom 26.5.2003 - 8 B 73.03 - juris RdNr 5). In dem vom BSG am 12.12.2011 entschiedenen Fall erteilte die Behörde ua die Zusage, die tatsächlich entstehenden Beförderungskosten im Falle der Arbeitsaufnahme zur Erhaltung des Arbeitsplatzes zu übernehmen (aaO RdNr 3). Das BSG hat dies als verbindliche Zusage hinsichtlich der Behandlung eines in der Zukunft liegenden, konkreten Sachverhalts gewertet, die das Mobilitätsdefizit der dortigen Klägerin beseitigte (aaO RdNr 28 ff). Inwiefern vor diesem Hintergrund das Berufungsgericht hier von der Rechtsprechung des BSG abgewichen sein soll, zeigt die Beschwerdebegründung nicht auf. Soweit der Kläger meint, eine Zusicherung könne einer bestandskräftigen Bewilligung von Teilhabeleistungen nicht gleichgestellt werden, ergibt sich daraus kein Anhalt dafür, dass das LSG über den Einzelfall hinausgehende andere rechtliche Maßstäbe als das BSG entwickelt hat (vgl dazu zB BSG Beschluss vom 19.8.2020 - B 3 KR 5/20 B - juris RdNr 8).
2. Der Kläger hat auch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache nicht hinreichend vorgetragen. Eine Rechtssache hat nur dann iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage zu revisiblem Recht (§ 162 SGG) aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung muss der Beschwerdeführer daher eine Rechtsfrage benennen und zudem deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 4 mwN; BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 RS 10/21 B - juris RdNr 5).
Der Kläger stellt als Frage von grundsätzlicher Bedeutung,
"ob die einen Rentenanspruch begründende Wegeunfähigkeit bereits dadurch wieder beseitigt werden kann, dass der zuständige Leistungsträger den Erlass eines Bescheids über die Gewährung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, welche die Wegefähigkeit wiederherstellen sollen, lediglich zusichert bzw. sogar nur ankündigt".
Der Kläger zeigt jedoch einen (abstrakten) Klärungsbedarf der von ihm aufgeworfenen Frage nicht hinreichend auf. Eine Rechtsfrage ist nicht klärungsbedürftig, wenn die Antwort praktisch außer Zweifel steht, sich zB unmittelbar aus dem Gesetz ergibt oder bereits höchstrichterlich geklärt ist. In der Beschwerdebegründung muss deshalb unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG zu dem Problemkreis substantiiert vorgebracht werden, dass zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung gefällt oder durch die schon vorliegenden Urteile und Beschlüsse die hier maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet worden ist (vgl ua Senatsbeschluss vom 6.4.2021 - B 5 RE 16/20 B - juris RdNr 6 mwN).
Zur weiteren Begründung führt der Kläger aus, das BSG habe bislang nur allgemein entschieden, dass es Ausnahmen dazu gebe, dass die Wegefähigkeit grundsätzlich erst durch erfolgreiche Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben wiederhergestellt werden könne. Unter welchen Voraussetzungen solche Ausnahmen letztlich angenommen werden könnten, sei offen geblieben. Der Kläger verweist in seiner Beschwerdebegründung zunächst auf die Entscheidung des BSG vom 21.3.2006 (B 5 RJ 51/04 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 8), ohne sich jedoch mit deren Gründen eingehend zu befassen.
Soweit der Kläger meint, das Urteil vom 12.12.2011 (B 13 R 79/11 R - BSGE 110, 1 = SozR 4-2600 § 43 Nr 17) habe nicht weiter geklärt, ob eine bloße Ankündigung, Leistungen zu erbringen, oder eine Zusicherung ausreiche, um eine Wegeunfähigkeit zu beheben, wären angesichts der dort entschiedenen Fallkonstellation ebenfalls weitere Ausführungen erforderlich gewesen. Unter welchem Gesichtspunkt die Rechtsprechung des BSG die aufgeworfene Rechtsfrage offenlässt (Klärungsbedürftigkeit) und eine Revision hier eine Klärung erwarten lassen würde (Klärungsfähigkeit), legt die Beschwerdebegründung nicht nachvollziehbar dar.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI15554517 |