Leitsatz (amtlich)
1. Im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist eine Zustellung im Parteibetrieb (von Anwalt zu Anwalt) ohne Bedeutung. Die Rechtsmittelbelehrung braucht nicht darauf hinzuweisen, daß gemäß SGG § 63 Abs 2 von Amts wegen zugestellt wird.
2. Zur Pflicht des Prozeßbevollmächtigten sein Büropersonal zu belehren und zu überwachen.
Normenkette
SGG § 63 Abs. 2 Fassung: 1953-09-03, § 66 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03, § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 198
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 30. Oktober 1956 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger betreibt gemäß § 902 der Reichsversicherungsordnung das Entschädigungsverfahren für den Beigeladenen Walter H... der am 6. Juli 1953 auf dem Betriebsgelände des Klägers einen Unfall erlitten hatte. Die Beklagte hat den Entschädigungsanspruch durch Bescheid vom 18. Oktober 1954 abgelehnt. Die Klage hiergegen hat das Sozialgericht (SG.) durch Urteil vom 1. Juni 1956 abgewiesen. Eine Ausfertigung dieser Entscheidung ist an den Prozeßbevollmächtigten des Klägers, Rechtsanwalt C... am 11. Juni 1956 durch Einschreibebrief zur Post gegeben worden. Gegen dieses Urteil hat der Kläger durch seinen Prozeßbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 16. Juli 1956 Berufung eingelegt. Die Berufungsschrift ist beim Landessozialgericht (LSG.) am 17. Juli 1956 eingegangen. Laut schriftlicher Auskunft des Postamtes München vom 10. Oktober 1956 ist die Einschreibesendung mit der Urteilsausfertigung der Büroangestellten W. als der Bevollmächtigten des Rechtsanwalts C... am 12. Juni 1956 ausgehändigt worden. Hiervon hat das LSG. Rechtsanwalt C... durch Schreiben vom 11. Oktober 1956 unterrichtet und ihm unter Hinweis auf § 158 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gelegenheit zur Gegenäußerung gegeben. Daraufhin ist mit Schriftsatz vom 12. Oktober 1956, am folgenden Tage beim LSG. eingegangen, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist beantragt worden. Dieser Schriftsatz trägt als Briefkopf den Namen des Rechtsanwalt C... ist aber mit "i.V. Dr. Dr. B... (Referendar)" unterzeichnet. Zur Begründung des Antrags ist ausgeführt. Nachdem das Urteil des SG. vom 1. Juni 1956 der Sekretärin des Rechtsanwalts C... durch den Postboten am 12. Juni 1956 ausgehändigt worden war, habe der Prozeßbevollmächtigte des Beigeladenen H... Rechtsanwalt R... das Urteil ebenfalls dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers von Anwalt zu Anwalt zugestellt. Die Sekretärin, die in der Erledigung von Terminsangelegenheiten zuverlässig sei, habe angenommen, daß die Berufungsfrist erst mit der Zustellung des Urteils durch den Anwalt in Lauf gesetzt worden sei. Die Berufungsfrist sei daher nicht schuldhaft versäumt.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 30. Oktober 1956 hat ausweislich des Sitzungsprotokolls Referendar Dr. Dr. B... als Unterbevollmächtigter des ordnungsmäßig geladenen Rechtsanwalts C... unter Vortrag des Schriftsatzes vom 12. Oktober 1956 die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Das LSG. hat in diesem Termin auf den entsprechenden Gegenantrag der Beklagten durch Urteil die Berufung unter Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als unzulässig verworfen; die Revision hat es nicht zugelassen.
Gegen dieses am 29. Januar 1957 zugestellte Urteil hat der Kläger bereits am 19. November 1956 Revision eingelegt und sie gleichzeitig begründet. Sie ist darauf gestützt, daß das LSG. gegen das Verfahrensrecht verstoßen habe, indem es, statt über das Rechtsmittel durch Sachurteil zu entscheiden, die Berufung als verspätet verworfen habe. Als verletzt bezeichnet die Revision §§ 63 Abs. 2; 66; 67 Abs. 1 und 158 Abs. 2 SGG.
II
Die ausschließlich auf § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG gestützte Revision ist nicht statthaft. Sie wäre es nur, wenn einer der von ihr gerügten Verfahrensmängel vorläge (BSG. 1 S. 150). Das ist jedoch nicht der Fall; denn das LSG. hat mit Recht angenommen, daß die Berufung verspätet eingelegt ist und die Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 SGG für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht gegeben sind.
Der Kläger ist der Auffassung, die in dem Urteil des SG. enthaltene Rechtsmittelbelehrung sei unrichtig, weil sie nichts über Art und Weise der Urteilszustellung zum Ausdruck bringe, nämlich darüber, ob die Zustellung von Amts wegen oder auf Betreibung der Parteien zu geschehen habe. Diese Auffassung trifft nicht zu.
§ 66 Abs. 1 SGG bestimmt, daß die Frist für ein Rechtsmittel oder einen anderen Rechtsbehelf nur dann zu laufen beginnt, wenn der Beteiligte über den Rechtsbehelf, die Verwaltungsstelle oder das Gericht, bei denen der Rechtsbehelf anzubringen ist, den Sitz und die einzuhaltende Frist schriftlich belehrt worden ist. Die Rechtsmittelbelehrung dient vor allem dem Zweck, rechtsunkundige Beteiligte darüber zu unterrichten, auf welchem Wege sie die ergangene Entscheidung in der gesetzlich vorgeschriebenen Form anfechten können. Deshalb muß sie einfach und klar sein; sie muß aber auch alles enthalten, was der Rechtsmittelkläger an wesentlichen Einzelheiten des in Betracht kommenden Rechtsbehelfs wissen muß, ohne sich die Kenntnisse hierfür erst durch außerhalb des Verfahrens liegende, möglicherweise umständliche Erkundigungen beschaffen zu müssen (BSG. 1 S. 194, 227, 254; ferner Haueisen in "Wege zur Sozialversicherung" 1954 S. 373). Diese Erfordernisse erfüllt die Rechtsmittelbelehrung in dem angefochtenen Urteil des SG. Sie ist weder unrichtig noch unvollständig erteilt, wenn sie über die Art und Weise der Zustellung des Urteils nichts enthält. Würde sich der Kläger persönlich nach ihr zu richten gehabt haben, hätte ihm bei der bestehenden Fassung nicht zweifelhaft sein können, daß die Berufungsfrist für ihn durch die erste Zustellung der Urteilsausfertigung in Lauf gesetzt wurde. Es kann deshalb nicht beanstandet werden, wenn das Gericht über die Art der Zustellung keinen Hinweis erteilt hat. Eine andere Beurteilung rechtfertigen auch die Ausführungen in der Revisionsbegründung nicht. Aus dem Umstand, daß die Sekretärin des Rechtsanwalts C... durch die nachträgliche Zustellung der Urteilsausfertigung von Anwalt zu Anwalt (§ 198 der Zivilprozeßordnung - ZPO -) "verwirrt" worden sei und die zweite Zustellung für wesentlich gehalten habe, ergibt sich nicht die Mangelhaftigkeit der Rechtsmittelbelehrung. Diese war jedenfalls klar genug, um jeden Rechtsunkundigen erkennen zu lassen, daß mit der von Amts wegen erfolgten Zustellung die Rechtsmittelfrist in Lauf gesetzt wurde. Eines besonderen erläuternden Hinweises auf die Vorschrift des § 63 Abs. 2 SGG bedurfte es nicht.
Hiernach ist durch die Zustellung des Urteils mittels eingeschriebenen Briefes die Berufungsfrist von einem Monat am 14. Juni 1956 in Lauf gesetzt worden (§ 4 Abs. 1 des Verwaltungszustellungsgesetzes vom 3. Juli 1952; BGBl. I S. 379). Da innerhalb dieser Frist kein Rechtsmittel eingelegt wurde, ist das Urteil des SG., wie das LSG. zutreffend festgestellt hat, am 14. Juli 1956 formell rechtskräftig geworden.
Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist dem Kläger mit Recht versagt worden, weil die Versäumung der Berufungsfrist auf einem Verschulden beruht. Den Kläger trifft zwar eigenes Verschulden nicht; er muß jedoch, wie das Bundessozialgericht wiederholt entschieden hat, ein Verschulden seines Prozeßbevollmächtigten gegen sich gelten lassen (BSG. in SozR. SGG § 67 Da 1 Nr. 2). Zwar braucht der Prozeßbevollmächtigte für ein Versehen seines Büropersonals bei der Fristwahrung nicht einzustehen, wenn er durch Einrichtung seines Büros und durch Auswahl, Belehrung und Überwachung seiner Bürokräfte das Möglichste getan hat, um ein solches Versehen auszuschließen (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I, S. 238 mit Nachweisen). Hieran fehlt es aber im vorliegenden Streitfalle. Nach der eigenen Darstellung des Prozeßbevollmächtigten des Klägers hatte seine Sekretärin auf seine Veranlassung zunächst ordnungsmäßig den Termin für den Ablauf der Berufungsfrist notiert. Dann hat sie diesen Termin eigenmächtig geändert, weil inzwischen die zusätzliche Zustellung einer Urteilsausfertigung durch den Gegenanwalt erfolgte. Es mag sein, daß die anderweite Form der Zustellung, die der Sekretärin W... durch zivilprozessuale Geflogenheit offenbar geläufig war, sie in den Irrtum versetzte, daß diese Zustellung für den Lauf der Berufungsfrist maßgebend sei. Dabei hat sie offensichtlich nicht aus Nachlässigkeit, wohl aber aus Unkenntnis über die in Betracht kommenden gesetzlichen Vorschriften gehandelt. Sicherlich kann nicht verlangt werden, daß der Rechtsanwalt sein mit der Erledigung von Fristsachen befaßtes Büropersonal mit entlegenen, besonderen Verfahrensvorschriften vertraut macht; doch ist es mit den an die Sorgfaltspflicht des mit der Prozeßführung betrauten Rechtsanwalts zu stellenden Anforderungen jedenfalls vereinbar, daß er die eigene Bearbeitung derartiger Verfahrenssachen durch allgemeine Weisung an sein Büropersonal sicherstellt. Hätte dies der Prozeßbevollmächtigte des Klägers getan, würde es zu der bewußten und gewollten Änderung der Terminnotiz über den Ablauf der Berufungsfrist durch die Sekretärin W. nicht gekommen sein. Es ist nicht erforderlich, daß notierte Fristen ständig überwacht werden; wohl aber kommt es auf die Notwendigkeit an, das Büropersonal so zu unterweisen, daß es mindestens die Grenzen eigenen Handlungsvermögens erkennt.
Wie seinem eigenen Vorbringen zu entnehmen ist, hat Rechtsanwalt C... seine Sekretärin W... jedenfalls nicht darüber belehrt, daß nach § 63 Abs. 2 SGG im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nur von Amts wegen zugestellt wird, die Zustellung von Anwalt zu Anwalt (§ 198 ZPO) dagegen in diesem Verfahren nicht vorgesehen ist und daß daher diese Art der Zustellung keinen Einfluß auf den Lauf der Rechtsmittelfrist haben kann. Wenn der Prozeßbevollmächtigte des Klägers diese Belehrung unterlassen hat, so hat er nicht sein Möglichstes getan, um ein Versehen seines Büropersonals bei der Fristwahrung auszuschließen. Hierauf beruht die Versäumnis der Berufungsfrist. Die Versagung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mußte daher die Verwerfung der Berufung gegen das Urteil des SG. vom 1. Juni 1956 zur Folge haben.
Schließlich meint der Kläger, ein Verfahrensverstoß bestehe darin, daß das LSG. seinem Prozeßbevollmächtigten nicht persönlich Gelegenheit gegeben habe, sich gemäß § 158 Abs. 2 SGG auf das Schreiben des LSG. vom 11. Oktober 1956 vor der Entscheidung über die Berufung zu äußern. Diese Ansicht trifft nicht zu; denn der Zweck des erwähnten Schreibens war ja gerade, dem Prozeßbevollmächtigten des Klägers Gelegenheit zu geben, sich zu der Prozeßlage vor der abschließenden Entscheidung persönlich zu erklären. Damit war auch der Vorschrift des § 62 SGG über die Pflicht des Gerichts, den Beteiligten vor jeder Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren, genügt. Wenn der Prozeßbevollmächtigte des Klägers diese Gelegenheit nicht wahrgenommen hat und sich auch in dem Termin zur mündlichen Verhandlung über die Berufung, zu dem er ordnungsmäßig geladen war, durch den von ihm bevollmächtigten Referendar Dr. Dr. B... hat vertreten lassen, kann er sich schlechterdings nicht mit Erfolg auf einen Verstoß des Gerichts gegen das Verfahrensrecht berufen.
Da hiernach keine der vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen durchgreift, auch sonstige Verfahrensmängel nicht ersichtlich sind, war die Revision gemäß § 169 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen