Leitsatz (amtlich)
Eine Rechtsmittelbelehrung ist nicht deshalb unrichtig, weil sie eine im Gesetz nicht zwingend vorgesehene, erschwerende Formvorschrift enthält, zB wenn gefordert wird, daß die Berufung in zweifacher Ausfertigung einzulegen ist(Vergleiche BVerwG 1957-12-18 IV C 67.57 = BVerwG 6, 66 i 1958-05-02 I C 115/56 = NJW 1958, 1554). 2. Zum Begriff des Zustellungsbevollmächtigten.
Normenkette
VwZG § 8; SGG § 151 Fassung: 1953-09-03, § 153 Fassung: 1953-09-03, § 66 Fassung: 1953-09-03, § 93 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 25. Oktober 1956 wird aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Juli 1954 wird als unzulässig verworfen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Kläger war für die Folgen eines im Jahre 1949 erlittenen Arbeitsunfalls von der Versicherungsanstalt Berlin entschädigt worden; zuletzt hatte er eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 20 v.H. erhalten. Diese Rente entzog ihm die auf Grund des Gesetzes über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung und zur Überleitung des Unfallversicherungsrechtes im Lande Berlin vom 29. April 1952 zuständig gewordene Beklagte durch Bescheid vom 26. März 1953. Die hiergegen gerichtete Klage hatte Erfolg. Das Sozialgericht (SG.) Berlin hob durch Urteil vom 15. Juli 1954 den Entziehungsbescheid der Beklagten auf und erklärte sie für verpflichtet, dem Kläger weiterhin eine Dauerrente von 20 v.H. zu gewähren.
Dieses Urteil ist der Beklagten durch das SG. gemäß § 5 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) vom 3. Juli 1952 (BGBl. I S. 379) gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden. Nach der an das SG. zurückgesandten Empfangsbescheinigung hat die Berufsgenossenschaft (BG.) der chemischen Industrie, Berlin-Wilmersdorf, am 24. Juli 1954 bestätigt, das Urteil des SG. vom 15. Juli 1954 mit ihren Akten erhalten zu haben. Diese Bescheinigung ist mit dem Namen "B... handschriftlich unterzeichnet.
Die Beklagte hat gegen das Urteil des SG. mit einem beim Landessozialgericht (LSG.) am 25. August 1954 eingegangenen Schreiben Berufung eingelegt und geltend gemacht, daß das Urteil am 26. Juli 1954 bei ihr eingegangen sei. Daraufhin hat das LSG. durch Vorbescheid vom 23. September 1954 die Berufung als unzulässig verworfen, da sie erst nach Ablauf der Berufungsfrist eingelegt worden sei. Die Beklagte hat dieser Annahme des LSG. mit ihrem Antrag auf mündliche Verhandlung widersprochen. Sie meint, das Urteil des LSG. sei ihr nicht ordnungsmäßig zugestellt worden, und hat dazu vorgetragen: Die Zustellung hätte nach den Vorschriften der §§ 7 Abs. 2 und 11 Abs. 4 VwZG an den Geschäftsführer der Bezirksverwaltung Berlin der BG. der chemischen Industrie oder im Falle seiner Abwesenheit an einen anderen, in den Geschäftsräumen anwesenden Bediensteten der BG. erfolgen müssen. Das Empfangsbekenntnis sei aber weder von einem solchen Bediensteten noch von einer zur Entgegennehme von Zustellungen bevollmächtigten Person unterzeichnet worden. Herr B... sei lediglich Angestellter der mit den Berliner berufsgenossenschaftlichen Verwaltungen in einem Hause untergebrachten Überleitungsstelle des Landesverbandes Berlin der gewerblichen Berufsgenossenschaften gewesen. In der Niederschrift über die Berufungsverhandlung vor dem LSG. vom 25. Oktober 1956 ist als Feststellung vermerkt, daß das Urteil des SG. am 24. Juli 1954 zugestellt worden sei und daß die Berufung beim LSG. am 25. August 1954 eingegangen sei. Das LSG. hat durch Urteil vom 25. Oktober 1956 auf die Berufung der Beklagten deren Bescheid vom 26. März 1953 unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils wiederhergestellt. In den Urteilsgründen hat es festgestellt, daß die Beklagte gegen das ihr am 26. Juli 1954 zugestellte Urteil am 25. August 1954 frist- und formgerecht Berufung eingelegt habe. Es hat daher die an sich statthafte Berufung für zulässig gehalten und in der Sache entschieden.
Das Urteil ist dem Kläger am 14. November 1956 zugestellt worden. Er hat dagegen am 10. Dezember 1956 Revision eingelegt und diese am 7. Januar 1957 wie folgt begründet: Das LSG. habe verkannt, daß die Berufung der Beklagten verspätet eingelegt worden sei; es habe daher zu Unrecht eine Sachentscheidung getroffen, anstatt durch Prozeßurteil die Berufung als unzulässig zu verwerfen. Die nach § 5 Abs. 2 VwZG bewirkte Zustellung des erstinstanzlichen Urteils sei entgegen der Auffassung der Beklagten rechtswirksam. Es sei unerheblich, ob die Empfangsbescheinigung von einem Bediensteten der Zustellungsadressatin unterzeichnet worden sei; denn eine Ersatzzustellung im Sinne des § 11 Abs. 4 VwZG sei bei dem vereinfachten Zustellungsverfahren nach § 5 VwZG nicht anwendbar. Daß der Geschäftsführer der Beklagten erst am 26. Juli 1954 die Urteilsausfertigung in die Hand bekommen habe, sei für die Wirksamkeit der Zustellung des Urteils unbeachtlich, da ein Formmangel in der Zustellung nach § 9 Abs. 2 VwZG nicht durch den tatsächlichen Zugang des Schriftstücks an den Empfangsberechtigten geheilt werden könne, wenn mit der Zustellung eine Rechtsmittelfrist beginnt.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. Berlin vom 15. Juli 1954 zu verwerfen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
sie zurückzuweisen.
Die Beklagte vertritt die Auffassung, eine ordnungsmäßige Zustellung des erstinstanzlichen Urteils an sie sei überhaupt nicht erfolgt, so daß das LSG. auf ihre am 25. August 1954 eingelegte Berufung in der Sache habe entscheiden dürfen. Dazu führt sie im wesentlichen aus: Die mit dem Namen "B... am 24. Juli 1954 unterzeichnete Empfangsbescheinigung stelle keinen rechtswirksamen Zustellungsnachweis dar; denn er ehemalige Verwaltungsdirektor B... sei weder ihr Bediensteter, noch habe sie ihn zur Empfangnahme von Zustellungen bevollmächtigt. Dir. i.R. B... könne jedenfalls nicht als Empfangsberechtigter im Sinne des § 5 VwZG angesehen werden. Er sei damals lediglich Leiter einer beim Landesverband der gewerblichen BG. 'en aus Anlaß der Überleitung des Unfallversicherungsrechtes im Lande Berlin eingerichteten Dienststelle gewesen. Diese Überleitungsstelle habe gleichzeitig die Aufgabe einer Postleitstelle für die in Berlin wieder zugelassenen BG. 'en erfüllt. Auch das SG. und das LSG. hätten sich dieser Einrichtung als Sammeladresse für ihre Postsendungen an die BG. 'en bedient. Entsprechend einer bis zur Auflösung der Überleitungsstelle im Jahre 1955 bestehenden Übung habe Dir. i.R. B... jeweils den Empfang der Postsachen beim Landesverband Berlin der gewerblichen BG. 'en bescheinigt. Über die tatsächlichen Vorgänge bei dem Zustellungsbetrieb mit der Postleitstelle sei das SG. unterrichtet gewesen. Die Beklagte bezieht sich für die Richtigkeit dieser Darstellung auf das Ergebnis einer Besprechung zwischen dem Dir. i.R. B... und dem Geschäftsführer des Landesverbandes Berlin der gewerblichen BG. 'en, Dr. Z... welches in einem von der Beklagten zu den Akten gereichten Vermerk vom 24. März 1958 schriftlich niedergelegt ist. Der Kläger sieht in dem von der Beklagten geschilderten Zustellungsvorgang seine Auffassung bestätigt, daß an Dir. i.R. B... wirksam zugestellt worden sei.
II
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auch statthaft und damit zulässig.
Mit dem Vorbringen, das LSG. habe eine Sachentscheidung getroffen, obwohl es die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG. als unzulässig hätte verwerfen müssen, hat der Kläger einen wesentlichen Mangel des Berufungsverfahrens schlüssig gerügt (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band I, S. 250 v; BSG. 1 S. 283; SozR. SGG § 162 Bl. Da 3 Nr. 21 und Bl. Da 7 Nr. 32). Der geltend gemachte Verfahrensmangel liegt auch vor (BSG. 1 S. 150). Die Beklagte hat die Berufung gegen das Urteil des SG. verspätet eingelegt. Ihre Auffassung, die Berufungsfrist sei mangels Zustellung des erstinstanzlichen Urteils nicht in Lauf gesetzt worden, geht fehl. Das SG. hat die Zustellung seines Urteils in der vereinfachten Weise des § 5 Abs. 2 VwZG bewirkt. Die Erleichterung der Zustellung im Sinne dieser Vorschrift besteht darin, daß das Schriftstück dem Empfänger nicht durch einen Bediensteten besonders übergeben zu werden braucht, sondern durch einen bloßen Boten übermittelt werden kann, und daß für den Zustellungsnachweis ein mit Datum und Unterschrift des Empfängers versehenes Empfangsbekenntnis genügt, welches an die Behörde auf beliebigem Wege zurückzusenden ist. Das Empfangsbekenntnis braucht bei Behörden nicht durch ihren Vorsteher und bei Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts nicht durch eine vertretungsberechtigte Person unterschrieben zu sein; es genügt die Zeichnung durch jede nach den Dienstvorschriften dazu berechtigte Person (v. Rosen-v. Hoewel, Kommentar zum Verwaltungszustellungsgesetz, Erläuterungen II zu § 5). Im vorliegenden Fall brauchte nicht entschieden zu werden, ob Dir. i.R. B... zu den Personen gehörte, welche nach den Dienstvorschriften der Beklagten zeichnungsberechtigt sind; denn nach dem auf Grund des Vorbringens der Beteiligten im Revisionsverfahren ermittelten Sachverhalt war er jedenfalls als Zustellungsbevollmächtigter der Beklagten im Sinne des § 8 VwZG zur Empfangnahme der Urteilsausfertigung berechtigt. In seiner Eigenschaft als Zustellungsbevollmächtigter hat er das Empfangsbekenntnis am 24. Juli 1954 mit bindender Wirkung für die Beklagte unterzeichnet. Aus dem vom Kläger unwidersprochen gebliebenen, auf das Besprechungsergebnis zwischen Dir. i.R. B... und Geschäftsführer Dr. Z... gestützten Sachvortrag der Beklagten ergibt sich, daß mit der beim Landesverband Berlin der gewerblichen BG. 'en eingerichteten Überleitungsstelle der besondere Zweck verbunden war, den Zustellungsverkehr für die dem Verband angeschlossenen Dienststellen zu vereinfachen, und daß diesem Zweck die Ausstellung des Empfangsbekenntnisses durch den Leiter der Überleitungsstelle diente. Mit dieser seit 1952 bestehenden Übung im Zustellungsverkehr zwischen den Behörden und den berufsgenossenschaftlichen Verwaltungen in Berlin war das SG. nicht nur einverstanden, sondern hatte sie selbst gewünscht. Daraus folgt, daß die Einschaltung des Dir. i.R. B... einer Verwaltungsübung seitens der beteiligten BG. 'en, also auch der Beklagten, entsprach. Der Umstand, daß diese Zustellungspraxis jahrelang aufrechterhalten blieb, rechtfertigt die Annahme, daß Dir. i.R. B... als Vertreter der BG. 'en hinsichtlich der die Zustellung von Schriftstücken an die BG. 'en betreffenden Angelegenheiten handelte und insoweit die Geschäfte eines Zustellungsbevollmächtigten nach § 8 VwZG wahrnahm. Die Mitwirkung des Dir. i.R. B... bei der Zustellung von Schriftstücken an die der "Postleitstelle" beim Landesverband Berlin der gewerblichen BG. 'en angeschlossenen Dienststellen beruhte zwar offensichtlich auf einer lediglich stillschweigend gebilligten Übung. Dieser Umstand steht jedoch nicht der Annahme entgegen, daß er als Zustellungsbevollmächtigter tätig wurde, wenn er die Schriftstücke in Empfang nahm und dies in der nach § 5 Abs. 2 VwZG vorgesehenen Weise bestätigte. Einer besonderen, etwa schriftlichen Vollmacht bedurfte es hierbei nicht (Stein-Jonas-Schönke-Pohle, Kommentar zur Zivilprozeßordnung (ZPO), 18. Aufl., Anm. I 2 zu § 175; Wieczorek, Kommentar zur ZPO, Band I Teil 2, S. 1124 Anm. C III zu § 174). Die Zustellung des erstinstanzlichen Urteils war sonach an die Beklagte am 24. Juli 1954, dem Tage der Übergabe der Urteilsausfertigung an den zur Unterzeichnung des Empfangsbekenntnisses befugten Dir. i.R. B... wirksam erfolgt. Für die Einlegung der Berufung lief die Frist von einem Monat; denn die in dem Urteil des SG. enthaltene Rechtsmittelbelehrung ist nicht zu beanstanden. Das Erfordernis der Schriftform (§ 151 Abs. 1 SGG) ist durch die in der Belehrung gewählte Bezeichnung "Ausfertigung" hinlänglich zum Ausdruck gebracht worden. Der Hinweis, die Berufung sei in zweifacher Ausfertigung einzulegen, gibt zu Bedenken gegen die Richtigkeit der Rechtsmittelbelehrung keinen Anlaß. Wie das Bundesverwaltungsgericht in seinen Entscheidungen vom 18. Dezember 1957 (BverwG. Bd. 6 S. 66 = DVBl. 1958 S. 176) und 2. Mai 1958 (NJW. 1958 S. 1554) ausgeführt hat, wird eine Rechtsmittelbelehrung nicht dadurch fehlerhaft, daß sie im Gesetz nicht zwingend vorgesehene, erschwerende Formvorschriften enthält. Der beschließende Senat hatte keine Bedenken, diese Rechtsprechung auch im Verfahren nach dem SGG anzuwenden, da § 93 dieses Gesetzes, welcher die Beifügung von Abschriften im Klageverfahren vorsieht, über § 153 SGG auch im Berufungsverfahren entsprechend gilt. Die Frist zur Einlegung der Berufung endete demzufolge am 24. August 1954. Die Berufungsschrift war daher am 25. August 1954 beim LSG. nach Fristablauf eingegangen. Das Berufungsgericht hätte somit nicht in eine Sachprüfung eintreten dürfen. Das Urteilsverfahren leidet daher an einem wesentlichen Mangel, da in ihm ein Sachurteil anstelle eines nach § 158 Abs. 1 SGG erforderlichen Prozeßurteils erlassen ist.
Wegen dieses somit vorliegenden gerügten Verfahrensmangels ist die Revision statthaft.
Die Revision ist auch begründet, da das angefochtene Urteil auf dem Verfahrensmangel beruht; das Urteil wäre bei Vermeidung dieses Mangels anders ausgefallen. Es mußte daher aufgehoben werden. Das Bundessozialgericht, das anläßlich der Prüfung der Zulässigkeit der Berufung neues tatsächliches Vorbringen der Beteiligten berücksichtigen durfte (Brackmann a.a.O. S. 254 b), kann den Rechtsstreit abschließend entscheiden (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG). Da die Berufung nach Ablauf der Rechtsmittelfrist eingelegt worden war und Gründe, die eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist rechtfertigen könnten, weder vorgebracht noch aus den Akten ersichtlich sind, war die Berufung als unzulässig zu verwerfen.
Die Entscheidung ergeht in Anwendung des § 216 Abs. 1 Nr. 4 b SGG in der Fassung vom 23. August 1958 (BGBl. I S. 614) durch einstimmigen Beschluß ohne Zuziehung der Bundessozialrichter. Die Voraussetzungen hierfür sind gegeben; denn die Verletzung der §§ 5 Abs. 2 und 8 Abs. 1 VwZG ist eindeutig festgestellt und damit die Rechtslage in verfahrensrechtlicher Hinsicht zweifelsfrei geklärt. Die Beteiligten sind am 27. August 1958 unter Einräumung einer Äußerungsfrist von einem Monat von der Absicht des Senats, nach § 216 Abs. 1 Nr. 4 b SGG. zu verfahren, in Kenntnis gesetzt worden. Sie haben von der Gelegenheit, sich zu äußern, Gebrauch gemacht.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
NJW 1958, 2039 |
MDR 1958, 954 |