Leitsatz (amtlich)
Aus SGG § 67 Abs 1 folgt, daß im sozialgerichtlichen Verfahren bei Fristversäumnis das Verschulden eines Vertreters eigenem Verschulden des Klägers gleich zu achten ist.
Normenkette
SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
1. Dem Kläger wird für das Verfahren vor dem Bundessozialgericht das Armenrecht verweigert.
2. Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 23. Mai 1956 wird als unzulässig verworfen.
3. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger begehrt Waisenrente. Seinen Antrag hat das Versorgungsamt (VersorgA.) abgelehnt. Das Sozialgericht (SG.) Landshut hat die Klage gegen den ablehnenden Bescheid des VersorgA. durch Urteil vom 21. Oktober 1954 abgewiesen. Nach der bei den Akten des SG. befindlichen Postzustellungsurkunde ist dieses Urteil dem Vormund des Klägers am 19. November 1954 zugestellt worden. Die Rechtsmittelbelehrung in diesem Urteil über die Frist und Form der Berufungseinlegung lautete: "Rechtsmittel gegen Urteile des Sozialgerichts sind die Berufung und die Sprungrevision. In beiden Fällen beträgt die Rechtsmittelfrist einen Monat ab Zustellung des Urteils. Die Berufung ist beim Landessozialgericht München, Odeonsplatz 1, schriftlich einzulegen. Sie kann aber auch zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des Landessozialgerichts München oder des Sozialgerichts Landshut erklärt werden ...".
Mit Schreiben vom 12. Dezember 1954, gerichtet an das VersorgA. L, hat der Vormund des Klägers gegen das Urteil des SG. Berufung eingelegt. Das VersorgA. hat das Schreiben an das SG. Landshut abgegeben, wo es am 16. Dezember 1954 einging. Das SG. hat das Schreiben mit Anschreiben vom 20. Dezember 1954 an das Landessozialgericht (LSG.) München weitergeleitet, wo es am 23. Dezember 1954 vorlag. Mit Urteil vom 23. Mai 1956 hat das LSG. die Berufung als unzulässig verworfen, weil sie entgegen § 151 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bis zum Ablauf der Berufungsfrist von einem Monat weder beim LSG. schriftlich noch zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des LSG. oder SG. eingelegt worden ist.
Der Kläger hat mit einem beim Bundessozialgericht (BSG.) am 20. Juli 1956 eingegangenen Schriftsatz durch einen bei diesem Gericht zugelassenen Prozeßbevollmächtigten gegen das seinem Vormund am 25. Juni 1956 zugestellte Urteil des Bayerischen LSG. vom 23. Mai 1956 Revision eingelegt, diese gleichzeitig begründet und für die Durchführung des Revisionsverfahrens beantragt, ihm das Armenrecht zu bewilligen.
Nach § 167 SGG in Verbindung mit § 114 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung (ZPO) ist einem armen Beteiligten auf Antrag das Armenrecht nur dann zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Dem Kläger mußte das Armenrecht verweigert werden, weil seine Revision unzulässig ist und daher keine Aussicht auf Erfolg hat.
Das LSG. hat die Revision nicht zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch nicht nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 SGG statthaft.
Eine Rüge aus § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG hat der Kläger nicht erhoben und konnte sie auch nicht erheben, weil das angefochtene Urteil über die Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gar nicht entschieden hat. Der Kläger rügt nur Verfahrensmängel. Dabei ist unschädlich, daß er die verletzte Rechtsnorm nicht ausdrücklich bezeichnet. Dem § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG ist genügt, wenn sich aus den substantiiert vorgetragenen Tatsachen ergibt, welche Prozeßvorschrift als verletzt angesehen wird (BSG. 1 S. 227). Aus dem Vorbringen der Revision, das LSG. habe die Berufung zu Unrecht als verspätet angesehen, folgt, daß der Kläger die Verfahrensrüge erhebt, das LSG. habe eine Sachentscheidung treffen müssen und kein Prozeßurteil erlassen dürfen (BSG. 1 S. 283, 231). Diese Rüge greift nicht durch. Das an das VersorgA. Landshut gerichtete Schreiben des Vormundes des Klägers vom 12. Dezember 1954 stellt keine rechtzeitige Berufung dar. Die Berufungsfrist ist, wie das BSG. bereits entschieden hat (SozR. SGG § 151 Bl. Da 2 Nr. 3) bei einer schriftlich eingelegten Berufung nur dann gewahrt, wenn die Berufungsschrift innerhalb der Berufungsfrist beim LSG. eingegangen ist (§ 151 Abs. 1 SGG). Das SGG hat der Tatsache, daß im sozialgerichtlichen Verfahren häufig unerfahrene, nicht schriftgewandte und arme Beteiligte ihre vermeintlichen Ansprüche verfolgen, gerade dadurch besonders Rechnung getragen, daß durch § 66 SGG das zwingende Erfordernis einer vom Gericht schriftlich zu erteilenden Rechtsmittelbelehrung eingeführt wurde, die vor allem den Zweck hat, diese Beteiligten darüber zu unterrichten, auf welchem Wege sie die ergangene Entscheidung in der gesetzlich vorgeschriebenen Form und Frist anfechten können. Die Einlegung der Berufung durch ein an das VersorgA. gerichtetes Schreiben, das dann über das SG. an das LSG. gelangte, wäre für den Kläger nur dann nicht nachteilig gewesen, wenn die Berufungsschrift noch rechtzeitig beim LSG. eingegangen wäre (BSG. in SozR. SGG § 151 Bl. Da 2 Nr. 3). Das ist hier nicht der Fall.
Das LSG. hat dem Kläger auch zu Recht die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist versagt. Die Rechtsmittelbelehrung im Urteil des SG. Landshut ist klar. Sie enthält alles, was der Rechtsmittekläger über die Einlegung der Berufung wissen mußte. Würde sich der Vormund des Klägers nach dieser gerichtet haben, hätte ihm bei der bestehenden Fassung nicht zweifelhaft sein können, daß die schriftliche Berufung beim LSG. München, Odeonsplatz 1, einzulegen war. Eine andere Beurteilung rechtfertigen auch die Ausführungen in der Revisionsbegründung nicht. Über § 202 SGG können die §§ 233 ff. ZPO nicht herangezogen werden, weil § 67 SGG die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung von gesetzlichen Verfahrensfristen für das sozialgerichtliche Verfahren, wenigstens soweit es sich um die Frage des Verschuldens handelt, abschließend geregelt hat. Den Kläger trifft zwar ein eigenes Verschulden nicht. Er muß sich jedoch ein Verschulden seines gesetzlichen oder auch gewillkürten Vertreters wie ein eigenes Verschulden anrechnen lassen. Das folgt unmittelbar aus § 67 Abs. 1 SGG, so daß es einer der Vorschrift des § 232 Abs. 2 ZPO entsprechenden nicht bedurfte. § 67 Abs. 1 SGG gilt allgemein für "jemandes" Verschulden. Als "jemand" in diesem Sinne ist, da das SGG diesen Begriff nicht eingeschränkt hat, der Beteiligte, oder, wenn für diesen ein gesetzlicher oder gewillkürter Vertreter den Prozeß führt, der Vertreter anzusehen. § 67 Abs. 1 SGG stellt es also nicht nur auf das eigene Verschulden des am sozialgerichtlichen Verfahren Beteiligten (§ 70 SGG) ab, (Peters-Sautter-Wolff, 2. Aufl., § 67 SGG Anm. 7a; Mellwitz, Komm. z. SGG § 67 Anm. 1). Dieser Regelung liegt der im Rechtsverkehr allgemein geltende und anerkannte Grundsatz (vgl. dazu Menger in DVBl. 50, 698) zugrunde, daß der Beteiligte, der seinen Rechtsstreit durch einen Vertreter führen läßt, so behandelt wird, als wenn er den Rechtsstreit selbst geführt hätte. Die Führung eines Rechtsstreits durch einen Vertreter soll nicht zur Verschiebung des Prozeßrisikos führen. Dem § 67 Abs. 1 SGG ist demnach unmittelbar zu entnehmen, daß das Verschulden des gesetzlichen oder auch gewillkürten Vertreters im sozialgerichtlichen Verfahren dem Verschulden des Klägers gleichzusetzen ist. Diese Ansicht bestätigt auch § 73 Abs. 3 Satz 2 SGG, wonach der Beteiligte sogar die Prozeßführung eines Prozeßbevollmächtigten gegen sich gelten lassen muß, wenn er diese nur stillschweigend genehmigt hat; umsomehr muß er sich ein schuldhaftes Handeln seines Prozeßbevollmächtigten als eigenes zurechnen lassen. Für den Begriff des Verschuldens des § 67 SGG ist, wie bereits das BSG. in seinem Urteil vom 2. August 1955 (SozR. § 67 Bl. Da 1 Nr. 2) ausgeführt hat, von dem prozeßrechtlichen Verschulden auszugehen, also von der Außerachtlassung der im prozessualen Verkehr erforderlichen Sorgfalt.
Im zu entscheidenden Fall hat der Vormund des Klägers vorgetragen, ihn treffe deshalb kein Verschulden, weil bei rechtzeitiger Weiterleitung seiner Berufung durch das VersorgA. die Berufungsschrift hätte fristgerecht beim LSG. München eingehen müssen; das VersorgA. habe insofern gegen Treu und Glauben verstoßen, als es angesichts seiner ausgebildeten Beamten der Pflicht nicht nachgekommen sei, die Rechtsmittelschrift rechtzeitig, notfalls sogar telegrafisch weiterzuleiten. Für die hier zu treffende Entscheidung kann dahinstehen, ob eine solche Pflicht des VersorgA. bestand. Selbst wenn sie anzunehmen wäre, schlösse diese das Verschulden des Vertreters des Klägers insofern nicht aus, als er trotz Belehrung die Berufung an das VersorgA. statt an das LSG. gerichtet hat. Das LSG. hat deshalb bedenkenfrei festgestellt, daß bei der klaren und unmißverständlichen Rechtsmittelbelehrung und bei Berücksichtigung des Bildungsgrades der Vormund es sich selbst zuzuschreiben hat, daß die Berufungsschrift nicht innerhalb der Rechtsmittelfrist bei dem LSG. eingegangen ist. Das LSG. hat nach alledem die Berufung des Klägers zu Recht als unzulässig verworfen. Die von der Revision erhobene Verfahrensrüge greift nicht durch.
Die nicht statthafte Revision war gleichzeitig nach § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen, ohne daß es eines Eingehens auf weiteres Vorbringen der Revision bedurfte.
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1984033 |
BSGE, 158 |
NJW 1960, 502 |
JR 1960, 435 |