Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfahren vor dem Großen Senat beim Fehlen konkreter Vorschriften. Begriffsdeutung "Verwaltungsverfahren" und "Verfahren". begonnene Verfahren zu Ende führen. zu Ende Führung begonnener Verfahren. verfassungsrechtliche Folgen echter und unechter Rückwirkung
Leitsatz (amtlich)
1. Art 1 § 44 SGB 10 findet, jedenfalls soweit Leistungen vor dem 1. 1. 1981 im Streit stehen und demnach eine Leistungs- bzw Verpflichtungsklage über den 31.12.1980 anhängig ist, selbst dann Anwendung, wenn der Verwaltungsakt, der durch den angefochtenen Verwaltungsakt aufgehoben werden soll, vor dem 1.1.1981 erlassen worden ist, es sei denn, die Aufhebung eines bindend gewordenen Ablehnungsbescheides könnte auch nach § 1744 RVO in der vor dem 1.1.1981 geltenden Fassung nicht bewirkt werden. Diese Rückwirkung, die sich Art 2 § 40 Abs 2 S 2 SGB 10 beigegeben hat, ist mit dem GG vereinbar.
2. Entfällt die Entscheidungserheblichkeit einer dem Großen Senat vorgelegten Rechtsfrage (hier: § 42 SGG), weil die zwischenzeitlich eingetretene Rechtsänderung das streitige Rechtsverhältnis erfaßt, und wird danach die Vorlage durch den anrufenden Senat nicht zurückgenommen, ist das Vorlageverfahren für erledigt zu erklären.
Orientierungssatz
1. Der Große Senat entscheidet nicht in der Sache selbst, sondern lediglich über die Rechtsfrage, die den Anlaß zu der Anrufung gegeben hat (§ 44 Abs 1 SGG). Seine Entscheidung ist weder ein Urteil iS des § 125 SGG noch ein Beschluß nach § 142 SGG, sondern eine Entscheidung eigener Art. Demzufolge brauchen bei der Feststellung der Erledigung durch den Großen Senat auch die Voraussetzungen des § 102 SGG nicht erfüllt zu sein. Der Große Senat ist lediglich an die in §§ 41 bis 44 SGG enthaltenen Verfahrensvorschriften gebunden. Darüber hinaus bestimmt er mangels konkreter Vorschriften sein Verfahren selbst nach den Grundsätzen der Prozeßökonomie und dem dem Anrufungsverfahren zugrundeliegenden gesetzgeberischen Zweck. Dabei darf er allerdings nicht fundamentale Grundsätze des sozialgerichtlichen Verfahrens außer acht lassen.
2. Mit dem Begriff "Verfahren" in Art 2 § 37 Abs 1 SGB 10 wird auch das gerichtliche Verfahren umfaßt (vgl BSG 1981-09-16 4 RJ 107/78 = BSGE 52, 98, 100).
3. Nach Sinn und Zweck der Überleitungsvorschrift des Art 2 § 37 Abs 1 SGB 10 ist das Verfahren nicht schon mit dem Erlaß des Verwaltungsakts, sondern erst mit dem Eintritt der Bindungswirkung "zu Ende geführt" (vgl BSG 1979-09-19 9 RV 68/78 = SozR 1200 § 44 Nr 1).
4. Die Wortfassung des Art 2 § 37 Abs 1 "bereits begonnene Verfahren zu Ende zu führen" gibt nach ihrem Sinngehalt nur den Maßstab an, wie laufende Verfahren abzuwickeln sind. Damit ist lediglich klargestellt, wie nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporären Kollisionsrechtes zu verfahren ist. Die Überleitungsvorschrift legt sich selbst keine Rückwirkung bei.
5. Grundsätzlich ist die Rückwirkung einer für den Bürger belastenden gesetzlichen Vorschrift unvereinbar mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit (Art 20 Abs 3 GG), zu dessen Wesenselement die Rechtssicherheit gehört, die sich insbesondere in dem Vertrauensschutz manifestiert (vgl BVerfG 1970-01-28 1 BvL 4/67 = BVerfGE 27, 375, 385). Dennoch ist damit verfassungsrechtlich die Unabänderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse und Rechtspositionen nicht gewährleistet.
6. Die unechte Rückwirkung, dh die Ordnung der gegenwärtigen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalte und Rechtsbeziehungen nach neuem Recht von seinem Inkrafttreten an, ist grundsätzlich nicht verfassungswidrig, es sei denn, der Grundsatz des Vertrauensschutzes steht entgegen. Demgegenüber liegt die echte Rückwirkung vor, wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörenden Tatbestände eingreift, was im vorliegenden Streitfall teilweise zutrifft; sie ist mit der Verfassung grundsätzlich unvereinbar (vgl BVerfG 1961-12-19 2 BvL 6/59 = BVerfGE 13, 261, 271 f und ständige Rechtsprechung). Das Verbot echter Rückwirkung gilt jedoch nicht ausnahmslos. Die Rückwirkung ist nach den vom BVerfG entwickelten vier Sachverhaltsgruppen ua zulässig, sofern das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt ist. Das Vertrauen in die Beständigkeit der geltenden Rechtslage ist ua nicht schutzwürdig, wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen mußte (vgl BVerfG 1961-12-19 aaO).
Normenkette
GG Art. 20 Abs. 2 Fassung: 1949-05-23, Abs. 3 Fassung: 1949-05-23; SGG § 42 Fassung: 1953-09-03, § 44 Fassung: 1953-09-03, § 77 Fassung: 1953-09-03, § 102 Fassung: 1953-09-03; SGB 10 § 44 Abs. 1 Fassung: 1980-08-18, Abs. 4 Fassung: 1980-08-18; SGB 10 Art. 2 § 37 Abs. 1 Fassung: 1980-08-18, § 40 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1980-08-18, S. 2 Fassung: 1980-08-18, S. 3 Fassung: 1980-08-18; RVO § 1744 Fassung: 1974-03-02
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 06.10.1978; Aktenzeichen L 1 An 46/76) |
SG Hannover (Entscheidung vom 07.10.1975; Aktenzeichen S 16 An 649/73) |
Tatbestand
Die 1915 geborene Klägerin des beim 11. Senat schwebenden Ausgangsverfahrens beantragte erstmals 1961 Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres 1945 verschollenen Ehemanns. Die beklagte Bundesversicherungsanstalt lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 15. September 1964 wegen Nichtvorlage der erbetenen Unterlagen ab, erklärte sich jedoch zu einer Überprüfung nach § 79 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) bereit, sofern die angeforderten Beitragsnachweise eingegangen seien. Der Bescheid blieb unangefochten. Dem erneut im November 1971 gestellten Antrag gab die Beklagte schließlich im Anschluß an ein Klageverfahren statt; sie gewährte mit Neufeststellungsbescheid vom 20. Juni 1974 rückwirkend vom 1. Dezember 1967 an Witwenrente. Das Begehren der Klägerin, die Sozialleistung vom Erstantrag an zu bewilligen, blieb auch im gerichtlichen Verfahren ohne Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) hält die Einrede der Verjährung, auf die sich die Beklagte berufen hatte, für zulässig; sie sei nicht rechtsmißbräuchlich.
Mit der zugelassenen Revision wendet sich die Klägerin gegen die Anwendung der Verjährungsvorschriften. Sie sieht in der Vorenthaltung der Rente infolge Verjährung einen Rechtsmißbrauch; die unzutreffenden Hinweise der Beklagten vor Erlaß des Ablehnungsbescheides hätten sie abgehalten, ihre Rentensache weiter zu verfolgen.
Der 11. Senat meint, auch bei einer Neufeststellung nach bindender Rentenablehnung verjähre der Rentenanspruch; die von der Beklagten geltend gemachte Einrede der Verjährung sei zulässig. Mit dieser Begründung möchte der Senat die Revision der Klägerin zurückweisen, sieht sich jedoch daran durch das Urteil des 5. Senats vom 4. Dezember 1974 - 5 RKnU 29/72 - (BSGE 38, 224, 225 f = SozR 2200 § 29 Nr 2) gehindert. Nach dieser Entscheidung bewirkt der Erlaß des Neufeststellungsbescheides die Rücknahme des ehemals bindend gewordenen Ablehnungsbescheides mit der Folge, daß dessen die Unterbrechung der Verjährung beendende Wirkung als nicht eingetreten gilt, es sei denn, der Versicherte habe zwischenzeitlich zur Betreibung einer Neufeststellung Anlaß, ohne dem nachgekommen zu sein.
Diese Rechtsansicht hat der 5. Senat auf Anfrage des 11. Senats beibehalten (Beschluß des 11. Senats vom 15. November 1979 - 11 RA 88/78 -; Beschluß des 5. Senats vom 20. Februar 1980 - 5 S 1/79 -). Der 11. Senat hat deshalb in seiner Sitzung vom 31. Juli 1980 beschlossen, dem Großen Senat (GS) nach § 42 Sozialgerichtsgesetz (SGG) folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorzulegen: Beseitigt eine Neufeststellung nach den §§ 627, 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO), 79 AVG die Beendigung der Verjährungsunterbrechung, die der vorangegangene bindend gewordene Ablehnungsbescheid bewirkt hatte?
Entscheidungsgründe
1. Die vom 11. Senat vorgelegte Rechtsfrage war jedenfalls zum Zeitpunkt der Beschlußfassung am 31. Juli 1980 entscheidungserheblich; denn die alternative Beantwortung der Vorlagefrage würde zu unterschiedlichen Entscheidungsergebnissen in der Sache führen (für ähnliche Fälle: BVerwGE 56, 172, 175; 59, 87, 93 f; BVerfGE 46, 268, 283). Der vorlegende Senat möchte die Revision mit der tragenden Begründung zurückweisen, die Verjährung des Rentenanspruchs trete auch bei einer Neufeststellung nach bindend gewordener gänzlicher Rentenablehnung ein; die Einrede darauf sei nicht rechtsmißbräuchlich erhoben worden. Hiervon ausgehend wäre der noch streitige Hinterbliebenenanspruch für die Zeit vor dem 1. Dezember 1967 verjährt. Indes schließt der 5. Senat die Verjährung bei einer Neufeststellung nicht schlechthin aus (BSGE 38, 224, 227). Er hat die Frage einer Beendigung der Verjährungsunterbrechung offengelassen, wenn der Berechtigte keine Neufeststellung betrieben hat, obwohl Anlaß hierzu bestanden hätte. Ob diese Voraussetzungen in der Person der Klägerin vorliegen, hat das LSG nicht festgestellt. Wollte der vorlegende Senat der vom 5. Senat angedeuteten Möglichkeit einer Beendigung der Verjährungsunterbrechung folgen, wäre ihm die beabsichtigte Entscheidung verwehrt; er müßte das Urteil des LSG aufheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverweisen. Aber auch in diesem Falle müßte der 11. Senat die streitige Rechtsfrage beantworten, weil aus seinem Urteil hervorgehen müßte, welche noch zu treffenden Tatsachenfeststellungen rechtserheblich sind (§ 170 Abs 5 SGG). Im übrigen bedarf es einer Zurückverweisung nur bei Verneinung der Vorlagefrage. Hingegen könnte der 11. Senat bei deren Bejahung durchentscheiden.
2. Jedoch kommt es seit dem Inkrafttreten des Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X) am 1. Januar 1981 (Art II § 40 Abs 1 SGB X) auf die vorgelegte Rechtsfrage nicht mehr an. Die damit verbundene zwischenzeitlich eingetretene Rechtsänderung, die grundsätzlich auch vom Revisionsgericht zu beachten ist (vgl ua BSGE 16, 257, 260), erfaßt das streitige Rechtsverhältnis, wie noch näher auszuführen sein wird. Rechtsgrundlage für die Neufeststellung der Hinterbliebenenrente war § 79 AVG. Diese Vorschrift ist durch Art II § 6 Nr 1 SGB X mit Wirkung vom 1. Januar 1981 an (Art II § 40 Abs 1 SGB X) gestrichen worden. Nunmehr kommt bei der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsakts - um einen solchen handelt es sich bei dem Bescheid vom 15. September 1964 - Art I § 44 SGB X in Betracht. Nach seinem Abs 4 ist bei Rücknahme von Verwaltungsakten für die Vergangenheit die rückwirkende Rentenleistung auf die Dauer von 4 Jahren beschränkt. Die Frage der Verjährung bzw deren Unterbrechung stellt sich mithin nicht mehr.
3. Diese Rechtsänderung kann der GS nicht unbeachtet lassen. Mit ihr ist die Entscheidungserheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage und damit die Divergenz zur Entscheidung des 5. Senats entfallen. Der GS ist demzufolge nicht mehr berufen, die Vorlagefrage zu beantworten. Seine Entscheidung könnte nicht mehr zur Wahrung einer einheitlichen Rechtsprechung beitragen. Es muß ihm erlaubt sein, in eigener Kompetenz vorab im Rahmen der Erheblichkeit der vorgelegten Rechtsfrage zu prüfen und zu entscheiden, welches Recht anzuwenden ist (zur Frage der Entscheidungserheblichkeit vgl ua die Entscheidungen des GS BSGE 30, 167, 171; 34, 1, 2; 38, 248, 250; 41, 41, 43; 43, 75, 78; 49, 175, 180; 51, 23, 25). Damit greift der GS nicht in den Zuständigkeitsbereich des anrufenden Senats ein, dem es allein obliegt, in der Sache zu entscheiden.
4. Allerdings berechtigt die nach Anrufung des GS veränderte Gesetzeslage ihn nicht, die Sache ohne Entscheidung an den vorlegenden Senat zurückzugeben (Eyermann/Fröhler, VwGO, 2. Aufl 1980, § 11 RdNr 6; Redeker-von Oertzen, 7. Aufl 1981, VwGO, RdNr 5 zu § 11). Durch diese Rechtsänderung hat sich die Vorlage nicht von selbst erledigt. Vielmehr ist nur ein Entscheidungselement für den GS verändert worden. Mit der Vorlage ist eine der Rechtshängigkeit rechtsähnliche Lage geschaffen worden (BGHZ GS 13, 265, 270 = DVBl 1954, 569). Sie gebietet einen entsprechenden Ausspruch des GS zu dem Vorlageverfahren unter Berücksichtigung der sich aus der Rechtsänderung ergebenden Rechtslage.
5. Dem GS ist es gestattet, den ihm geeignet erscheinenden Entscheidungsausspruch zu wählen (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd I/1, 9. Aufl 1982, S 190w I unter Hinweis auf BAG GS = BAGE 3, 66, 69 = AP Nr 5 zu § 9 MuSchG). Mit der Beschlußfeststellung "das Vorlageverfahren ist erledigt" wird das Vorlageverfahren in der nach Rechtslage geeigneten Form beendet. Diese Verfahrensweise steht zwar nicht mit der "Erledigung des Rechtsstreits in der Hauptsache" nach § 102 SGG im Einklang, dessen allerdings nur deklaratorische Wirkung auf Antrag durch Beschluß auszusprechen ist (§ 102 Satz 3 SGG). Eine Klagerücknahme als Voraussetzung für diese Erledigungserklärung betrifft das Streitverfahren, in dem über Klageansprüche zu entscheiden ist (§ 123 SGG). Hingegen entscheidet der GS nicht in der Sache selbst, sondern lediglich über die Rechtsfrage, die den Anlaß zu der Anrufung gegeben hat (§ 44 Abs 1 SGG). Seine Entscheidung ist weder ein Urteil iS des § 125 SGG noch ein Beschluß nach § 142 SGG, sondern eine Entscheidung eigener Art (Rohwer-Kahlmann, Komm zum SGG, 4. Aufl 1981, § 44 RdNr 13). Demzufolge brauchen bei der Feststellung der Erledigung durch den GS auch die Voraussetzungen des § 102 SGG nicht erfüllt zu sein (ebenso zu § 113 SGG: Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, 4. Aufl, Anm zu § 41). Der GS ist lediglich an die in §§ 41 bis 44 SGG enthaltenen Verfahrensvorschriften gebunden. Darüber hinaus bestimmt er mangels konkreter Vorschriften sein Verfahren selbst nach den Grundsätzen der Prozeßökonomie und dem dem Anrufungsverfahren zugrundeliegenden gesetzgeberischen Zweck. Dabei darf er allerdings nicht fundamentale Grundsätze des sozialgerichtlichen Verfahrens außer acht lassen. Darauf ist bei der getroffenen Entscheidung Bedacht genommen worden.
Seit dem Inkrafttreten des SGB X ist Art I § 44 SGB X auf das streitige Rechtsverhältnis anzuwenden. Für diese Rechtsfolge spricht einmal die Regelung in Art II § 37 Abs 1 SGB X. Die im zweiten Abschnitt der Überleitungs- und Schlußvorschriften enthaltene Bestimmung besagt, daß "bereits begonnene Verfahren nach den Vorschriften dieses Gesetzes zu Ende zu führen" sind. Die Wortfassung läßt allerdings offen, ob damit nur das "Verwaltungsverfahren" gemeint sein soll. Wohl könnte man aus dem in § 1 SGB X festgelegten Anwendungsbereich des SGB X schließen, daß damit nur an das Verwaltungsverfahren gedacht ist. Andererseits begegnen dem im Hinblick auf den unterschiedlichen Wortgebrauch "Verwaltungsverfahren" zB in den §§ 8, 9, 13 Abs 1, §§ 16, 17, 18, 25 Abs 1 Satz 2 SGB X sowie "Verfahren" zB in den §§ 10, 12 Abs 2, § 13 Abs 3, § 21 Abs 4, § 25 Abs 1 S 1 SGB X Bedenken. Die in ähnlichen Überleitungsvorschriften unterschiedlich gewählte Bezeichnung "Verwaltungsverfahren" in Art II § 23 Abs 2 Satz 2 des SGB - Allgemeiner Teil - (SGB I) und "Verfahren" in Art II § 37 Abs 1 SGB X geben deutliche Hinweise, daß mit dem Begriff "Verfahren" auch das gerichtliche Verfahren umfaßt wird (BSGE 52, 98, 100; aA Thelen, DAngV 1981, 91, 93). Nach Sinn und Zweck der Überleitungsvorschrift des Art II § 37 Abs 1 SGB X ist das Verfahren nicht schon mit dem Erlaß des Verwaltungsakts, sondern erst mit dem Eintritt der Bindungswirkung "zu Ende geführt". Dies hat der 9. Senat zu der in der Überleitungsvorschrift des Art II § 23 Abs 2 Satz 1 SGB I enthaltenen Wortfassung "Abschluß des Verwaltungsverfahrens" ausgesprochen (BSG SozR 1200 § 44 Nr 1). Die dort angestellten Erwägungen treffen auch hier zu.
Der Gesetzgeber kann aus verfassungsrechtlichen Gründen das Verwaltungsverfahren nicht als beendet gelten lassen, wenn sich in einem anschließenden Gerichtsverfahren die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes herausstellt. Verwaltung und Rechtsprechung sind gleichermaßen an Gesetz und Recht gebunden (Art 20 Abs 3 Grundgesetz -GG-). Die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns ist eine selbstverständliche Voraussetzung unserer Rechtsordnung. Überdies tritt die Bindungswirkung (§ 77 SGG) erst ein, wenn der gegebene Rechtsbehelf nicht oder erfolglos eingelegt worden ist. Diese Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts, auf die der Gesetzgeber abhebt, ist ein Indiz dafür, daß das Verwaltungsverfahren nur dann als abgeschlossen gelten kann, wenn eine für die Beteiligten bindende Verwaltungsentscheidung vorliegt. Das gerichtliche Verfahren bewirkt das Hinausschieben des verwaltungsmäßigen Abschlusses der Verwaltungsentscheidung. Das einer kombinierten Aufhebungs- und Leistungsklage stattgebende Urteil ersetzt den aufgehobenen Verwaltungsakt in seinen materiellen Wirkungen. Auch bei einem Grundurteil (§ 130 SGG) bleibt kein Verfahren über die Höhe der Leistung anhängig (BSGE 27, 81 = SozR Nr 6 zu § 130 SGG mwN). Mit der verwaltungsmäßigen Ausführung des Urteils wird das Verfahren auf Verwaltungsebene jedoch fortgeführt. Erst die sodann in Rechtsbindung erwachsende Verwaltungsentscheidung schließt das Verwaltungsverfahren endgültig ab (BSG SozR 1200 § 44 Nr 1). Gleiches gilt bei Zugunstenbescheiden und sonstigen Ermessensentscheidungen. Bei Ablehnung des Leistungsbegehrens ist hier eine zusammengefaßte Aufhebungs- und Verpflichtungsklage zu erheben (BSGE 20, 199, 200 = SozR Nr 11 zu § 79 SGG; BSGE 28, 173, 174 f). Ist die Verpflichtungsklage begründet, so ist entweder der Leistungsträger zu verurteilen, den beantragten Verwaltungsakt zu erlassen (etwa bei der Reduzierung des Ermessens auf Null: Vgl BSGE 9, 232, 239), oder er wird verurteilt, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (§ 131 Abs 3 SGG). Dem Leistungsträger ist dann die Verpflichtung auferlegt, das durch das gerichtliche Verfahren unterbrochene Verwaltungsverfahren durch Erlaß eines neuen Verwaltungsaktes - endgültig - zum Abschluß zu bringen.
Zu Recht meint der 4. Senat (BSGE 52, 98, 100) unter ausdrücklicher Anlehnung an die Rechtsprechung des 9. Senats (ebenso auch der 1. Senat in seinem Urteil vom 27. April 1982 - 1 RJ 84/80 - unter Bezugnahme auf die vorgenannte Entscheidung des 4. Senats), daß nur das unanfechtbar abgeschlossene Verwaltungsverfahren iS des Art II § 37 Abs 1 SGB X als beendet angesehen werden könne; denn der erlassene Verwaltungsakt (Art I § 8 SGB X) und damit die Regelung eines Einzelfalles habe noch nicht die unmittelbare Rechtswirkung nach außen erlangt (Art I § 31 Satz 1 SGB X), auf die es bei jedem Verwaltungsverfahren letztlich ankomme.
Ist demnach Art II § 37 SGB X auch im gerichtlichen Verfahren heranzuziehen, erscheint gleichwohl fraglich, ob damit allein eine rückwirkende Anwendung der im SGB X enthaltenen materiellrechtlichen Vorschriften (Art I §§ 44 bis 49 SGB X) zu rechtfertigen ist. Die Wortfassung "bereits begonnene Verfahren zu Ende zu führen" gibt nach ihrem Sinngehalt zunächst nur den Maßstab an, wie laufende Verfahren abzuwickeln sind. Damit ist lediglich klargestellt, wie nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporären Kollisionsrechtes zu verfahren ist (Wallerath, SGb 1982, S 320 Anm 2). Die Überleitungsvorschrift legt sich selbst keine Rückwirkung bei (Schroeder-Printzen/Engelmann/Wiesner/von Wulffen, Komm zum SGB X, 1981, Anm 1 zu Art II § 37 Abs 1 SGB X; ebenso zu dem wortgleichen § 96 Abs 1 VwVfG: Meyer/ Borgs, VwVfG, 1976, § 96 RdNr 1; Kopp, VwVfG, 2. Aufl 1980, § 96 Anm 1 und 2; Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, 1978, § 96 RdNr 2). In einem vergleichbaren Fall hat die Rechtsprechung zu der im Gesetz über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung (KOV-VfG) vom 2. Mai 1955 (BGBl I 202) enthaltenen Überleitungsvorschrift des § 52 KOV-VfG - danach sind in den am Tage des Inkrafttretens des Gesetzes anhängigen Sachen für das weitere Verfahren die Vorschriften dieses Gesetzes maßgebend - entschieden, daß § 41 KOV-VfG (sogen Zuungunstenentscheidung) vor dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. April 1955 nicht anzuwenden sei; vielmehr seien die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts heranzuziehen (ua BSGE 8, 11, 13; 10, 72, 74; 15, 81 f). Im Gegensatz dazu erfaßt jedoch die mit dem SGB X eingetretene Rechtsänderung rückwirkend den Streitgegenstand.
Dieses Ergebnis ist nämlich - jedenfalls soweit Leistungen vor dem 1. Januar 1981 in Streit stehen und demnach eine Leistungs- bzw Verpflichtungsklage anhängig ist - dem Art II § 40 Abs 2 SGB X zu entnehmen (so im Ergebnis ebenfalls Urteile des 1. Senats vom 27. April 1982 - 1 RJ 84/80 - und vom 7. September 1982 - 1 RA 53/81 -, beide zur Veröffentlichung bestimmt). Nach Satz 1 des Art II § 40 Abs 2 SGB X ist Art I §§ 44 bis 49 SGB X "erstmals anzuwenden, wenn nach dem 31. Dezember 1980 ein Verwaltungsakt aufgehoben wird;" nach Satz 2 "gilt dies auch dann, wenn der aufzuhebende Verwaltungsakt auch vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist." In beiden Sätzen ist mit "Verwaltungsakt" nicht der im Ausgangsverfahren angefochtene Verwaltungsakt gemeint. Vielmehr betrifft diese Bestimmung den rechtsverbindlichen Bescheid, der nach Art I §§ 44 bis 49 SGB X beseitigt werden soll (Urteil des 9. Senats, SozR 1300 § 45 Nr 1). Dem entspricht die Amtl Begründung zum Regierungsentwurf zum SGB X; danach erklärt Art II § 40 Abs 2 den Art I §§ 44 bis 49 SGB X bei Verwaltungsakten für anwendbar, die vor Inkrafttreten des Gesetzes erlassen worden sind (BT-Drucks 8/2034 zu Art II § 35 -jetzt § 40 Abs 2-, S 44). Die Wortfassung in Satz 2 "dies gilt auch dann" enthält einen unmittelbaren Bezug zum Satz 1. Die Worte "aufheben" bzw "aufzuheben" meinen die Beseitigung des früheren Verwaltungsaktes; sie schließen als Oberbegriff nach der in Rechtsprechung und Schrifttum gebräuchlichen Terminologie die "Rücknahme" wie auch den "Widerruf" von Verwaltungsakten ein. Nach dieser auch für das SGB X geltenden Begriffsbestimmung (Begründung zum Entwurf eines SGB - Verwaltungsverfahren - BT-Drucks 8/2034 S 33 Vorbem zu § 42 f sowie S 35 zu § 46) soll Art I §§ 44 bis 49 SGB X auch dann gelten, wenn nach dem 31. Dezember 1980 ein Verwaltungsakt zurückzunehmen oder zu widerrufen ist, der vor dem 1. Januar 1981 erlassen worden ist. Auf Grund dessen enthält Satz 2 des Art II § 40 Abs 2 SGB X auch eine Bestimmung über den zeitlichen Anwendungsbereich der genannten Vorschriften. Liegen demnach Aufhebungsgründe nach dem 31. Dezember 1980 vor, können Verwaltungsakte auch für die Zeit vor dem 1. Januar 1981 zurückgenommen bzw widerrufen werden. Mittelbar bestätigt dies auch Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB X, wonach von der Regelung in Satz 2 solche Verwaltungsakte ausgenommen sind, die bereits bestandskräftig waren und bei denen auch nach § 1744 RVO in der vor dem 1. Januar 1981 geltenden Fassung eine neue Prüfung nicht vorgenommen werden konnte. Der Gesetzgeber hat mit dieser Vorschrift dem Gebot des Vertrauensschutzes dadurch Rechnung getragen, daß die rückwirkende Anwendung neuen Rechts ausgeschlossen ist, wenn bereits nach altem Recht die Aufhebung eines bindenden, begünstigenden Verwaltungsaktes nicht bewirkt werden konnte (vgl hierzu Pappai, KV 1980 S 181, 189; Neumann-Duesberg, WzS 1981, S 130, 138; Grüner/Brückner/Dalichau/Podlech/Prochnow, SGB Kommentar, Band II, Erl II, 2 zu Art II § 40 SGB X). Diese Ausnahmeregelung bezieht sich deshalb nicht auf Fälle, in denen es -wie hier- um die Aufhebung eines bindend gewordenen Ablehnungsbescheides, also eines belastenden Verwaltungsaktes, geht.
Ist aber der Verwaltung diese Eingriffsmöglichkeit entsprechend dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nach dem 31. Dezember 1980 mit Wirkung für die Zeit vor dem 1. Januar 1981 gestattet, kann dies bei einem noch laufenden Verfahren nicht anders zu beurteilen sein. Infolgedessen ist auch der angefochtene Bescheid vom 20. Juni 1974 in seinem noch streitigen Teil dem neuen Recht unterworfen. Die Klägerin wendet sich dagegen, daß die Beklagte in diesem Neufeststellungsbescheid die Wirkungen des früheren, eine Witwenrente gänzlich ablehnenden Bescheides vom 15. September 1964 nicht auch für die Zeiten vor Dezember 1967 beseitigt hat. Demnach begehrt sie, daß auch für diese Zeiten der Bescheid vom 15. September 1964 iS der Terminologie des Art II § 40 Abs 2 SGB X "aufgehoben" wird. Da bis zum 31. Dezember 1980 eine solche Aufhebung nicht erfolgt ist, kann aufgrund des Art II § 40 Abs 2 SGB X für die Frage der Aufhebung jetzt nur Art I §§ 44 bis 49 SGB X maßgebend sein. Dabei ist davon auszugehen, daß mit dem Anhängigmachen der Streitsache das Gericht funktionell an die Stelle der Verwaltungsbehörde getreten ist (Peters/Sautter/Wolff, Komm zur SGb, 4. Aufl 21. Nachtrag, Anm 1 zu § 130). Es verstößt nicht gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art 20 Abs 2 GG), wenn die der Klage stattgebenden Urteile der Verwaltungsgerichte, also auch der Sozialgerichte als besondere Verwaltungsgerichte (§ 1 SGG), wie materielle Verwaltungsakte wirken, wenn auch das Verwaltungs- durch das richterliche Ermessen nicht ersetzt werden kann. Es ist gerade die in Art 19 Abs 4 Satz 1 GG iVm Art 96 Abs 1 GG festgelegte Aufgabe der Verwaltungsgerichte, rechtswidrige Verwaltungsakte zu beseitigen. Wie dies im einzelnen zu geschehen hat, etwa bei Aufhebungs- und Leistungsklagen durch Erlaß eines Grundurteils (§ 130 SGG) oder wie hier bei Aufhebungs- und Verpflichtungsklagen dadurch, daß die Verwaltung angehalten wird, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden (§ 131 Abs 2 und 3 SGG), ist ohne Belang.
Die Rückwirkung, wie sie sich Art II § 40 Abs 2 Satz 2 SGB X - wie ausgeführt - beigegeben hat, ist verfassungsrechtlich unbedenklich. Grundsätzlich ist die Rückwirkung einer für den Bürger belastenden gesetzlichen Vorschrift unvereinbar mit dem Gebot der Rechtsstaatlichkeit (Art 20 Abs 3 GG), zu dessen Wesenselement die Rechtssicherheit gehört, die sich insbesondere in dem Vertrauensschutz manifestiert (BVerfGE 13, 261, 271; 18, 135, 142; 18, 429, 439; 19, 187, 195; 22, 330, 347; 27, 375, 385). Dennoch ist damit verfassungsrechtlich die Unabänderlichkeit einmal gegebener Verhältnisse und Rechtspositionen nicht gewährleistet (Seewald, "Rückwirkung, Grundrechte, Vertrauensschutz", DÖV 1976, 228 f). Das wäre auch mit der dem Gesetzgeber ua gestellten Aufgabe, das Recht fortzuentwickeln und den veränderten Verhältnissen anzupassen, unvereinbar. Es ist andererseits nicht zu verkennen, daß damit der Schutz des Bürgers in seinem Vertrauen auf den Bestand der rechtmäßig erworbenen Rechte in Widerstreit steht, wenn mit der Gesetzesänderung auch ein Eingriff in seine Rechtsposition verbunden ist. Diesen Konflikt versucht das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) dadurch zu lösen, daß es zwischen sogen "echter (retroaktiver)" und "unechter (retrospektiver)" Rückwirkung unterscheidet und daran unterschiedliche verfassungsrechtliche Folgen knüpft (BVerfGE 30, 392, 401; 31, 222 f, 225 f mwN; st RSpr; vgl zum Vertrauensschutz: Scholler in Festschrift zum 25jährigen Bestehen des BSG "Sozialrechtsprechung, Verantwortung für den sozialen Rechtsschutz" 1979, Bd 2 S 733, 741 ff; kritisch ua: Pieroth, Habilitationsschrift "Rückwirkung und Übergangsrecht", 1981, Schriften zum öffentlichen Recht Band 394, S 79 ff; Seewald aa0 S 229 f; Grabitz "Vertrauensschutz als Freiheitsschutz", DVBl 1973, 675). Die unechte Rückwirkung, dh die Ordnung der gegenwärtigen noch nicht abgeschlossenen Sachverhalte und Rechtsbeziehungen nach neuem Recht von seinem Inkrafttreten an, ist grundsätzlich nicht verfassungswidrig, es sei denn, der Grundsatz des Vertrauensschutzes steht entgegen (ua BVerfGE 31, 222, 225 f; 39, 128, 143 f). Demgegenüber liegt die echte Rückwirkung vor, wenn das Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörenden Tatbestände eingreift, was im vorliegenden Streitfall teilweise zutrifft; sie ist mit der Verfassung grundsätzlich unvereinbar (BVerfGE 13, 261, 271 f und st Rspr). Das Verbot echter Rückwirkung gilt jedoch nicht ausnahmslos. Die Rückwirkung ist nach den vom BVerfG entwickelten vier Sachverhaltsgruppen ua zulässig, sofern das Vertrauen auf eine bestimmte Rechtslage sachlich nicht gerechtfertigt ist. Das Vertrauen in die Beständigkeit der geltenden Rechtslage ist ua nicht schutzwürdig, wenn der Bürger nach der rechtlichen Situation in dem Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz zurückbezogen wird, mit dieser Regelung rechnen mußte (BVerfGE 13, 261, 271 f; 18, 429 f, 439; 30, 367 f, 387 f).
Davon wird man im Recht der Sozialversicherung in der Regel zumindest dann ausgehen können, wenn bereits nach bisher geltendem Recht Regelungen über die Aufhebung von fehlerhaften Verwaltungsakten bestanden hatten. Zwar schließt § 77 SGG mit Rücksicht auf die Bestandskraft und Rechtssicherheit die Rücknahme fehlerhafter Bescheide grundsätzlich aus (BSGE 15, 252, 256; st Rspr). Die uneingeschränkte Geltung dieses Grundsatzes würde allerdings bedeuten, daß sowohl von Anfang an rechtswidrige als auch späterhin rechtswidrig gewordene Verwaltungsakte nicht mehr beseitigt werden könnten. Dann wären Rechtsfrieden und Rechtssicherheit gegenüber dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit in unerträglicher Weise überbetont. Infolgedessen läßt § 77 SGG eine Ausnahme von der Bindungswirkung zu, wenn das "Gesetz" etwas anderes bestimmt. In der Rentenversicherung und Unfallversicherung haben schon von Anbeginn besondere Vorschriften über die Rücknahme von Leistungsbescheiden bestanden, die durch eine nachträgliche Änderung der Verhältnisse fehlerhaft geworden waren (Krasney, Festschrift für Brackmann "Grundlagen der Sozialversicherung" S 312). Dazu rechneten ua die vor dem Inkrafttreten des SGB X geltenden §§ 622 und 1286 RVO. Von Anfang an rechtswidrige Verwaltungsakte waren zugunsten des Berechtigten nach den §§ 627, 1300 RVO, § 79 AVG zurücknehmbar, hingegen zuungunsten des Betroffenen nur nach § 1744 RVO (zur geschichtlichen Entwicklung dieser Vorschrift vgl BSGE 18, 84, 90 f). In der gesetzlichen Krankenversicherung verneinte die Rechtsprechung jedenfalls bei den sogen "Schalterakten" eine Bindungswirkung nach § 77 SGG und unterzog die Rückforderung nicht der einschränkenden Vorschrift des § 1744 RVO (BSGE 25, 280, 281 f). Sonstige begünstigende Verwaltungsakte sollten mit Ausnahme nach § 173 Abs 1 RVO aF nicht zurücknehmbar sein (BSGE 15, 252, 254).
Aus all dem folgt, daß der Berechtigte im Bereich der genannten Rechtsgebiete auch nach früherem Recht mit der Abänderbarkeit oder Aufhebung selbst eines begünstigenden Verwaltungsaktes rechnen mußte, sofern er von Beginn an rechtswidrig war oder die Rechtswidrigkeit erst nach Erlaß des Verwaltungsaktes eingetreten ist. Die Grenze der rückwirkenden Anwendung neuen Rechts liegt mithin dort, wo schon nach früheren Rechtsvorschriften die Aufhebung eines Bescheides nicht mehr bewirkt werden konnte (Jahn, Sozialgesetzbuch für die Praxis, SGB X, Vorbem zu §§ 44 bis 49 RdNr 10). Wie bereits dargelegt, trägt der Gesetzgeber insoweit mit der in Art II § 40 Abs 2 Satz 3 SGB X getroffenen Ausnahmeregelung dem Gebot des Vertrauensschutzes gebührend Rechnung.
Die Begrenzung der rückwirkend der Klägerin zuerkannten Leistungen auf einen Zeitraum von vier Jahren ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Mit einer solchen Leistungseinschränkung wegen Verjährung mußte die Klägerin rechnen; sie ist verfassungskonform. Leistungen der Sozialversicherung waren der Verjährung schlechthin unterworfen (§ 29 Abs 3 RVO aF; dazu BSGE GS 34, 1, 4 f); so auch bei Neufeststellung der Höhe einer bereits laufenden Rente (BSGE 19, 93, 96 f = SozR Nr 1 zu § 1300 RVO; SozR Nr 5 zu § 1300 RVO; BSGE 28, 282, 285 = SozR Nr 11 zu § 1300 RVO; BSG Urteil vom 31. August 1972 - 2 RU 174/71 -; Urteil vom 26. Juli 1973 - 8/2 RU 68/71 -). Ebenso hat der 5. Senat bei der Aufhebung eines Entziehungsbescheides durch einen Zugunstenbescheid die Verjährungseinrede für zulässig erachtet (BSG SozR 2200 § 29 Nr 10) und ihre Zulässigkeit selbst im Falle der Aufhebung eines Ablehnungsbescheides durch einen Zugunstenbescheid nicht generell ausgeschlossen (BSGE 38, 224 = SozR 2200 § 29 Nr 2).
Infolge des mithin fehlenden Vertrauensschutzes ist Art I § 44 Abs 4 SGB X rückwirkend anwendbar. Nach dieser Vorschrift werden, sofern ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist, Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB X längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Die Klägerin wird mit dieser Regelung gegenüber den sich aus einer Verjährung ergebenden Rechtsfolgen nicht schlechter, sondern im Gegenteil besser gestellt. Erfolgt nämlich die Rücknahme des rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes - wie hier - auf Antrag, so wird der Zeitpunkt der Rücknahme vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Antrag gestellt worden ist (Art I § 44 Abs 4 Satz 2 und 3 SGB X). Sonach beginnt im Falle der Klägerin der Vierjahreszeitraum mit dem Jahr 1971 - da der Antrag im Jahre 1971 gestellt worden ist - und reicht bis zum Januar 1967 zurück.
Im übrigen hatte der GS über die Frage eines etwaigen Herstellungsanspruchs nicht zu entscheiden.
Fundstellen