Leitsatz (amtlich)
1. Der Antrag auf Bewilligung des Armenrechts ist kein bestimmter Antrag im Sinne des SGG § 164 Abs 2 S 1.
2. Läßt der Prozeßbevollmächtigte die eindeutige Rechtsmittelbelehrung darüber, daß die Revisionsschrift einen bestimmten Antrag enthalten muß, unbeachtet, so ist das Rechtsmittelgericht nicht verpflichtet, gemäß SGG § 106 zum zweiten Mal auf dieses Formerfordernis hinzuweisen.
Normenkette
SGG § 106 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1953-09-03, § 167 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Der Antrag der Kläger, ihnen gegen die Versäumung der Revisionsfrist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wird abgelehnt.
Gründe
Die Kläger haben gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Nordrhein-Westfalen vom 12. März 1962, das am 14. April 1962 zugestellt worden ist, durch einen zugelassenen Prozeßbevollmächtigten am 7. Mai 1962 Revision eingelegt und Bewilligung des Armenrechts beantragt. Die Revisionsschrift enthielt keinen bestimmten Antrag. Mit Beschluß des erkennenden Senats vom 12. Juni 1962, zugestellt am 20. Juni 1962, wurde den Klägern das Armenrecht für das Revisionsverfahren verweigert sowie die Revision als unzulässig verworfen, weil die Revisionsschrift keinen bestimmten Antrag enthielt und die Antragstellung in der Revisionsbegründungsschrift verspätet war. Am 11. Juli 1962 beantragten die Kläger, ihnen gegen die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren; gleichzeitig wurde erneut Bewilligung des Armenrechts beantrag und Revision - mit einem Revisionsantrag - eingelegt. Zur Begründung wurde vorgetragen, das Bundessozialgericht (BSG) habe nicht geprüft, wieweit in dem Antrag auf Bewilligung des Armenrechts ein bestimmter Antrag i. S. des § 164 Abs. 2 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erblickt werden könne. Dieser Antrag müsse kein Sachantrag sein, wie in BSG 1, 98 schon entschieden sei. Die Verfahrensvorschriften seien Zweckmäßigkeitsvorschriften und einer freien Auslegung zu unterziehen. Übertriebene Anforderungen dürften nicht gestellt werden. Sinn des Antragserfordernisses sei die für den Rechtsmittelführer und das Gericht zu klärende Frage, ob und in welchem Umfange das Urteil angegriffen werde. Zweifel könnten insoweit nur bestehen, wenn die Möglichkeit offen bleibe, daß das Urteil nicht in vollem Umfange angegriffen werde. Schieden derartige Zweifel von vornherein aus, so könne keine Unklarheit bestehen, es genüge dann, wenn der Antrag aus den Gerichtsakten bzw. dem Tatbestand des angefochtenen Urteils ersichtlich sei. Im vorliegenden Fall könne ein Zweifel daran, daß die Kläger das Urteil insgesamt anzufechten wünschten, nicht bestehen. Denn es sei um die Zahlung der Unterhaltsbeihilfe gegangen, die ihnen vom Sozialgericht (SG) bewilligt, vom LSG aber versagt worden war. Das habe sich auch aus dem Antrag auf Bewilligung des Armenrechts mit hinreichender Deutlichkeit ergeben. Daher liege ein Verstoß gegen § 164 SGG nicht vor. Das BSG habe auch entschieden, daß aus den näheren Umständen, insbesondere dem angefochtenen Urteil, das zur Auslegung des Antrages mit heranzuziehen sei, das Ziel der Revision genügend klar erkennbar sein müsse. Dieses Ziel der Kläger ergebe sich aus dem angefochtenen Urteil und dem Armenrechtsantrag.
In dem Fehlen eines Sachantrages könne aber auch ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten nicht gesehen werden. Als Antrag i. S. des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG könne auch der Armenrechtsantrag als zweckdienlich angesehen werden, denn dieser sei sehr wohl geeignet gewesen, den Klägern die Möglichkeit zu geben, die Sachanträge im einzelnen zu formulieren, wie es in der Revisionsbegründung vom 4. Juni 1962 geschehen sei. Es sei nicht einzusehen, weshalb zwischen der allgemeinen Erklärung, das Urteil werde in vollem Umfange angefochten, und dem bestimmten Antrag auf Gewährung des Armenrechts eine Unterscheidung gerechtfertigt sein solle. Zwar könne das Verschulden eines Prozeßbevollmächtigten darin gesehen werden, daß er einer bestimmten Rechtsprechung nicht Rechnung getragen habe. Keines der "fünf" Prozeßgesetze (ZPO, StPO, VerwGO, ArbGG) kenne die Notwendigkeit der Stellung eines Sachantrages in der Revisionsinstanz (soll wohl heißen: Revisionsschrift); eine vergleichbare Vorschrift existiere nur in § 124 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VerwGO). Dazu habe aber das Bundesverwaltungsgericht entschieden, daß die Berufung nicht habe verworfen werden dürfen, ohne daß dem Kläger Gelegenheit gegeben worden sei, innerhalb einer vom Vorsitzenden gestellten Frist einen bestimmten Antrag zu stellen und ohne zu berücksichtigen, daß der Kläger inzwischen bereits von sich aus einen bestimmten Antrag gestellt hatte. Auch bei Anwendung pflichtgemäßer Sorgfalt könne ein Anwalt auf diese Rechtsprechung vertrauen, zumal die vorerwähnte Entscheidung erst unlängst veröffentlicht worden sei. Auch für einen Rechtskundigen sei es nicht ohne weiteres überzeugend, wenn hier zwei oberste Bundesgerichte eine verschiedene Rechtsprechung hätten. Werde aber die zwingende Vorschrift des § 124 Abs. 2 VerwGO von einem obersten Bundesgericht dahin ausgelegt, daß bei einer Verwerfung des Rechtsmittels den Klägern Gelegenheit zu geben ist, den Antrag nachzuholen, dann stelle es keine Verletzung der Sorgfalt dar, wenn sich ein Anwalt auf diese Rechtsprechung verlasse.
Die Kläger hätten zudem damit rechnen können, daß ihnen das Gericht wegen des fehlenden Antrages einen Hinweis nach § 106 SGG geben würde. Wenn es auch nicht Aufgabe des Rechtsmittelgerichts sei, jede Rechtsmittelschrift nach ihrem Eingang unverzüglich auf etwaige Mängel, die noch innerhalb der Rechtsmittelfrist beseitigt werden können, zu prüfen und den Rechtsmittelführer von dem Formmangel zu verständigen, so habe doch im vorliegenden Fall eine besondere Situation vorgelegen. Die Kläger hätten erwarten können, daß ihnen Mitteilung gemacht würde, falls das Armenrechtsgesuch für aussichtslos erachtet werde, um so mehr, als die Aussichtslosigkeit zunächst nur aus § 164 SGG gefolgert worden sei. Der Mangel hätte dann notfalls auch noch telegraphisch beseitigt werden können.
Da schließlich die Revision nach dem Beschluß vom 12. Juni 1962 nicht in der gesetzlichen Form eingelegt worden sei, sei zu prüfen, ob sich die Revisionseinlegung vom Mai 1962 als solche oder als Armenrechtsgesuch auslegen lasse. Sei letzteres der Fall, so wäre über das Armenrechtsgesuch bisher noch nicht mit zutreffender Begründung befunden worden.
Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist nicht begründet. Zwar steht diesem Antrag der Verwerfungsbeschluß des erkennenden Senats vom 12. Juni 1962 nicht entgegen, denn er würde bei Gewährung der Wiedereinsetzung gegenstandslos, ohne daß es einer besonderen Aufhebung dieses Beschlusses bedürfte (BSG in SozR SGG § 67 Bl. Da 3 Nr. 6). Es fehlt jedoch an den Voraussetzungen des § 67 Abs. 1 SGG, wonach die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nur gewährt werden kann, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten.
Zunächst kann den Klägern darin nicht gefolgt werden, daß bereits in dem Antrag auf Bewilligung des Armenrechts ein bestimmter Antrag i. S. des § 164 Abs. 2 Satz 1 SGG zu erblicken sei. Das Armenrechtsverfahren ist in § 167 SGG geregelt, während § 164 SGG nur das Revisionsverfahren selbst betrifft. Der Satz: "Die Revision muß das angefochtene Urteil bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten" bringt eindeutig zum Ausdruck, daß hier ein "Antrag" für die "Revision", folglich ein Revisionsantrag gemeint ist (vgl. auch BSG 1, 47). Demgemäß hat auch das BSG bereits wiederholt ausgesprochen, daß sich aus dem Antrag der Umfang der Anfechtung bzw. das Ziel der Revision ergeben muß (vgl. BSG 1, 47, 48; 1, 98, 99; SozR SGG § 164 Bl. Da 3 Nr. 14; ebenso BVerwG in DÖV 55, 177; ferner Eyermann-Fröhler, Kommentar zur VerwGO, Anm. 20 zu § 139 VerwGO). Der Antrag auf Bewilligung des Armenrechts befaßt sich insoweit nicht mit dem von der Revision erstrebten Ziel; er bezweckt in erster Linie die einstweilige Kostenbefreiung. Dieser Antrag kann jedenfalls hier ebenso wie das angefochtene Urteil zur Auslegung eines "Revisionsantrages" schon deshalb nicht herangezogen werden (BSG 1, 99), weil im vorliegenden Fall überhaupt kein Revisionsantrag, also auch kein der Auslegung bedürftiger, das Ziel der Revision betreffender Antrag - wie etwa in BSG 1, 98 - gestellt worden ist. Wenn dort die Erklärung des Klägers in der Revisionsschrift, er fechte das Urteil "in vollem Umfange an" als ein genügend bestimmter Antrag angesehen wurde, so deshalb, weil damit unmißverständlich zum Ausdruck gebracht worden war, inwieweit das Urteil des Berufungsgerichts angefochten werden sollte, und weil damit genügend klar erkennbar war, daß die Aufhebung des angefochtenen Urteils und eine Entscheidung des Revisionsgerichts begehrt wurde, die dem Kläger das zusprach, was ihm das angefochtene Urteil versagt hatte (BSG 1, 99). An einer solchen unmißverständlichen Erklärung fehlt es im vorliegenden Falle.
In der Unterlassung einer solchen Erklärung in der Revisionsschrift ist auch ein Verschulden des Prozeßbevollmächtigten der Kläger zu erblicken, dessen Prozeßführung die Kläger gemäß § 73 Abs. 3 SGG gegen sich gelten lassen müssen. Bei dem Begriff des Verschuldens ist von dem prozeßrechtlichen Verschulden auszugehen, also der Außerachtlassung der im prozessualen Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Dabei ist das Maß des Verschuldens nach der Person dessen, dem das Verschulden zur Last gelegt wird, verschieden zu bewerten. Die Anforderungen an die Sorgfaltspflicht sind bei einem rechtsunerfahrenen Menschen niedriger zu stellen, als bei einem Rechtskundigen (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Bl. Da 1 Nr. 2). Bei dem Prozeßbevollmächtigten der Kläger handelte es sich um einen Rechtskundigen, dem bekannt sein mußte und - wie sich aus der Revisionsschrift ergibt - auch tatsächlich bekannt war, daß für die Sozialgerichtsbarkeit ein besonderes Verfahrensgesetz gilt. Der Umstand, daß andere Prozeßgesetze für das Revisionsverfahren keine vergleichbaren Vorschriften enthalten, stellt daher keine Entschuldigung dar. Hinzu kommt, daß es in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils eindeutig heißt: "Bereits die Revisionsschrift muß das angefochtene Urteil bezeichnen und einen bestimmten Antrag enthalten ." Wenn sonach auch die ständige Rechtsprechung des BSG zu der Frage eines bestimmten Antrags dem Prozeßbevollmächtigten im vorliegenden Fall möglicherweise nicht bekannt war - auch darin könnte bereits ein prozeßrechtliches Verschulden gesehen werden -, so mußte er doch das Erfordernis des bestimmten Antrages in der Revisionsschrift jedenfalls aus der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils entnehmen. Zumindest die Nachtbeachtung dieser Belehrung stellt ein Verschulden dar, das die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausschließt.
Das BSG mußte die Kläger auch nicht gemäß § 106 SGG auf den Mangel des bestimmten Antrags hinweisen. Diese Vorschrift ist im Rahmen der Offizialmaxime vor allem in den Tatsacheninstanzen von Bedeutung und soll hauptsächlich sicherstellen, daß die Abwicklung des Verfahrens gefördert und erleichtert wird bzw. Gegenstand und Umfang des Klage- usw. -begehrens für die Entscheidung zweifelsfrei festgestellt werden (vgl. auch Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 2 zu § 106 SGG). Im übrigen kann es, wie das BSG bereits entschieden hat, nicht Aufgabe der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sein, jede Rechtsmittelschrift nach ihrem Eingang unverzüglich bis ins einzelne auf etwaige Mängel, die noch innerhalb der Frist beseitigt werden könnten, zu prüfen. Dies gilt um so mehr, wenn der Schriftsatz von einem Rechtskundigen erstellt worden ist (vgl. BSG 5, 114). Es ist in erster Linie Aufgabe und Pflicht der Parteien und ihrer Prozeßbevollmächtigten, nicht des Gerichts, Prozeßhandlungen, insbesondere Rechtsmitteleinlegungen in dem Gesetz entsprechender Form vorzunehmen. Dies wird den Beteiligten in der Sozialgerichtsbarkeit durch die gesetzlich vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrungen erleichtert, die den Zweck haben, auch dem Rechtsunkundigen die frist- und formgerechte Abgabe dieser Art von Prozeßerklärungen zu ermöglichen. Wer diese Rechtsmittelbelehrung unbeachtet läßt, handelt nicht mit der im prozessualen Verkehr erforderlichen Sorgfalt, die von ihm billigerweise verlangt werden muß; er kann daher weder fehlendes Verschulden geltend machen noch damit rechnen, daß ihn das Rechtsmittelgericht gemäß § 106 SGG zum zweiten Mal auf die ihm vom Vordergericht bereits mitgeteilten Frist- und Formvorschriften hinweisen werde.
Die Kläger können sich insoweit auch nicht auf die Praxis der allgemeinen Verwaltungsgerichte berufen. Abgesehen davon, daß in dieser Gerichtsbarkeit ein inhaltlich anderes Verfahrensgesetz gilt, betrifft die von der Revision zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wie auch die Vorschrift des § 124 Abs. 2 VerwGO nicht die Revision, sondern die Berufung, deren Formerfordernisse nicht nur in der Sozialgerichtsbarkeit, sondern auch in der VerwGO weniger streng geregelt sind. Für das Revisionsverfahren gilt hier § 139 VerwGO mit der Maßgabe, daß die Ergänzung eines unklaren Antrages nur bis zum Ablauf der Frist (hier kann der bestimmte Antrag kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung noch bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist gestellt werden, aaO Abs. 2 Satz 2) möglich ist (vgl. Eyermann-Fröhler aaO Anm. 20 zu § 139).
Schließlich ist es auch nicht angängig, die mangelhafte Revisionseinlegung als bloßes Armenrechtsgesuch auszulegen. Zwar hätte der Prozeßbevollmächtigte sich darauf beschränken können, lediglich ein Armenrechtsgesuch für die Kläger zu stellen. In diesem Fall kämen die Vorschriften über die Revisionseinlegung für die Dauer des Armenrechtsverfahrens nicht zum Zuge. Im vorliegenden Fall hat der Prozeßbevollmächtigte jedoch neben dem Armenrechtsgesuch auch rechtzeitig Revision eingelegt und diese rechtzeitig begründet. Der Kläger ist damit an der Einhaltung der Revisionsfrist nicht durch Armut verhindert gewesen, da er vor Fristablauf einen Rechtsanwalt gefunden hatte, der die Verpflichtung eingegangen ist, auch ohne vorherige Beiordnung im Armenrechtsverfahren die Revision einzulegen. Wie das BSG bereits entschieden hat, ist eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht möglich, wenn der Prozeßbevollmächtigte in einem solchen Fall noch genügend Zeit zur Einlegung der Revision zur Verfügung hatte und die Revision fristgerecht eingelegt, aber keinen Revisionsantrag innerhalb der Revisionsfrist gestellt hat (vgl. BSG in SozR SGG § 67 Bl. Da 7 Nr. 10). Anhaltspunkte dafür, daß der Prozeßbevollmächtigte der Kläger hier verhindert gewesen wäre, bei Revisionseinlegung am 7. Mai 1962 bzw. innerhalb der bis 14. Mai 1962 laufenden Revisionsfrist einen Revisionsantrag zu stellen, sind nicht ersichtlich. Im übrigen kann die rechtzeitig eingelegte und begründete Revision nicht dadurch ungeschehen gemacht werden, daß man sie in ein Armenrechtsgesuch umdeutet; eine solche Umdeutung würde einer Verfälschung der abgegebenen Prozeßerklärungen gleichkommen. Überdies führt das Fehlen des bestimmten Antrags auch bei einem nicht armen Beteiligten zur Verwerfung der Revision; es ist kein Grund ersichtlich, weshalb dies bei einem armen Beteiligten anders sein sollte.
Nach alledem war den Klägern die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu versagen.
Fundstellen
Haufe-Index 2324072 |
DVBl. 1963, 684 |