Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verletzung der Sachaufklärungspflicht. In Slowenien lebender Kläger. Mindeststandard medizinischer Ermittlung. Untersuchung und Begutachtung in Deutschland oder durch rechtskundigen Arzt im Ausland
Leitsatz (redaktionell)
1. Zu in Polen lebenden Klägern hat das BSG bereits entschieden, dass sich Schädigungsfolgen auch bei diesen regelmäßig nur auf Grund eines förmlichen Gutachtens beurteilen lassen, das ein über die maßgebenden Rechtsfragen unterrichteter Sachverständiger nach eigener Untersuchung erstellt hat. Es ist deshalb verfahrensfehlerhaft, wenn das erkennende Gericht das bisherige Beweisergebnis für seine Entscheidungsfindung als ausreichend angesehen hat, obwohl die vorliegende Sachverhaltsaufklärung kein gerichtliches Sachverständigengutachten umfasste, sondern sich im Wesentlichen auf Stellungnahmen des ärztlichen Dienstes zu vom Versicherten beigebrachten medizinischen Unterlagen beschränkte und damit auch nicht annähernd dem Ermittlungsniveau entsprach, das bei in Deutschland lebenden Klägern üblich ist (vgl. Urteil vom 11.09.1991, Az. 9a RV 19/91). Diese Grundsätze sind auch auf einen in Slowenien lebenden Kläger anwendbar.
2. Der Mindeststandard hinreichender Sachaufklärung ist auch dann eingehalten, wenn ein ausländischer Arzt im Ausland nach persönlicher Untersuchung des Betroffenen ein Sachverständigengutachten erstattet. Dann ist jedoch sicherzustellen, dass dieser Arzt über die entscheidungserheblichen rechtlichen Grundlagen genügend orientiert ist.
Normenkette
SGG § 103 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 20. Juni 2002 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 20. Juni 2002 die Entscheidungen des Beklagten und des Sozialgerichts Frankfurt bestätigt, wonach bei dem in Slowenien lebenden Kläger weder weitere Schädigungsfolgen noch eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 25 vH anzuerkennen seien, sodass er auch keinen Anspruch auf Beschädigtenrente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) habe. Das vom Kläger behauptete schädigende Ereignis eines im Juli 1944 erlittenen Bauchdurchschusses sei weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht. Auf einen etwa erlittenen Bauchdurchschuss ließen sich die vom Kläger jetzt behaupteten aktuellen Gesundheitsstörungen auch nicht mit Wahrscheinlichkeit zurückführen.
Mit seiner gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG gerichteten Beschwerde macht der Kläger geltend: Das Berufungsurteil sei verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen. Das LSG habe seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts verletzt, weil es dem von ihm – dem Kläger – im Berufungsverfahren gestellten Antrag auf Begutachtung der Bauchdurchschussverletzung nach persönlicher Untersuchung durch einen ärztlichen Sachverständigen in Deutschland oder Österreich nicht gefolgt sei. Stattdessen habe sich das Berufungsgericht auf nach Aktenlage abgegebene gutachtliche Äußerungen von Versorgungsärzten gestützt und entgegen den medizinischen Ausführungen des durch die Behandlung von Kriegsverletzten besonders sachkundigen slowenischen Arztes Dr. G… ein schädigendes Ereignis (Durchschussverwundung) sowie heute darauf beruhende gesundheitliche Folgen verneint.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde des Klägers ist begründet.
Der gerügte Verfahrensfehler (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) liegt vor. Das LSG hat § 103 SGG verletzt. Es hätte sich gedrängt fühlen müssen, den Beweisantrag des Klägers auf Begutachtung nach persönlicher Untersuchung zu folgen.
Der erkennende Senat hat bereits verschiedentlich zu entscheiden gehabt, unter welchen Voraussetzungen ein im Ausland lebender Kläger in der Bundesrepublik Deutschland untersucht und begutachtet werden muss (BSG SozR 3-1500 § 128 Nr 6 und Urteil vom 10. Februar 1993 – 9/9a RV 5/92 – MesoB 290/172). Die dort zu in Polen lebenden Antragstellern entwickelten Grundsätze sind auch auf Kläger in Slowenien anzuwenden. Danach lassen sich Schädigungsfolgen regelmäßig nur auf Grund eines förmlichen Gutachtens beurteilen, das ein über die maßgebenden Rechtsfragen unterrichteter Sachverständiger nach eigener Untersuchung des Kriegsbeschädigten erstellt hat. Es war deshalb verfahrensfehlerhaft, dass das LSG im vorliegenden Fall das bisherige Beweisergebnis für seine Entscheidungsfindung als ausreichend angesehen hat, obwohl die vorliegende Sachverhaltsaufklärung kein gerichtliches Sachverständigengutachten umfasste, sondern sich im Wesentlichen auf Stellungnahmen des versorgungsärztlichen Dienstes zu vom Kläger beigebrachten medizinischen Unterlagen beschränkte und damit auch nicht annähernd dem Ermittlungsniveau entsprach, das bei in Deutschland lebenden Klägern üblich ist (vgl Urteil des Senats vom 11. September 1991 – 9a RV 19/91 – JURIS). Ein vergleichbarer Standard wird nicht in jedem Fall erst durch eine Untersuchung in Deutschland und das Gutachten eines deutschen Arztes erreicht. Der hier unterschrittene Mindeststandard hinreichender Sachaufklärung wäre auch dann eingehalten, wenn ein ausländischer Arzt im Ausland nach persönlicher Untersuchung des Betroffenen ein Sachverständigengutachten erstattet. Dann ist jedoch sicherzustellen, dass dieser Arzt über die entscheidungserheblichen versorgungsrechtlichen Grundlagen (zB durch Kenntnis der “Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz”) genügend orientiert ist. Ggf können auch besondere Hinweise im Beweisbeschluss des Gerichts erforderlich sein.
Auf dem vom Kläger danach zu Recht gerügten Verfahrensmangel kann das angegriffene Berufungsurteil beruhen, weil nicht auszuschließen ist, dass eine weitere, im vorgenannten Sinne durchgeführte Sachaufklärung zu einem für den Kläger günstigen Ergebnis führt.
Nach § 160a Abs 5 SGG kann das Bundessozialgericht in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn – wie hier – die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch, weil auch ein Revisionsverfahren – wegen der erforderlichen weiteren Ermittlungen – zu einer Zurückverweisung an die Vorinstanz führen müsste.
Das LSG wird im wieder eröffneten Berufungsverfahren auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen