Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Sachaufklärungspflicht. deutsches medizinisches Gutachten. im Ausland lebender Versorgungsberechtigter
Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen ein im Ausland lebender Versorgungsberechtigter in der Bundesrepublik Deutschland untersucht und begutachtet werden muß.
Normenkette
SGG § 103 S. 1, § 128 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Entscheidung vom 25.09.1989; Aktenzeichen S 13 V 797/88) |
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 07.09.1990; Aktenzeichen L 8 V 2355/89) |
Tatbestand
Die Revision betrifft die Frage, ob das Landessozialgericht (LSG) einen gestellten Beweisantrag auf ärztliche Untersuchung übergehen durfte.
Der 1914 geborene, in Polen lebende Kläger begehrt Teilversorgung. Er wurde als Angehöriger der ehemaligen deutschen Wehrmacht im März 1945 durch Granatsplitter an beiden Beinen, an der Hüfte und an der Schulter verwundet. Die Wunden eiterten anfangs stark; eine Knochenbeteiligung wurde nicht ausgeschlossen. Der Kläger beantragte erstmals 1969 Versorgung wegen der Verwundungsfolgen. Die Granatsplitterverletzung und Stecksplitter wurden anerkannt, Leistungen aber nicht gewährt, da die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit unter 25 vH bewertet wurde. Auf den im Juli 1971 gestellten Verschlimmerungsantrag wurden weitere Stecksplitter auch in den Weichteilen des linken Unterschenkels und im rechten Schultergelenk sowie auf der Brust anerkannt. Da der Aktengutachter aus den alten übersandten Röntgenaufnahmen keinen sicheren Anhalt für entzündliche Veränderungen entnehmen konnte, wurde die MdE weiterhin mit unter 25 vH bewertet. Die Klage blieb - unter Verneinung eines besonderen beruflichen Betroffenseins - erfolglos. Auch der 1986 erneut gestellte Rentenantrag, der das jetzige Verfahren ausgelöst hat, war ohne Erfolg (Bescheid vom 8. Mai 1987 und Widerspruchsbescheid vom 7. Januar 1988; Bescheid vom 6. Februar 1990). Auf Veranlassung des Sozialgerichts (SG) wurde der Kläger in Polen durch die Rentenbehörde untersucht. Die vom Kläger übersandten Unterlagen sowie die ärztliche Äußerung der Gutachtenstelle der polnischen Rentenbehörde (Formulargutachten) sind von einem gerichtlichen Sachverständigen nach Aktenlage beurteilt worden. Auf dieser Grundlage sind die Klage abgewiesen und die Berufung zurückgewiesen worden (Urteil des SG Stuttgart vom 25. September 1989; Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 7. September 1990).
Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und sich auf Verfahrensfehler berufen. Er habe mit seinem letzten Schriftsatz vor Erlaß des Urteils ohne mündliche Verhandlung gerügt, daß er bisher nicht gründlich ärztlich untersucht worden sei. Auch das LSG habe diesen Hinweis im Urteil als einen Antrag auf Begutachtung nach § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) verstanden. Diesem Beweisantrag sei das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt. Es habe lediglich ausgeführt, daß der medizinische Sachverhalt durch die bisherigen ärztlichen Befunderhebungen und Beurteilungen bereits geklärt sei. Diese pauschale Begründung rechtfertige die Ablehnung des Beweisantrages nicht, weil die auf Vordrucken erstatteten Kurzgutachten aus Polen nicht den in Deutschland üblichen fachärztlichen Untersuchungen und Begutachtungen entsprächen. Das in erster Instanz erstattete Gutachten nach Lage der Akten sei als Entscheidungsgrundlage ungeeignet, weil ihm kein entsprechendes Befundmaterial zugrundeliege. Wenn der ausgewertete Befund in einem Aktengutachten um ein Vielfaches übertroffen werde und es hinsichtlich des erhobenen Befundes keinerlei Gewähr auf Vollständigkeit, Gründlichkeit und Ausführlichkeit der Untersuchung gebe, mangele es an einer ausreichenden Entscheidungsgrundlage. Das LSG habe selbst die Auffassung vertreten, daß die polnischen Ärzte über die MdE nach anderen Maßstäben urteilten als die deutschen Ärzte; dann müsse es aber die MdE-Einschätzung auch auf eine Grundlage stützen, die derjenigen in Deutschland vergleichbar sei. Daran fehle es, wenn die Beweiserhebung den üblichen medizinischen Standard nicht erreiche.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 7. September 1990 aufzuheben und den Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.
Der Beklagte hat keinen Antrag gestellt.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Das Urteil beruht auf dem gerügten Verfahrensfehler (Verletzung der §§ 103, 128 Abs 1 SGG).
Das LSG hätte den gestellten Antrag auf gründliche ärztliche Untersuchung und Begutachtung im Wege des Sachverständigenbeweises nicht übergehen dürfen. Der medizinische Sachverhalt ist ausweislich des angefochtenen Urteils und der ihm zugrundeliegenden Akten nicht ausreichend geklärt. Es ist nicht erkennbar, welche Möglichkeiten dem LSG zur Verfügung gestanden haben, das in erster Instanz eingeholte Aktengutachten auf Schlüssigkeit und Plausibilität zu prüfen. Grundsätzlich sind Schädigungsfolgen (§ 1 Abs 1 und 3 Satz 1, § 30 Abs 1 BVG) nur aufgrund eines förmlichen Gutachtens, das ein über die maßgebenden Rechtsfragen unterrichteter Sachverständiger nach eigener Untersuchung erstellt hat, zu beurteilen (§ 118 Abs 1 SGG). Das vom LSG verwertete Aktengutachten, das sich auf die Verwertung der von polnischen Ärzten erhobenen Befunde beschränkte, war auch inhaltlich unzureichend. Ungeachtet der Frage, ob in diesem Aktengutachten die bis zu diesem Zeitpunkt erhobenen, einander teilweise widersprechenden klinischen Befunde ausreichend gewürdigt worden sind und ob sich eine röntgenologische Begutachtung angesichts der schon früher geäußerten Unsicherheiten in der Bewertung älterer Aufnahmen hätte aufdrängen müssen, ist es verfahrensfehlerhaft, daß das LSG im vorliegenden Fall seinen Erkenntnisstand für die Entscheidungsfindung für ausreichend gehalten hat, obwohl die Sachverhaltsaufklärung, die nicht auf einem förmlichen Beweisbeschluß beruhte, auch nicht annähernd damit vergleichbar ist, was bei in Deutschland ansässigen Kriegsbeschädigten üblich ist (vgl Urteil des Senats vom 11. September 1991 - 9a RV 19/91). Die medizinische Diagnostik auf röntgenologischem Gebiet hat erhebliche Fortschritte gemacht, so daß inzwischen eine genaue Aussage über Lage und Auswirkungen von Stecksplittern sowie über die bisher als fraglich beurteilte Knochenbeteiligung möglich erscheint. Die Beschreibung von Bewegungseinschränkungen als Grundlage einer Aktenbegutachtung zur Höhe der MdE muß Tatsachenangaben enthalten und darf sich nicht auf Wertungen im Sinne von "geringgradig" oder "unerheblich" beschränken, wie es in den vorliegenden polnischen Arztberichten geschehen ist. Dies gilt um so mehr, wenn die so beschriebenen Schädigungsfolgen nach polnischem Verständnis einen viel höheren Grad der MdE bewirken als nach deutschen Vorstellungen. Schon unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe zum Grad der Beschädigung, die das LSG bei seiner Entscheidungsfindung zu Recht berücksichtigt hat, machen deutlich, daß wertende Feststellungen von Medizinern, die einem anderen Rechtskreis angehören, als Grundlage einer Aktenbegutachtung nach deutschem Recht besonders sorgfältige und genaue Tatsachenbeschreibungen erforderlich machen.
Die genannten Gründe gebieten zwar nicht, die Kriegsbeschädigten grundsätzlich in Deutschland untersuchen und aufgrund dessen von einem deutschen Sachverständigen begutachten zu lassen, wenngleich dies seit vielen Jahren unproblematisch geschehen kann und sich möglicherweise in grenznahen Kliniken sogar als kostengünstig erweist. Es ist bekannt, daß auch aus Polen bei entsprechender Fragestellung und ausführlicher Belehrung im Gutachtenauftrag brauchbare Gutachten zu erlangen sind. Dazu zählen in Versorgungsangelegenheiten allerdings nicht die Formulargutachten der polnischen Rentenbehörde, wenn sie nicht einmal im Wege des Sachverständigenbeweises, sondern rein informatorisch und ohne Bekanntgabe der rechtlichen Beurteilungsmaßstäbe eingeholt werden. Die angewandten Untersuchungsmethoden und die Sorgfalt der Befunderhebung und -beschreibung müssen Anforderungen an Gutachten deutscher Sachverständiger entsprechen. Falls nur Befundberichte sachverständiger Zeugen eingeholt werden, müssen diese eine Vollständigkeit - auch hinsichtlich der für die Kausalität maßgeblichen Faktoren - gewährleisten und für den Aktengutachter ausreichend sowie für die Gerichte überprüfbar sein.
Das LSG wird die eine diesen Anforderungen genügende Beweiserhebung nachzuholen und bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen