Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Verletzung des § 118 Abs 1 SGG, § 407a Abs 2 S 1 ZPO. Erstellung eines psychiatrischen Fachgutachtens. Delegierung an einen Dritten
Orientierungssatz
1. Die Grenze der erlaubten Mitarbeit anderer Personen bei der Erstellung des Gutachtens durch den vom Gericht bestellten Sachverständigen ist dann mit der Folge der Unverwertbarkeit des Gutachtens überschritten, wenn aus Art und Umfang der Mitarbeit gefolgert werden kann, der beauftragte Sachverständige habe seine das Gutachten prägenden und regelmäßig in einem unverzichtbaren Kern von ihm selbst zu erbringenden Zentralaufgaben nicht selbst wahrgenommen, sondern delegiert (vgl BSG vom 30.1.2006 - B 2 U 358/05 B = UV-Recht Aktuell 2006, 161).
2. Soweit sich jedoch nicht aus der Eigenart des Gutachtenthemas ergibt, dass für bestimmte Untersuchungen die spezielle Sachkunde und Erfahrung des Sachverständigen benötigt wird, reicht es aus, wenn dieser die von Hilfskräften erhobenen Daten und Befunde nachvollzieht. Bei einer psychiatrischen Begutachtung ist aber wegen der Besonderheiten dieses Fachgebiets die persönliche Begegnung des Sachverständigen mit dem Probanden unter Einschluss eines explorierenden Gesprächs als unverzichtbar für die eigene verantwortliche Urteilsbildung anzusehen (vgl BSG vom 17.11.2006 - B 2 U 58/05 B = SozR 4-1750 § 407a Nr 3 RdNr 4).
Normenkette
SGG § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 118; ZPO § 407a Abs. 2 S. 1
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 21.02.2008; Aktenzeichen L 10 U 1417/06) |
SG Karlsruhe (Urteil vom 10.02.2006; Aktenzeichen S 4 U 3809/04) |
Tatbestand
Umstritten ist die Anerkennung von Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente auf Grund eines Arbeitsunfalls. Das Sozialgericht (SG) stellte als Unfallfolge bei der Klägerin eine Panikstörung fest, die mit einer "Unfallrente" nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 20 vH zu entschädigen sei (Urteil vom 10. Februar 2006). Auf die Berufung der beklagten Berufsgenossenschaft hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben, die Klage abgewiesen und die auf eine höhere Verletztenrente gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zur Begründung hat es sich im Wesentlichen auf ein bei Prof. Dr. F. in Auftrag gegebenes und ua von ihm unterschriebenes Gutachten gestützt; die Revision hat es nicht zugelassen (Urteil vom 21. Februar 2008).
In ihrer frist- und formgerecht erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde an das Bundessozialgericht (BSG) rügt die Klägerin, das LSG habe seiner Entscheidung ein aufgrund ihrer Rüge unverwertbares Gutachten zu Grunde gelegt. Der beauftragte Sachverständige Prof. Dr. F. habe unter Verstoß gegen § 407a Abs 2 Zivilprozessordnung (ZPO) seinen Gutachtensauftrag an einen anderen übertragen. Er selbst habe sie nur lediglich drei Minuten gesprochen, während das Untersuchungsgespräch, das auf S 14 bis 22 des Gutachtens geschildert werde, 2 ½ Stunden gedauert habe und von Dr. H., der das Gutachten ebenfalls unterzeichnet habe, geführt worden sei.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Das angefochtene Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21. Februar 2008 beruht auf einem Verfahrensmangel nach § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Es ist daher aufzuheben und die Sache an das LSG gemäß § 160a Abs 5 SGG zurückzuverweisen.
Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§§ 160a, 160 Abs 2 Nr 3 SGG) . Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des § 118 Abs 1 SGG, § 407a Abs 2 Satz 1 ZPO ergangen ist.
Nach § 407a Abs 2 Satz 1 ZPO ist der Sachverständige nicht befugt, den Gutachtensauftrag auf einen anderen zu übertragen. Er kann sich jedoch der Mitarbeit anderer Personen bedienen (§ 407a Abs 2 Satz 2 ZPO) . Die Grenze der erlaubten Mitarbeit anderer Personen bei der Erstellung des Gutachtens durch den vom Gericht bestellten Sachverständigen ist dann mit der Folge der Unverwertbarkeit des Gutachtens überschritten, wenn aus Art und Umfang der Mitarbeit gefolgert werden kann, der beauftragte Sachverständige habe seine das Gutachten prägenden und regelmäßig in einem unverzichtbaren Kern von ihm selbst zu erbringenden Zentralaufgaben nicht selbst wahrgenommen, sondern delegiert (Beschluss des Senats vom 30. Januar 2006 - B 2 U 358/05 B unter Bezugnahme auf BSG SozR 4-1750 § 407a Nr 1, 2) . Soweit sich jedoch nicht aus der Eigenart des Gutachtenthemas ergibt, dass für bestimmte Untersuchungen die spezielle Sachkunde und Erfahrung des Sachverständigen benötigt wird, reicht es aus, wenn dieser die von Hilfskräften erhobenen Daten und Befunde nachvollzieht (BSG vom 17. November 2006 - B 2 U 58/05 B, SozR 4-1750 § 407a Nr 3 RdNr 4) . Ein vom Gericht zur Beurteilung von Unfallfolgen auf neurologischem Gebiet eingeholtes Gutachten wurde nicht deshalb als unverwertbar angesehen, weil der Sachverständige die körperliche Untersuchung des Probanden und die Erhebung der organmedizinischen Befunde einem ärztlichen Mitarbeiter übertragen hatte. Bei einer psychiatrischen Begutachtung wurde wegen der Besonderheiten dieses Fachgebiets die persönliche Begegnung des Sachverständigen mit dem Probanden unter Einschluss eines explorierenden Gesprächs als unverzichtbar für die eigene verantwortliche Urteilsbildung angesehen (BSG vom 17. November 2006 aaO) .
Ausgehend von diesen Grundsätzen durfte das LSG das psychiatrische Gutachten vom 26. März 2007, das von Prof. Dr. F. als dem beauftragten Sachverständigen und Dr. H. unterschrieben ist, seinem Urteil nicht zu Grunde legen. Denn dieses Gutachten wurde, wie die Klägerin unmittelbar nach dessen Übersendung an sie gerügt hat, in zumindest einem wesentlichen Teil nicht durch Prof. Dr. F. erstellt, obwohl es sich um ein psychiatrisches Fachgutachten handelt.
Aus den Überlegungen des LSG, dass vorliegend bei der Gutachtenerstellung nicht die aktuelle psychische Situation der Klägerin im Zeitpunkt der Untersuchung, sondern eine Kausalitätsbeurteilung im Vordergrund gestanden habe, folgt nichts anderes. Denn wenn die aktuelle Untersuchung ohne grundlegende Bedeutung für diese Kausalitätsbeurteilung war, stellt sich die Frage, wieso sie überhaupt durchgeführt wurde, wieso das Untersuchungsgespräch durch Dr. H. 2 ½ Stunden dauerte und auf 8 von insgesamt 29 Seiten des Gutachtens ausführlich dargestellt wird. Die Relation dieses 2½-stündigen Untersuchungsgesprächs zu dem - nach den Feststellungen des LSG - wenige Minuten dauernden Gespräch von Prof. Dr. F. mit der Klägerin zeigt deutlich die Übertragung eines wichtigen und prägenden Teils der Gutachtenerstattung an Dr. H. Bei einem psychiatrischen Gutachten kann der Eindruck aus einem solchen Gespräch nicht durch ein wenige Minuten dauerndes Gespräch ersetzt werden.
Dass die Klägerin ihre Rüge auch bis zur Entscheidung des LSG aufrechterhalten hat, wird in der Auseinandersetzung des LSG mit ihr deutlich.
Der Senat hat von der durch § 160a Abs 5 SGG eröffneten Möglichkeit Gebrauch gemacht, auf die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil wegen des festgestellten Verfahrensfehlers aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Denn ohne Nachholung der in dem Gutachtensauftrag deutlich werdenden notwendigen Sachverhaltsermittlungen kann über die zwischen den Beteiligten umstrittene Anerkennung von Unfallfolgen und die Gewährung einer Verletztenrente vom BSG nicht abschließend entschieden werden.
Das LSG wird auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen