Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 19.04.1995) |
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 19. April 1995 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der 1963 geborene Kläger, der vom Oktober 1983 bis Dezember 1984 Grundwehrdienst bei der Bundeswehr geleistet hat, führt ein Darmleiden (Colitis ulcerosa) auf wehrdienstliche Einflüsse, insbesondere angebliche Unterdrückung und Schikanen durch Vorgesetzte zurück. Er war nach dreimonatiger Grundausbildung nur noch im Stabsdienst eingesetzt gewesen. Im Juli/August 1984 hatte sich bei ihm ein Darmleiden eingestellt, das im Bundeswehrkrankenhaus Osnabrück vom August bis Oktober und im November 1984 stationär behandelt wurde. Sein Versorgungsantrag vom Dezember 1984 blieb erfolglos (Bescheid vom 6. November 1985 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Februar 1986), desgleichen Klage (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Duisburg vom 19. April 1994) und Berufung (Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Nordrhein-Westfalen vom 19. April 1995).
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde rügt der Kläger neben einer Reihe von Verfahrensfehlern: Abweichung von den Urteilen des Senats vom 26. Februar 1992 (SozR 3-3200 § 81 Nr 3), vom 5. Mai 1993 (SozR 3-3200 § 81 Nr 8) und vom 23. Juni 1993 (HV-INFO 1993, 2320: Depressive Neurose als angebliche Folge einer wehrdiensteigentümlichen Benachteiligung als Homosexueller). Das LSG sei davon ausgegangen, daß Krankheiten, die nicht auf ein einmaliges „plötzliches”) Ereignis zurückgehen, nur dann als Wehrdienstbeschädigung entschädigt werden könnten, wenn sie entweder in die Berufskrankheitenverordnung (BKVO) aufgenommen seien oder aber die Voraussetzungen des § 551 Abs 2 Reichsversicherungsordnung (RVO) vorlägen, dh in der gesetzlichen Unfallversicherung die Aufnahme in die BKVO wegen auffallender Erhöhung des Krankheitsrisikos hätte erfolgen müssen. Diese Voraussetzungen habe es verneint. Das Bundessozialgericht (BSG) habe es demgegenüber in den genannten Entscheidungen, insbesondere in den Urteilen vom 26. Februar 1992 und vom 5. Mai 1993, für nicht schon in der BKVO genannte Erkrankungen ausreichen lassen, daß die Krankheit unter Soldaten, dh im militärischen Milieu, in signifikanter Weise häufiger auftrete. Diese Voraussetzung zu prüfen, habe das LSG unterlassen.
Außerdem macht der Kläger mit seiner Beschwerde geltend, die Sache habe wegen der Fragen grundsätzliche Bedeutung, ob die sog Kannversorgung (§ 81 Abs 6 Satz 2 Soldatenversorgungsgesetz ≪SVG≫) nur bei wehrdiensttypischen Belastungen zu gewähren sei, die außergewöhnlich und kriegsähnlich seien, und ob die in Abschnitt 106 der „Anhaltspunkte” enthaltene allgemeine Zustimmung des Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) für Versorgung wegen Erkrankung an Colitis ulcerosa sich auf außergewöhnliche und kriegsähnliche Belastungen beschränke.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist insoweit nicht formgerecht begründet (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) und daher unzulässig, als der Kläger mit ihr grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) geltend macht. Es wird nicht dargelegt (§ 160a Abs 2 Satz 3), inwieweit die vorgelegten Rechtsfragen (noch) klärungsbedürftig sind. Der Senat hat bereits am 10. November 1993 (SozR 3-3200 § 81 Nr 9) die vom Kläger aufgeworfene Frage entschieden, ob eine „Kannversorgung” nur bei kriegsähnlichen Belastungen in Betracht kommt. Der Kläger bestreitet dies zu Unrecht. Der Senat hat diese Frage aaO bejaht. Das Erfordernis der kriegsähnlichen Belastung lieferte seinerzeit auch die Begründung dafür, daß der im Offizierskasino – möglicherweise durchaus öfter als im Zivilleben – verwendete damalige Kläger keinen Anspruch auf Kannversorgung hatte. Der Senat sieht keinen Anlaß, über diese Rechtsfrage nochmals zu entscheiden. Die Frage, ob die og Einschränkung auch dann gilt, wenn der BMA seine allgemeine Zustimmung iS des § 81 Abs 6 Satz 2 SVG erteilt hat, ist ebenfalls in der genannten Entscheidung beantwortet. Auch diese Entscheidung betraf nämlich eine Krankheit (Multiple Sklerose), für deren Entschädigung im Rahmen der Kannversorgung der BMA seine allgemeine Zustimmung erteilt hatte. Demgegenüber legt der Kläger nicht dar, weshalb auch nach der genannten Entscheidung des Senats für die vorgelegten Fragen noch Klärungsbedarf verblieben oder wieder aufgetreten sein könnte.
Unbegründet ist die Beschwerde, soweit der Kläger eine Abweichung von Urteilen des Senats behauptet (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG).
In den angeführten Urteilen hat der Senat die Fälle, in denen als Schädigungsfolge eine durch allmähliche Einwirkung wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse verursachte Erkrankung geltend gemacht wird, in drei Gruppen eingeteilt:
- Die angebliche Schädigungsfolge ist in der BKVO als Berufskrankheit anerkannt (§ 551 Abs 1 RVO – ein solcher Fall liegt hier unstreitig nicht vor).
Die angebliche Schädigungsfolge müßte in der gesetzlichen Unfallversicherung als Berufskrankheit anerkannt werden (§ 551 Abs 2 RVO).
In den vorgenannten beiden Fällen müßte grundsätzlich auch noch der Ursachenzusammenhang zwischen wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen und der geltend gemachten Schädigungsfolge wahrscheinlich sein (§ 81 Abs 6 Satz 1 SVG), wobei die Bejahung des signifikanten Auftretens der Krankheit im Soldatenmilieu zu einer Beweiserleichterung führen kann (BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 3).
Die angebliche Schädigungsfolge fällt weder unter a) noch b), die angeschuldigten wehrdiensttypischen Belastungen gehen aber auf kriegsähnliche Anforderungen zurück, wie sie in Zivilberufen typischerweise nicht vorkommen.
Das Argument für die Einbeziehung dieser Fallgruppe in die Entschädigungstatbestände liefert § 81 Abs 6 Satz 2 SVG, da diese Bestimmung nach ihrem Sinn und Zweck keine Beschränkung der Entschädigung auf einen bestimmten Katalog von Krankheiten zuläßt. Für die unter c) fallenden Erkrankungen reicht es bei Vorliegen der in § 81 Abs 6 Satz 2 SVG genannten Voraussetzungen (wissenschaftlicher Streit um die medizinische Verursachung einer Krankheit) aus, wenn der Kausalzusammenhang zu den angeschuldigten wehrdiensteigentümlichen Verhältnissen möglich, dh nach mindestens einer medizinischen Lehrmeinung wahrscheinlich ist (§ 86 Abs 6 Satz 2 SVG und Urteil des Senats SozR 3-3200 § 81 Nr 9). Liegt ein höherer Beweisgrad vor, besteht erst recht ein Entschädigungsanspruch.
Zu Unrecht rügt der Kläger eine Abweichung von den vom Senat zur Fallgruppe b) aufgestellten Grundsätzen. Das LSG hat die Urteile des Senats zutreffend dahin verstanden, daß bei einer nicht in den Katalog der BKVO aufgenommenen Krankheit vor Prüfung der Frage, ob die Krankheit im Einzelfall auf wehrdienstbedingte Einflüsse zurückgeht, zunächst die allgemeine Frage geprüft und bejaht werden muß, „ob bestimmte dienstliche Einwirkungen in statistisch beachtlichen Umfang allgemein geeignet sind, die bestimmte Krankheit hervorzurufen” (BSG SozR 3-3200 § 81 Nr 3). Diese vom Senat gewählte Formulierung ist – wie der Senat durch Bezugnahme auf „den Rechtsgedanken des § 551 Abs 2 RVO” klargestellt hat, nichts anderes als die Umschreibung der Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO für den „Soldatenberuf”. Wird die Vorfrage nach der „allgemeinen Eignung” der geltend gemachten Erkrankung für die Aufnahme in die BKVO verneint, so erübrigt sich die Prüfung der Kausalität im Einzelfall (vgl auch Urteil des Senats SozR 3-3200 § 81 Nr 6 auf S 32 ff). Das LSG hat, ohne daß der Kläger dies mit wirksamen Verfahrensrügen angegriffen hätte, das Fehlen der tatsächlichen Voraussetzungen des § 551 Abs 2 RVO festgestellt (keine neuen medizinischen Erkenntnisse, wonach das Auftreten von Colitis ulcerosa unter Soldaten im Verhältnis zur sonstigen Bevölkerung signifikant erhöht ist). Daran ist der Senat gebunden (vgl § 163 SGG). Bereits deswegen konnte das LSG im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats die Voraussetzungen der Entschädigung der Colitis ulcerosa auch im Falle des Klägers nach dem § 551 Abs 2 RVO zugrundeliegenden Rechtsgedanken verneinen.
Selbst wenn das LSG in dem angefochtenen Urteil von der Rechtsmeinung des Senats zur „allgemeinen Eignung wehrdiensteigentümlicher Verhältnisse für die Verursachung einer bestimmten Erkrankung” (hier Colitis ulcerosa) abgewichen wäre, könnte die Beschwerde keinen Erfolg haben, soweit sie auf diese „Divergenz” gestützt ist, weil die angefochtene Entscheidung nicht auf dieser Divergenz zu beruhen braucht. Denn das Urteil des LSG beruht (kumulativ) auch auf der weiteren selbständigen Begründung, daß sich das Darmleiden des Klägers hier nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit auf seine angeblich dienstlich bedingte psychische Belastung habe zurückführen lassen. Für diese Begründung hat der Kläger unter dem Gesichtspunkt Divergenz keinen Zulassungsgrund bezeichnet (vgl Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 1990, Rdz 101).
Auch die erhobenen Verfahrensrügen (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG) greifen nicht durch.
- Hinsichtlich der Feststellung einer signifikanten Erhöhung von Erkrankungen an Colitis ulcerosa wurde kein Beweisantrag gestellt (§ 160 Abs 2 Nr 3 2. Halbsatz SGG). Mithin ist diese Rüge unzulässig.
- Die Verwertung des vom Sachverständigen Prof. Dr. Goebel für das SG erstellten Gutachtens durch das LSG kann nicht zulässig gerügt werden, weil auch die Revision auf diese Rüge nicht gestützt werden könnte. Denn eine Verfahrensrüge muß revisible Rechtsverstöße betreffen (vgl Kummer, aaO, Rdz 192 ff). Die Ablehnung des Prof. Dr. Goebel ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben (Beschlüsse des SG vom 18. November 1993 und des LSG Nordrhein-Westfalen vom 2. Februar 1994). Unter diesen Umständen kann das Vorliegen von Befangenheitsgründen in der Person dieses Sachverständigen in der Revisionsinstanz nicht mehr geltend gemacht werden (§ 202 SGG iVm § 548 ZPO; Meyer-Ladewig, 5. Aufl, Rdz 12c am Ende zu § 118 und Rdz 17 zu § 160 SGG; auch Hartmann bei Baumbach-Lauterbach, ZPO, 53. Aufl, Rdz 13 zu § 46 mwN und Rdz 3 zu § 548). Damit weicht der Senat nicht von den Urteilen des 11. und des 10. Senats aus dem Jahr 1958 (BSGE 6, 256, 262 und BSGE 7, 240, 242) ab. Bereits mit Urteil vom 29. Januar 1959 (SozR Nr 4 zu § 60 SGG) hat der 3. Senat entschieden, daß die Zurückweisung einer Richterablehnung durch ein LSG in der Revisionsinstanz nicht mehr auf ihre Richtigkeit überprüft werden kann (vgl auch § 551 Nrn 2 und 3 ZPO). Wenn aber die fehlerhafte Zurückweisung des einen Richter betreffenden Ablehnungsgesuchs in der Revisionsinstanz nicht mehr gerügt werden kann, muß Entsprechendes auch im Falle der Ablehnung eines Sachverständigen gelten (vgl dazu auch die Verweisungen in § 406 ZPO iVm § 118 Abs 1 SGG; ferner SozR 1500 § 160 Nr 57). Im übrigen betrafen die Entscheidungen des BSG aus dem Jahre 1958 solche Entscheidungen von Landessozialgerichten, welche diese in bereits in der Hauptsache vor ihnen anhängigen Verfahren über angeblich ihnen selbst unterlaufene Verfahrensmängel getroffen hatten (Ablehnung eines Wiedereinsetzungsantrags wegen versäumter Berufungsfrist einerseits, Ablehnung eines nach § 109 SGG gestellten Beweisantrags andererseits) und die nur deswegen unanfechtbar waren, weil alle Beschlüsse des LSG nach § 177 SGG grundsätzlich unanfechtbar sind. Demgegenüber handelt es sich hier um einen Beschluß des LSG, den dieses als Rechtsmittelinstanz in einem noch vor dem SG anhängigen Verfahren getroffen hatte; hier beruht die Unanfechtbarkeit also auf der Erschöpfung der gegen einen Beschluß des SG zulässigen Rechtsbehelfe.
- Soweit die Überschreitung des Rechts zur freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) geltend gemacht wird, ist diese Rüge nach § 160 Abs 2 Nr 3 2. Halbsatz SGG ausgeschlossen. Soweit die Klägerin zugleich eine Verletzung von §§ 411 Abs 3 und 412 ZPO rügt, gilt dasselbe. Denn Anträge auf Erläuterung des schriftlichen Gutachtens bzw auf eine Begutachtung wurden in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG nicht mehr gestellt. Die früher gestellten entsprechenden Anträge hätten zur Begründung eines Rügerechts zu Protokoll wiederholt oder ausdrücklich aufrechterhalten werden müssen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 64; auch SozR 3-1500 § 160 Nr 9).
- Dieses Erfordernis erfüllte allerdings der vom Kläger weiterverfolgte, mit Schriftsatz vom 30. Januar 1995 gestellte Beweisantrag. Die Rüge, das LSG sei diesem Antrag ohne ausreichende Begründung nicht gefolgt, ist aber unbegründet. Dieser Beweisantrag diente nämlich der Klärung des konkreten ursächlichen Zusammenhangs der wehrdienstlichen Verhältnisse mit der geltend gemachten Erkrankung im Einzelfall des Klägers (§ 81 Abs 6 Satz 1 SVG). Hier brauchte sich das LSG nicht gedrängt zu fühlen, den beantragten Beweis zu erheben, da es aufgrund der vorangegangenen Beweisaufnahme und der Anhaltspunkte fehlerfrei davon ausgehen durfte, daß eine Colitis ulcerosa generell zwar auf psychische Einwirkungen zurückgehen k a n n, daß aber die Ursache nach wie vor in der medizinischen Wissenschaft umstritten ist, so daß sich schon deswegen die Wahrscheinlichkeit der konkreten Verursachung nicht bejahen ließ (Fall des § 81 Abs 6 Satz 2 SVG; vgl „Anhaltspunkte” Abschn 106 und das Antwortschreiben des LSG Bl 549 der LSG-Akte).
- Soweit der Kläger eine Beweiswürdigung der Zeugenvernehmung vor dem SG vermißt, fehlt die zur Zulässigkeit dieser Rüge erforderliche Darlegung, inwieweit das Beweisergebnis für die Entscheidung Erheblichkeit haben konnte, bzw inwieweit das LSG zu anderen Ergebnissen hätte gelangen müssen, wenn es die seinerzeit erhobenen Tatsachen zugrunde gelegt hätte (vgl Kummer, aaO, Rdz 233 mwN; BSG SozR 1500 § 160a Nr 36). Es hat im übrigen den Anschein, daß das LSG die damals erhobenen Ermittlungen als zutreffend behandelt und seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat.
Nach den vorstehenden Darlegungen kann die Nichtzulassungsbeschwerde keinen Erfolg haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen