Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. keine Nachholung des Vorverfahrens. fehlende Identität zwischen beklagter Behörde und Widerspruchsbehörde
Orientierungssatz
1. Die beklagte prozessführende Behörde hat dadurch, dass sie der Klage entgegengetreten ist, ein Vorverfahren nicht konkludent nachgeholt, wenn sie mit der zur Entscheidung berufenen Widerspruchsbehörde nicht identisch ist (vgl BSG vom 13.11.2012 - B 1 KR 13/12 R = BSGE 112, 170 = SozR 4-1500 § 54 Nr 27, RdNr 13 f).
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 1. Kammer vom 1.6.2022 - 1 BvR 905/22).
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 78 Abs. 1, § 85 Abs. 2, § 99 Abs. 2, § 114 Abs. 2
Verfahrensgang
SG Frankfurt am Main (Gerichtsbescheid vom 30.03.2017; Aktenzeichen S 34 KR 869/14) |
Hessisches LSG (Urteil vom 26.07.2018; Aktenzeichen L 8 KR 199/17) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Juli 2018 geändert, soweit es die Klage als unzulässig erachtet hat. Die Sache wird insoweit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 26. Juli 2018 als unzulässig verworfen.
Gründe
I. Der bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte Kläger ist mit seinem Begehren auf Kostenübernahme für zahnärztliche Behandlungen - soweit hier streitig - bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Während des Klageverfahrens vor dem SG hat der Kläger einen weiteren Heil- und Kostenplan über 5341,78 Euro eingereicht (2.11.2015) und die Klage um Versorgung mit dieser Behandlung erweitert. Die Beklagte hat diese Versorgung des Klägers abgelehnt (Schriftsatz 30.11.2015). Der Kläger hat die Behandlungen in der Folge teilweise durchführen lassen (Rechnungen vom 21.12.2015 und 16.2.2016 über insgesamt 3453,42 Euro) und die Klage insoweit auf Kostenerstattung umgestellt. Das SG hat die Klage abgewiesen, hinsichtlich der im Klageverfahren erfolgten Ablehnung als unzulässig. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung - unter teilweisem Verweis auf den Gerichtsbescheid des SG vom 30.3.2017 - ua ausgeführt, der Kläger habe keinen Anspruch auf Kostenerstattung nach § 13 Abs 3 SGB V, da es an dem notwendigen Ursachenzusammenhang zwischen der Leistungsablehnung der KK und der Selbstbeschaffung fehle. Hinsichtlich der erst während des Klageverfahrens durchgeführten Behandlungen sei die Klage mangels durchgeführten Vorverfahrens bereits unzulässig (Urteil vom 26.7.2018).
Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im LSG-Urteil. Er rügt ua, das LSG hätte das Gerichtsverfahren zur Durchführung des Vorverfahrens gegen die während des Klageverfahrens erfolgte Ablehnung der Kostenerstattung für die 2015/2016 durchgeführten Zahnbehandlungen aussetzen müssen.
II. Die zulässige Beschwerde des Klägers ist insoweit begründet, als das LSG die Berufung auch gegen den Teil des Klagebegehrens zurückgewiesen hat, den das SG als unzulässig abgewiesen hat. Das LSG-Urteil beruht insoweit auf einem Verfahrensfehler (Revisionszulassungsgrund des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG), den der Kläger entsprechend den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet (dazu 1.) mit der Folge, dass die Sache insoweit zurückzuverweisen ist (dazu 2.). Im Übrigen ist die Beschwerde des Klägers unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 3 SGG zu verwerfen (dazu 3.).
1. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist eine Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. So verhält es sich hier, soweit das LSG die Klage als unzulässig erachtet hat. Es hat hinsichtlich der erstmals im Verfahren vor dem SG vorgelegten Rechnungen verfahrensfehlerhaft das Fehlen eines Vorverfahrens beanstandet, ohne dem Kläger die Möglichkeit zu geben, durch Aussetzung des gerichtlichen Verfahrens (§ 114 Abs 2 SGG analog) ein gebotenes Vorverfahren (§ 78 SGG) nachzuholen (stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 1.7.2014 - B 1 KR 99/13 B - juris RdNr 12 ff; BSG SozR 1500 § 78 Nr 8 mwN; BSG SozR 3-5540 Anl 1 § 10 Nr 1; BSG SozR 3-5868 § 85 Nr 8 S 41; Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 114 Anm 17a dd und 19 aa; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 78 RdNr 3a mwN und Keller, aaO, § 114 RdNr 5). Vor Erhebung der Anfechtungsklage sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen (§ 78 Abs 1 Satz 1 SGG). Der maßgebliche, vom Kläger angegriffene Verwaltungsakt (§ 31 SGB X) lag darin, dass die Beklagte den Antrag des Klägers während des SG-Verfahrens in der Sache abgelehnt hat (30.11.2015). Die Beklagte hat der Klageerweiterung zugestimmt, denn sie hat sich auf die Klageerweiterung rügelos zur Sache eingelassen (§ 99 Abs 2 SGG; vgl zB BSG SozR 4-2500 § 132a Nr 1). Es lag auch keiner der in § 78 Abs 1 Satz 2 SGG genannten Ausnahmefälle vor, die ein obligatorisches Vorverfahren entbehrlich machen. Die Beklagte hat das Vorverfahren auch nicht dadurch konkludent nachgeholt, dass sie der Klage entgegengetreten ist. Die beklagte prozessführende Behörde ist nämlich mit der zur Entscheidung berufenen Widerspruchsbehörde (vgl § 85 Abs 2 Satz 1 Nr 2 SGG) nicht identisch (vgl dazu zB BSGE 112, 170 = SozR 4-1500 § 54 Nr 27, RdNr 13 f). Der Zulässigkeit der Klage steht auch nicht entgegen, dass der Kläger die Klage nach (teilweiser) Selbstbeschaffung der geforderten Leistungen (Rechnungen vom 21.12.2015 und 16.2.2016 über insgesamt 3453,42 Euro) auf Kostenerstattung umgestellt hat (vgl zur Zulässigkeit einer Klageumstellung auf Kostenerstattung zB BSGE 125, 283 = SozR 4-2500 § 137c Nr 10, RdNr 8 mwN).
Das LSG hat insoweit zu Unrecht die Berufung als unbegründet zurückgewiesen und die Abweisung der Klage als unzulässig durch das SG bestätigt, obwohl eine Sachentscheidung im Anschluss an ein nachzuholendes Widerspruchsverfahren hätte ergehen müssen (vgl BSGE 25, 66, 68 = SozR Nr 4 zu § 1538 RVO; BSGE 20, 199, 201 = SozR Nr 11 zu § 79 SGG; BSG SozR 1500 § 160a Nr 55). Es ist nicht gänzlich ausgeschlossen, dass nach Abschluss des Vorverfahrens unter Berücksichtigung weiterer Beweiserhebungen hinsichtlich der Behandlungen durch Dr. P. ein Anspruch auf Erstattung oder ggf Übernahme der Kosten nach Maßgabe des § 13 Abs 3 SGB V in Betracht kommen kann.
2. Nach § 160a Abs 5 SGG kann das BSG in dem Beschluss über die Nichtzulassungsbeschwerde das angefochtene Urteil aufheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverweisen, wenn die Voraussetzungen des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliegen, was - wie ausgeführt - hier der Fall ist. Der Senat macht von dieser Möglichkeit Gebrauch.
3. Im Übrigen entspricht die Begründung der Beschwerde nicht den aus § 160a Abs 2 Satz 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) und des Verfahrensfehlers (§ 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
a) Wer sich - wie hier der Kläger - auf den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze in der Entscheidung des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (stRspr, vgl zB BSG Beschluss vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B - juris RdNr 6) und die Berufungsentscheidung auf dieser Divergenz beruht (vgl BSG Beschluss vom 14.5.2007 - B 1 KR 21/07 B - juris RdNr 9). Erforderlich ist, dass das LSG bewusst einen abweichenden Rechtssatz aufgestellt und nicht etwa lediglich fehlerhaft das Recht angewendet hat (vgl zB BSG Beschluss vom 15.1.2007 - B 1 KR 149/06 B - RdNr 4; BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 26 S 44 f mwN). Der Beschwerdeführer hat dies schlüssig darzulegen (vgl zB BSG Beschluss vom 21.2.2017 - B 1 KR 41/16 B - juris RdNr 7). Dabei dürfen die Anforderungen an den Vortrag des Beschwerdeführers nicht überspannt werden, wenn eine offenkundige Abweichung von Rspr des BSG vorliegt, auf der das Urteil beruht, das LSG jedoch entgegen § 160 Abs 2 Nr 2 SGG die Revision - objektiv willkürlich - nicht zulässt (vgl BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 37 RdNr 6; vgl zum Ganzen Hauck in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 160a Anm 21). Die Beschwerdebegründung wird diesen Anforderungen nicht gerecht. Der Kläger benennt bereits keinen Rechtssatz des LSG, sondern trägt lediglich vor, "die Rechtsauffassung" des LSG sei mit einem (näher benannten) Urteil des BSG unvereinbar.
b) Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 Satz 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 24, 36).
Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss ua einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen und die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten (stRspr; vgl zB BSG Beschluss vom 20.7.2010 - B 1 KR 29/10 B - RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 1.3.2011 - B 1 KR 112/10 B - juris RdNr 3 mwN; BSG Beschluss vom 14.10.2016 - B 1 KR 59/16 B - juris RdNr 5). Hierzu gehört nach ständiger Rspr des BSG die Darlegung, dass ein anwaltlich vertretener Beteiligter - wie hier der Kläger - einen Beweisantrag bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung gestellt und noch zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat (vgl dazu BSG Beschluss vom 14.6.2005 - B 1 KR 38/04 B - juris RdNr 5; BSG Beschluss vom 10.7.2019 - B 1 KR 52/18 B - juris RdNr 8 mwN). Der Tatsacheninstanz soll dadurch nämlich vor Augen geführt werden, dass der Betroffene die gerichtliche Sachaufklärungspflicht noch nicht als erfüllt ansieht. Der Beweisantrag hat Warnfunktion (vgl BSG SozR 1500 § 160 Nr 67; BSG Beschluss vom 10.4.2006 - B 1 KR 47/05 B - juris RdNr 9 mwN).
Der Vortrag des Klägers entspricht nicht diesen Anforderungen. Er benennt schon keinen Beweisantrag, den er bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung zumindest hilfsweise aufrechterhalten hat; vielmehr weist er lediglich auf schriftsätzlich gestellte Beweisanträge hin. Außerdem enthält sein Vortrag keine Ausführungen zur Rechtsauffassung des LSG, auf deren Grundlage bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen.
4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
5. Die Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 13598028 |
NZS 2020, 238 |
info-also 2020, 138 |