Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensmangel. Verwerfung der Berufung als unzulässig. Überprüfung der Vollmacht eines Rechtsanwalts von Amts wegen. ernstliche Zweifel an der Bevollmächtigung
Leitsatz (amtlich)
Tritt im sozialgerichtlichen Verfahren als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auf, ist eine Prüfung seiner Vollmacht von Amts wegen nicht zulässig, solange nicht sein Verhalten ernstliche Zweifel an seiner Bevollmächtigung weckt.
Normenkette
SGG § 160a Abs. 1 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3, § 73 Abs. 6 Sätze 1, 4 Fassung: 2011-12-22, S. 5 Fassung: 2011-12-22
Verfahrensgang
SG Cottbus (Urteil vom 08.09.2014; Aktenzeichen S 10 AS 2572/14 WA) |
LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 05.06.2015; Aktenzeichen L 5 AS 2957/14) |
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 5. Juni 2015 aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I. Mit Beschluss vom 5.6.2015 hat das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) die Berufung des Klägers gegen ein Urteil des Sozialgerichts (SG) Cottbus als unzulässig verworfen und dem Beschwerdeführer zu 2) Verschuldenskosten in Höhe von 225 Euro auferlegt, da anzunehmen sei, dass der als Prozessbevollmächtigte des Klägers auftretende Beschwerdeführer zu 2) zu ihrer Einlegung nicht bevollmächtigt gewesen sei. Das sei zweifelhaft, weil die Berufung dem Kläger keine Vorteile bringe und vor einem anderen Senat des LSG zwei andere Kläger erklärt hätten, über von dem Beschwerdeführer zu 2) in ihrem Namen geführte Berufungsverfahren erst durch die Ladung erfahren zu haben; sie hätten weder einen Auftrag noch eine Vollmacht für das jeweilige Verfahren erteilt. In dieser Lage reiche die Berufung auf eine dem Beschwerdeführer zu 2) erteilte Generalvollmacht nicht aus. Bestehe der Verdacht, dass das Betreiben des Verfahrens nicht im Interesse des Vertretenen liege, gebiete die prozessuale Fürsorgepflicht die Anforderung einer auf das konkrete gerichtliche Verfahren bezogenen Vollmacht, die der Beschwerdeführer zu 2) nicht vorgelegt habe.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG macht der Kläger einen Verfahrensfehler sowie die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend; gemäß § 73 Abs 6 Satz 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hätte das LSG einen Mangel der Vollmacht nicht prüfen dürfen, abgesehen davon, dass er nicht vorliege. Zur Begründung der Beschwerde des Beschwerdeführers zu 2) enthält das Beschwerdevorbringen keine gesonderten Ausführungen.
Der Beklagte äußert Zweifel, ob die von dem Beschwerdeführer zu 2) für den Kläger erhobene Beschwerde wirksam erhoben sei, da Zweifel an dessen Bevollmächtigung bestünden. Im Übrigen liege der gerügte Verfahrensfehler nicht vor.
II. Auf die Beschwerde des Klägers ist der Beschluss des LSG vom 5.6.2015 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Kläger rügt zu Recht, dass das LSG seine Berufung wegen der fehlenden Vorlage einer das Berufungsverfahren konkret bezeichnenden Prozessvollmacht als unzulässig verworfen hat.
1. Die Beschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet (§ 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG).
a) Der Zulässigkeit der Beschwerde des Klägers steht trotz der vom Beklagten geäußerten Bedenken ein mangelnder Nachweis der ordnungsgemäßen Bevollmächtigung des Beschwerdeführers zu 2) nicht entgegen. Wie der Beklagte nicht in Zweifel zieht, hat der Kläger den Beschwerdeführer zu 2) unter dem 26.1.2012 bevollmächtigt, ihn "wegen sämtlicher in Betracht kommender Ansprüche" unter Einschluss des gerichtlichen Verfahrens "in sämtlichen Instanzen" und auch in Bezug auf "zukünftige" Streitigkeiten dem Beklagten gegenüber zu vertreten. Diese Erklärung lässt im Sinne der an eine ordnungsgemäße Vollmacht nach § 73 Abs 6 Satz 1 SGG zu stellenden Anforderungen keinen Zweifel daran, wer bevollmächtigt ist, wer bevollmächtigt hat und wozu bevollmächtigt worden ist (vgl zur entsprechenden Bestimmung des § 62 Abs 3 Satz 1 Finanzgerichtsordnung ≪FGO≫ BFH Urteil vom 17.7.1984 - VIII R 20/82 - BFHE 141, 463, 465), nämlich hier der Beschwerdeführer zu 2) ua zur Einlegung von Rechtsmitteln in Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Kläger und dem Beklagten, und damit zur Einlegung der Beschwerde auch hier.
Anlass dafür, diese Vollmacht entgegen der ständigen Spruchpraxis der obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Wirksamkeit von Generalvollmachten als Prozessvollmacht (vgl etwa BSG Beschluss vom 26.1.1998 - B 2 U 299/97 B - juris, RdNr 5; BVerwG Urteil vom 16.7.1998 - 7 C 36/97 - BVerwGE 107, 156, 157 f = Buchholz 428 § 1 VermG Nr 158; BFH Beschluss vom 7.5.2014 - II B 117/13 - juris, RdNr 6) ausnahmsweise nicht als beachtlich anzusehen und von dem Beschwerdeführer zu 2) daher zusätzlich die Vorlage einer weiteren, auf das vorliegende Beschwerdeverfahren konkret bezogenen Vollmacht zu verlangen, besteht nicht. Zwar mögen Fälle denkbar sein, in denen Zweifel am ordnungsgemäßen Nachweis einer Prozessvollmacht durch Generalvollmacht angebracht sein können (vgl etwa BSG Beschluss vom 11.3.1985 - 7 RAr 117/84 - SozR 1500 § 166 Nr 12 S 14, 18). Unter Berücksichtigung ihrer weit reichenden Auswirkungen für den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelinstanzen wird die Annahme, dass eine als Prozesshandlung (vgl die Nachweise bei Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 73 RdNr 61) erteilte Prozessvollmacht entgegen ihres äußeren Anscheins überhaupt nicht oder nicht mehr gelten soll, unter Beachtung des Gebots effektiven Rechtsschutzes gemäß Art 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) und des Rechtsstaatsprinzips allerdings nur unter außerordentlich gelagerten Umständen anzunehmen sein können.
Schon im Ansatz außer Betracht bleiben müssen dabei die mutmaßlichen Erfolgsaussichten eines Verfahrens oder - wie das LSG in der angefochtenen Entscheidung erwogen hat - die Bewertung der mit ihm verfolgten Interessen. Das Rechtsstaatsprinzip verbietet es dem Richter, das Verfahrensrecht so auszulegen und anzuwenden, dass den Beteiligten der Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsbehelfs- und Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert wird (vgl BVerfGE 77, 275, 284 mwN). Das schließt die Annahme aus, dass eine Generalvollmacht als unbeachtlich anzusehen sein könnte, weil das konkrete Verfahren dem Vertretenen nach Auffassung des angerufenen Gerichts keinen rechtsschutzwürdigen Vorteil bringt. Liegt es so, kann das Begehren mangels Rechtsschutzbedürfnis als unzulässig zu verwerfen sein (vgl nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, vor § 51 RdNr 16 ff mwN; Böttiger in Breitkreuz/Fichte, SGG Kommentar, 2. Aufl 2014, § 54 RdNr 27). Mit grundlegenden prozessualen Verfahrensgarantien unvereinbar ist es dagegen, wegen der tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteilslosigkeit eines Rechtsschutzbegehrens bereits die Geltung der einem Prozessbevollmächtigten erteilten Prozessvollmacht in Zweifel zu ziehen, solange dafür keine sonstigen Umstände sprechen.
Raum für die Berücksichtigung solcher Zweifel ist seit der Neufassung des § 73 SGG durch das Gesetz zur Neuregelung des Rechtsberatungsrechts (im Folgenden: RBerNG) vom 12.12.2007 (BGBl I 2840) prozessual allerdings nur noch, wenn sie entweder von dem anderen Beteiligten gestützt auf § 73 Abs 6 Satz 4 SGG substantiiert in das Verfahren eingeführt worden sind oder Anlass für Zweifel von Amts wegen nach § 73 Abs 6 Satz 5 SGG besteht (dazu unter b), woran es hier fehlt. Denn weder hat der erkennende Senat unter Berücksichtigung der bei ihm geführten Verfahren von Amts wegen selbst eigene Erkenntnisse, die darauf hindeuten könnten, dass der Beschwerdeführer zu 2) in einer größeren Zahl von Fällen trotz der Beendigung des Mandatsverhältnisses gestützt auf früher erteilte Generalvollmachten Rechtsbehelfe oder -mittel eingelegt hat, noch sind solche Umstände von dem Beklagten substantiiert dargetan worden. Zwar hat er unter Angabe des Aktenzeichens eine größere Zahl von beim SG Cottbus anhängigen oder anhängig gewesenen Verfahren benannt, in denen teilweise erklärt worden sei, dass die Klagen oder andere Verfahren nicht mit dem Willen der Kläger in Einklang stünden. Zudem seien wiederholt Klagen von Klägern persönlich zurückgenommen worden. Hinreichend substantiiert wäre das allerdings nur, wenn der Senat aufgrund dessen ohne eigene Nachforschungen unmittelbar beurteilen könnte, ob der Vorwurf einer missbräuchlichen Berufung auf Generalvollmachten durch den Beschwerdeführer zu 2) berechtigt erscheint, was mangels näherer Angaben nicht möglich ist.
b) Die Beschwerde ist auch in der Sache begründet. Da der Mangel der Vollmacht des Beschwerdeführers zu 2) in dem Verfahren vor dem LSG von dem Beklagten nicht gerügt worden war, durfte das LSG ihn zur Vorlage einer konkret auf das Berufungsverfahren bezogenen Prozessvollmacht nur auffordern und anschließend die Berufung des Klägers unter Hinweis auf die fehlende Vorlage als unzulässig verwerfen, wenn iS von § 73 Abs 6 Satz 5 SGG von Amts wegen ernstliche Zweifel am ordnungsgemäßen Nachweis der Prozessvollmacht bestanden haben, was nach den Feststellungen des LSG nicht belegt ist.
Nach § 73 Abs 6 Satz 1 SGG muss derjenige, der als Prozessvertreter eines anderen auftritt, seine Bevollmächtigung durch schriftliche Vollmacht nachweisen. Fehlt es daran, so hat das Gericht den Mangel der Vollmacht gemäß § 73 Abs 6 Satz 5 SGG (hier idF des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22.12.2011, BGBl I 3057) von Amts wegen zu berücksichtigen, wenn nicht als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftritt. Diese auf das RBerNG zurückgehende Vorschrift (ursprünglich § 73 Abs 6 Satz 4 SGG idF des RBerNG) zielt nach den Materialien darauf, in Übereinstimmung mit den anderen Verfahrensordnungen künftig auch im sozialgerichtlichen Verfahren den Mangel der Vollmacht nicht mehr von Amts wegen zu überprüfen, wenn als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftritt (vgl BT-Drucks 16/3655, S 96, ebenso dort S 90 zur neugefassten Vorschrift des § 80 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫).
Danach mag die Regelung die Überprüfung der Vollmacht eines Rechtsanwalts von Amts wegen zwar nicht generell ausschließen (in diesem Sinne etwa BGH Urteil vom 5.4.2001 - IX ZR 309/00 - NJW 2001, 2095, 2096 zu der § 73 Abs 6 Satz 5 SGG entsprechenden Fassung des § 88 Abs 2 ZPO; BFH Beschluss vom 11.11.2009 - I B 152/09 - BFH/NV 2010, 449, 450 RdNr 5 f zu § 62 Abs 6 Satz 4 FGO; BVerwG Urteil vom 27.6.2011 - 8 A 1/10 - juris, RdNr 16; enger dagegen BAG Beschluss vom 18.3.2015 - 7 ABR 6/13 - juris, RdNr 14). Jedenfalls ist mit dieser Zielrichtung die Prüfung der Vollmacht eines Rechtsanwalts ohne Rüge der Gegenseite nur vereinbar, wenn sein Verhalten ernstliche Zweifel daran aufkommen lässt, dass er über die notwendige Vollmacht verfügt (ebenso BGH Urteil vom 5.4.2001, aaO: Weckt ein Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigter selbst ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit seiner eigenen Bevollmächtigung, darf das Gericht diese auch von Amts wegen prüfen; ähnlich BVerwG Urteil vom 27.6.2011, aaO: Keine ordnungsgemäße Bezeichnung des angeblich vertretenen Klägers).
Solche Anhaltspunkte lassen sich den Feststellungen der angegriffenen Entscheidung nicht hinreichend entnehmen. Schon im Ansatz ohne Bedeutung ist wie dargelegt insoweit, ob die Einlegung der Berufung Vorteile für den Kläger hat oder nicht. Nicht ausreichend ist ohne weitere Feststellungen ansonsten auch, dass die Kläger zweier Verfahren beim 29. Senat des LSG in einer Sitzung am 5.5.2015 übereinstimmend angegeben hätten, von den in ihrem Namen geführten Berufungsverfahren erst durch die ihnen zugestellten Ladungen erfahren zu haben. Zwar können Zweifel an der fortdauernden Gültigkeit der einem Rechtsanwalt früher erteilten Generalvollmacht bestehen, wenn feststeht, dass er in einer größeren Zahl von Fällen unter Rückgriff auf solche Generalvollmachten Rechtsbehelfe oder -mittel eingelegt hat, obwohl das Mandatsverhältnis von den Mandanten bereits beendet worden war. Kein Anlass zu grundsätzlichen Zweifeln können aber Fehler begründen, die einem schlichten Büroversehen zuzuordnen sind. Nicht ausreichend ist vor diesem Hintergrund der Hinweis des LSG auf die Angaben von zwei Klägern und ohne Aufklärung der näheren Umstände, ohne dass es auf die mit der Beschwerde weiter geltend gemachte Frage ankommt, ob dieser Sachverhalt prozessual ordnungsgemäß in das Verfahren eingeführt worden ist. Das gilt hier in besonderer Weise zusätzlich deshalb, weil die dem Beschwerdeführer zu 2) erteilte Generalvollmacht und das im Streit stehende Berufungsverfahren um die Rücknahme einer Untätigkeitsklage wegen eines Überprüfungsantrags nach § 44 Abs 1 Satz 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch insoweit aufeinander bezogen sind, als die Vollmacht an demselben Tag erteilt worden ist, an dem der Kläger beim Beklagten den Überprüfungsantrag gestellt hat, weshalb zusätzlich begründungsbedürftig ist, dass die Vollmacht nicht zur Einlegung der Berufung berechtigen sollte.
2. Mit der Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und der Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung auf die Beschwerde des Klägers ist auch die den Beschwerdeführer zu 2) belastende Kostenentscheidung gegenstandslos, weshalb keiner Entscheidung bedarf, ob die von ihm persönlich erhobene Beschwerde zulässig und begründet ist.
3. Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen