Entscheidungsstichwort (Thema)
Einreichung der sozialgerichtlichen Klage bei der Polizeibehörde
Leitsatz (amtlich)
Aus § 91 SGG ergibt sich keine Verpflichtung der Polizeibehörden, sozialgerichtliche Klagen entgegenzunehmen.
Normenkette
SGG § 91 Abs. 1; SGB X § 1 Abs. 2; PolAufgG BY Art. 2 Abs. 1, 4
Verfahrensgang
SG Regensburg (Urteil vom 27.02.1996; Aktenzeichen S 5 So 11/95) |
Bayerisches LSG (Urteil vom 16.10.1997; Aktenzeichen L 14 So 2/96) |
Tatbestand
Der Kläger, ein Rechtsanwalt, wollte am 28. Februar 1994 gegen 23.15 Uhr bei der Polizeiinspektion Amberg eine an das Sozialgericht (SG) Regensburg gerichtete Klage einreichen, deren Frist um Mitternacht ablief. Er berief sich dazu auf § 91 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Da der diensthabende Beamte die Entgegennahme ablehnte und das Polizeipräsidium Niederbayern/Oberpfalz den dagegen eingelegten Widerspruch mit Schreiben vom 14. April 1994 für offensichtlich unzulässig hielt, erhob er Klage zum Verwaltungsgericht Regensburg, das den Rechtsstreit an das SG verwies.
Die Klage auf Feststellung, daß die Verweigerung der Entgegennahme und Weiterleitung der Klageschrift durch die Polizei rechtswidrig gewesen sei, ist in den Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das SG hat darauf abgehoben, daß unter den örtlichen Gegebenheiten in Amberg die Möglichkeit bestehe, Schriftsätze in den Nachtbriefkasten des Amtsgerichts oder in andere Behördenbriefkästen einzuwerfen, und daß im Hinblick darauf eine konkrete Wiederholungsgefahr und damit ein Feststellungsinteresse zu verneinen sei. Nach Auffassung des Landessozialgerichts (LSG) umfaßt der Behördenbegriff des § 91 SGG richtigerweise nur Behörden, die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit nach dem Sozialgesetzbuch ausüben. Auch müsse die erleichterte Klagemöglichkeit nach dem Schutzzweck des § 91 SGG auf rechtsunkundige Laien beschränkt bleiben.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde, mit der der Kläger die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache begehrt, ist unbegründet. Auf die in der Beschwerdebegründung aufgeworfenen Rechtsfragen zu den Voraussetzungen und dem Geltungsbereich des § 91 SGG kommt es für die Entscheidung nicht an; die dahinter stehende Frage, ob aus § 91 SGG eine Verpflichtung der Polizeibehörden zur Entgegennahme sozialgerichtlicher Klagen herzuleiten ist, ist zu verneinen, ohne daß es dazu einer Entscheidung in einem Revisionsverfahren bedarf.
§ 91 Abs 1 SGG bestimmt, daß die Frist für die Erhebung der Klage auch dann als gewahrt gilt, wenn die Klageschrift innerhalb der Frist statt bei dem zuständigen Gericht der Sozialgerichtsbarkeit bei einer anderen inländischen Behörde oder bei einem Versicherungsträger oder bei einer deutschen Konsularbehörde oder, soweit es sich um die Versicherung von Seeleuten handelt, auch bei einem deutschen Seemannsamt im Ausland eingegangen ist. Nach § 91 Abs 2 SGG ist die Klageschrift in einem solchen Fall unverzüglich an das zuständige Gericht der Sozialgerichtsbarkeit abzugeben. Soweit das Gesetz für die Wahrung der Klagefrist den Eingang bei einer "anderen inländischen Behörde" ausreichen läßt, ist damit jede Stelle gemeint, die im Geltungsbereich des SGG Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnimmt (zum Behördenbegriff vgl § 1 Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch). Für die vom LSG diskutierte Beschränkung auf Behörden, die auf dem Gebiet des Sozialrechts tätig sind, gibt der Gesetzeswortlaut nichts her. Mangels eines entsprechenden Vorbehalts, aber auch im Hinblick auf praktische Abgrenzungsschwierigkeiten, kann der Anwendungsbereich der Bestimmung auch nicht auf rechtsunkundige Kläger begrenzt werden, obwohl es diese Personengruppe ist, die durch die Regelung begünstigt und der die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes erleichtert werden soll. Die in § 91 Abs 1 SGG vorgesehenen Rechtswirkungen können schließlich nicht, wie das SG gemeint hat, davon abhängig gemacht werden, ob nach den jeweiligen örtlichen Verhältnissen noch andere Möglichkeiten der fristwahrenden Klageerhebung gegeben sind oder nicht.
Entgegen der Ansicht des Klägers und einer verbreiteten Meinung in der Kommentarliteratur (Hommel in: Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand: 1997, § 91 SGG Anm 4; Bley in: SGB-SozVers-Gesamtkommentar, Stand: 1994, § 91 SGG Anm 9a; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl 1998, § 91 RdNr 5; Hennig/Danckwerts/ König, SGG, Stand: 1993, § 91 Anm 4.1) folgt daraus, daß die fristwahrende Wirkung durch Einreichung der Klage bei jeder inländischen Behörde erreicht werden kann, jedoch nicht, daß jede inländische Behörde auch zur Entgegennahme sozialgerichtlicher Klagen verpflichtet ist. Eine derartige Verpflichtung ist weder ausdrücklich angeordnet noch läßt sie sich aus dem Zweck und der Entstehungsgeschichte der Vorschrift ableiten.
Die sachliche Zuständigkeit einer Verwaltungsbehörde und die damit verbundene Pflicht zur Vornahme von Amtshandlungen beschränkt sich in der Regel auf den Tätigkeitsbereich, für den die Behörde errichtet ist. Welche Aufgaben und Befugnisse ihr übertragen sind und welche Pflichten sich daraus im Verhältnis zum Bürger ergeben, wird durch die für das betreffende Sachgebiet maßgebenden Rechtsvorschriften festgelegt. Für die Polizeibehörden sind dies die Polizeigesetze der Länder. Das hier einschlägige Bayerische Polizeiaufgabengesetz (PAG) idF der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVBl S 397) bestimmt die Aufgaben der Polizei in inhaltlicher Übereinstimmung mit den Polizeigesetzen anderer Bundesländer dahin, daß sie die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren hat (Art 2 Abs 1 PAG). Darüber hinaus obliegt ihr gemäß Art 2 Abs 4 PAG die Wahrnehmung derjenigen Aufgaben, die ihr durch andere Rechtsvorschriften übertragen sind. Eine Aufgabenzuweisung iS der zuletzt genannten Bestimmung ist durch § 91 SGG nicht erfolgt. Dazu wäre erforderlich, daß den Polizeibehörden die Verpflichtung zur Entgegennahme und Weiterleitung von Klagen ausdrücklich auferlegt worden wäre, wie dies bei der Übertragung von Aufgaben aus anderen Sachbereichen geschehen ist (vgl etwa § 30 Abs 2 Gewerbeordnung; § 53 Ordnungswidrigkeitengesetz; §§ 158, 159, 161, 163 Strafprozeßordnung; § 11 Abs 2 Verwaltungszustellungsgesetz). Denn die sachliche Zuständigkeit für das begehrte Verwaltungshandeln muß schon aus Gründen der Rechtsklarheit und der Erkennbarkeit für den Bürger und die Behörde selbst eindeutig geregelt sein. Eine solche Regelung ist hier nicht getroffen worden. § 91 Abs 1 SGG begründet keine von § 90 SGG abweichende Zuständigkeit für die Klageerhebung, sondern fingiert lediglich die Einhaltung der Klagefrist für den Fall, daß die Klage bei einer Behörde eingeht, dh von ihr entgegengenommen wird. Während § 91 Abs 2 SGG für diesen Fall die Behörde verpflichtet, die Klageschrift unverzüglich an das zuständige SG weiterzuleiten, erwähnt Absatz 1 im Gegensatz dazu eine Pflicht zur Entgegennahme der Klage gerade nicht.
Der Einwand, die Bestimmung setze eine derartige Verpflichtung gleichwohl voraus, weil sie andernfalls ihren Zweck nicht erfüllen könne, ist nicht stichhaltig. Die Regelung des § 91 SGG, die auf den früheren § 129 Abs 2 und 3 Reichsversicherungsordnung zurückgeht und keine Entsprechung in anderen Prozeßordnungen hat, soll dem Umstand Rechnung tragen, daß die um sozialgerichtlichen Rechtsschutz nachsuchenden Personen oft in besonderem Maße (verfahrens-)rechtlich ungewandt und mit der Behördenzuständigkeit wenig vertraut sind. Der Gesetzgeber wollte den Rechtsuchenden die in der Vergangenheit vielfach genutzte Möglichkeit erhalten, die Klageschrift statt beim zuständigen SG bei der Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen hat, oder beim örtlichen Versicherungsamt oder einer anderen Sozialbehörde einzureichen (vgl die Begründung zum Regierungsentwurf einer Sozialgerichtsordnung, BT-Drucks I/4357 S 27 zu § 39). Diese Zielsetzung mag den Schluß rechtfertigen, daß staatliche Stellen, denen das Gesetz Zuständigkeiten im Vollzug der Sozialgesetzgebung und bei der Verwirklichung der sozialen Rechte der Bürger überträgt, im Einzelfall kraft Sachzusammenhangs auch gehalten sein können, eine sozialgerichtliche Klage entgegenzunehmen, die ein Betroffener bei ihnen einreichen will. Daß und warum mit der Fiktion der Fristwahrung zugleich eine Inpflichtnahme auch solcher Behörden verbunden sein sollte, deren Tätigkeitsfeld keinerlei Berührungspunkte mit sozialrechtlichen Angelegenheiten aufweist, ist indessen nicht ersichtlich. Der mit der Regelung bezweckte Schutz des in Rechtsangelegenheiten unerfahrenen Bürgers erfordert sie nicht; denn es erscheint fernliegend, daß dieser von sich aus auf den Gedanken kommen könnte, seine Klage bei einer Polizeidienststelle oder einer anderen absolut unzuständigen Behörde einzureichen. Geschähe dies dennoch, wären seine prozessualen Rechte durch die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ausreichend gewahrt. Soll die Möglichkeit der Klageeinreichung bei einer Behörde nicht auf einen konkreten Ausnahmefall beschränkt bleiben, sondern wie hier von einem mit der Besorgung fremder Rechtsangelegenheiten befaßten Anwalt planmäßig genutzt werden, ist für eine Berufung auf den Schutzzweck des § 91 SGG von vornherein kein Raum (vgl zu diesem Gesichtspunkt bereits: Reichsversicherungsamt, Breithaupt 1923, 190, wo ein Anspruch auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsfrist mit der Erwägung verneint wurde, der Prozeßbevollmächtigten des Klägers sei die Weigerung der Polizeibehörde, Rechtsmittelschriften entgegenzunehmen, bekannt gewesen).
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 542819 |
DStR 2000, 171 |