Entscheidungsstichwort (Thema)
Anhörungsrüge. Einlegung. Beginn der Zwei-Wochen-Frist. Verfahrensmängel der Vorinstanz. Gegenstand der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde. Vortrag des Prozessbevollmächtigten
Leitsatz (redaktionell)
1. Nach der Rechtsprechung des BGH ist für den Beginn der Zwei-Wochen-Frist für die Einlegung einer Anhörungsrüge allein der Zeitpunkt maßgeblich, an dem der Prozessbevollmächtigte, der den Beteiligten im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vertrat, von dem Umstand einer etwaigen Gehörsverletzung Kenntnis erlangte; dessen Wissen muss sich der Beteiligte zurechnen lassen.
2. Eine Anhörungsrüge kann nicht darauf gestützt werden, das angerufene Gericht habe Verfahrensmängel der Vorinstanz in seinem Beschluss unzutreffend beschieden.
3. Gegenstand der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde kann ausschließlich der Vortrag des Prozessbevollmächtigten in der von ihm verantwortlich vorgelegten Beschwerdebegründung sein.
Normenkette
SGG §§ 67, 73 Abs. 4, 6 S. 7, § 73a Abs. 1 S. 1, § 178a Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 S. 1, Abs. 4 S. 1; ZPO § 85 Abs. 2, §§ 114, 121; BGB § 166 Abs. 1; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für ein Verfahren der Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Senats vom 10. November 2022 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Der Senat hat der Klägerin für ein Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 9.11.2021 Prozesskostenhilfe (PKH) bewilligt und einen Rechtsanwalt ihrer Wahl beigeordnet (Beschluss vom 20.4.2022). Die daraufhin von dem Rechtsanwalt eingelegte und begründete Beschwerde hat der Senat als teils unzulässig und im Übrigen als unbegründet zurückgewiesen (Beschluss vom 10.11.2022). Dieser Beschluss ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 20.12.2022 zugestellt worden. Mit Schreiben vom 27.2.2023, das als Telefax am 1.3.2023 beim BSG eingegangen ist, hat die Klägerin die Bewilligung von PKH und die Beiordnung eines später zu benennenden Rechtsanwalts für eine noch einzureichende Anhörungsrüge gegen den Beschluss vom 10.11.2022 beantragt.
Die Klägerin trägt vor, sie habe sich vom 5.1.2023 bis zum 16.2.2023 wegen einer Nachlassangelegenheit in Ungarn aufgehalten. Von der möglichen Gehörsverletzung durch den Senatsbeschluss vom 10.11.2022 habe sie erstmals am 24.2.2023 Kenntnis erlangt, da ihr der Beschluss von dem beigeordneten Rechtsanwalt erst am 16.1.2023 übersandt worden sei. Dessen frühere Kenntnis sei ihr nicht zuzurechnen. Die Gehörsverletzung ergebe sich daraus, dass der Senat in seinem Beschluss einige Verfahrensmängel des LSG, die sie bereits in ihrem PKH-Antrag vom 14.12.2021 vorgebracht habe und die dadurch zur Kenntnis des Senats gelangt seien, übergangen bzw "nicht unter Kontrolle" gebracht habe.
II
Der Antrag auf Bewilligung von PKH für ein Verfahren der Anhörungsrüge ist abzulehnen. Die von der Klägerin beabsichtigte Rechtsverfolgung hat keine hinreichende Aussicht auf Erfolg (vgl § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO).
Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, ob eine künftig von einem zugelassenen Prozessbevollmächtigten erhobene Anhörungsrüge bereits deshalb als unzulässig zu verwerfen wäre, weil sie nicht innerhalb der Frist von zwei Wochen nach Kenntnis von der angeblichen Gehörsverletzung eingelegt worden ist (vgl § 178a Abs 2 Satz 1, Abs 4 Satz 1 SGG) und Wiedereinsetzung in die versäumte Frist nicht gewährt werden kann. Nach der Rechtsprechung des BGH ist für den Beginn der Zwei-Wochen-Frist allein der Zeitpunkt maßgeblich, an dem der Prozessbevollmächtigte, der den Beteiligten im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren vertrat, von dem Umstand einer etwaigen Gehörsverletzung Kenntnis erlangte; dessen Wissen muss sich der Beteiligte zurechnen lassen (vgl den Grundsatz in § 166 Abs 1 BGB sowie BGH Beschluss vom 11.5.2006 - IX ZR 171/03 - juris RdNr 2; BGH Beschluss vom 16.11.2016 - VII ZR 277/14 - juris RdNr 5 f). Demnach hätte der Antrag auf PKH für ein Anhörungsrügeverfahren von der Klägerin bis spätestens am 3.1.2023 eingereicht werden müssen. Sofern der vormalige Prozessbevollmächtigte es unterlassen haben sollte, der Klägerin den Beschluss vom 10.11.2022 unverzüglich nach Zustellung zur Kenntnis zu bringen und sie auf ernsthaft in Betracht kommende Rechtsbehelfe und die dafür maßgeblichen Fristen hinzuweisen, wäre dies im Rahmen der Regelung zur Wiedereinsetzung (vgl § 67 SGG) ebenfalls der Klägerin zuzurechnen (s auch § 73 Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO). Anhaltspunkte dafür, dass der Prozessbevollmächtigte das Mandat für das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde bereits zuvor förmlich niedergelegt hätte, bestehen nach den Klarstellungen im Schreiben der Klägerin vom 30.3.2023 nicht.
Ungeachtet dessen hat eine Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Senats vom 10.11.2022 schon deshalb keine Aussicht auf Erfolg, weil ein Prozessbevollmächtigter nicht aufzeigen könnte, dass der Senat den Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör in entscheidungserheblicher Weise verletzt hat (vgl § 178a Abs 1 Satz 1 Nr 2 SGG). Die Klägerin übersieht, dass eine Anhörungsrüge gegen den Beschluss des Senats nicht darauf gestützt werden kann, der Senat habe Verfahrensmängel des LSG, die in den Schutzbereich des Art 103 Abs 1 GG fallen, in seinem Beschluss unzutreffend beschieden (vgl BSG Beschluss vom 5.4.2022 - B 2 U 33/21 C - juris RdNr 4). Eine Anhörungsrüge könnte vielmehr nur erfolgreich sein, wenn vorgebracht werden könnte, der Senat selbst habe ihren Anspruch auf rechtliches Gehör im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren in entscheidungserheblicher Weise verletzt, weil er hierfür wesentliches Vorbringen nicht zur Kenntnis genommen oder nicht in Erwägung gezogen hat (vgl BSG Beschluss vom 7.4.2005 - B 7a AL 38/05 B - SozR 4-1500 § 178a Nr 2 RdNr 8). Das wird aus dem Vortrag der Klägerin im Schreiben vom 27.2.2023 jedoch nicht ersichtlich. Soweit sie auf Umstände abstellt, die sie selbst in ihrem PKH-Antrag vom 14.12.2021 vorgetragen habe und die deshalb zur Kenntnis des Senats gelangt seien, verkennt sie, dass Gegenstand der Entscheidung des Senats über ihre Nichtzulassungsbeschwerde ausschließlich der Vortrag ihres Prozessbevollmächtigten (vgl § 73 Abs 4 SGG) in der von ihm verantwortlich vorgelegten Beschwerdebegründung vom 26.7.2022 sein konnte. Ihre Ausführungen dazu, dass der Inhalt ihrer Erklärung im Schriftsatz vom 26.10.2021 unzutreffend als klares, eindeutiges und vorbehaltloses Einverständnis mit einer Entscheidung des LSG ohne mündliche Verhandlung gedeutet worden sei, zielen darauf, dass nach Ansicht der Klägerin die rechtliche Bewertung des Senats im Beschluss vom 10.11.2022 (dort RdNr 10 ff) unzutreffend sei; eine Gehörsverletzung ergibt sich daraus nicht.
Da nach alledem kein Anspruch auf Bewilligung von PKH für ein Anhörungsrügeverfahren besteht, entfällt zugleich die Möglichkeit der Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der PKH (vgl § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
Fundstellen
Dokument-Index HI15718933 |