Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 04.06.1962) |
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 4. Juni 1962 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Der Beklagte hat gegen das vorbezeichnete, am 26. Juli 1962 zugestellte Urteil form- und fristgerecht Revision eingelegt. Da das Landessozialgericht (LSG) die Revision nicht zugelassen hat, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gerügt wird (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG–; BSG 1, 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung oder des Todes mit einer Schädigung i. S. des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG).
Der Beklagte rügt eine Verletzung der §§ 143, 148 Nr. 3 SGG mit dem Vorbringen, das LSG habe zu Unrecht in der Sache selbst entschieden, statt die Berufung des Klägers nach § 148 Nr. 3 SGG als unzulässig zu verwerfen. Zwar sei die Berufung des Klägers zunächst zulässig gewesen, aber durch eine freiwillige Beschränkung des Berufungsantrags auf die Gewährung einer Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. unzulässig geworden. Ausweislich der Sitzungsniederschrift des LSG vom 4. Juni 1962 habe der Kläger erklärt, „daß er auf die Belehrung, daß ein berufliches Betroffensein nur eine Erhöhung der Erwerbsminderung um 10 v. H. rechtfertige, seinen Antrag dahin ermäßige, daß er Versorgungsrente auf der Grundlage einer Erwerbsminderung um 40 v. H. beanspruche”. Hierbei habe das Berufungsgericht auf den Kläger keinen Zwang ausgeübt, vielmehr habe es ihm freigestanden zu erklären, daß er auch nach Belehrung auf seinem bisherigen Antrag beharre; damit sei die Unzulässigkeit der Berufung eingetreten. Diese Rüge greift jedoch nicht durch.
Der Kläger hat im Berufungsverfahren mit Schriftsatz vom. 30. Oktober 1961 beantragt, ihm unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts und der angefochtenen Bescheide vom 1. Oktober 1960 an wegen besonderer beruflicher Betroffenheit i. S. des § 30, Abs. 2 BVG „Versorgungsgebührnisse aus einer MdE um 50 v.H.” zuzusprechen. Nach § 148 Nr. 3 SGG ist die Berufung in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung nicht zulässig, soweit sie den, Grad der MdE betrifft, es sei denn, daß die Schwerbeschädigteneigenschaft oder die Gewährung der Grundrente davon abhängt. Ist hierbei zwischen den Parteien lediglich die Frage streitig, ob die MdE des Versorgungsberechtigten wegen besonderen beruflichen Betroffenseins i. S. des § 30 Abs. 2 BVG höher zu bewerten ist, so handelt es sich um einen Streit über den Grad der MdE (vgl. BSG 12, 134), Da der Kläger bei Einlegung der Berufung eine Versorgungsrente nach einer MdE um 50 v.H. beantragt hat und damit im Berufungsverfahren zunächst die Schwerbeschädigteneigenschaft streitig war, greift der Berufungsausschließungsgrund des § 148 Nr. 5 SGG nicht ein mit der Folge, daß die Berufung des Klägers bei ihrer Einlegung zulässig gewesen ist. Der Kläger hat allerdings den Berufungsantrag in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 4. Juni 1962 auf die Belehrung des Gerichts, daß ein berufliches Betroffensein nur eine Erhöhung der MdE um 10 v.H. rechtfertige, dahin eingeschränkt, daß er nur noch eine Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. beanspruche. Diese Beschränkung des Berufungsantrags führt jedoch nicht – entgegen der Auffassung des Beklagten – zur Unzulässigkeit der Berufung des Klägers nach § 148 Nr. 3 SGG. Der Große Senat des Reichsgerichts für Zivilsachen (RG) hat in seinem Beschluß vom 10. Dezember 1941 (RGZ 168, 355) ausgesprochen, daß für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels der Zeitpunkt seiner Einlegung maßgebend ist; spätere Verminderungen des Beschwerdegegenstandes bleiben außer Betracht, es sei denn, daß sie auf „willkürlicher” Beschränkung des Rechtsmittels beruhen. In den Gründen hat das RG hierzu ausgeführt, daß das Rechtsmittel unzulässig wird, wenn der Rechtsmittelkläger, ohne durch eine Veränderung im Beschwerdegegenstand selbst dazu veranlaßt zu sein, aus freien Stücken seine Anträge soweit ermäßigt, daß sie die Rechtsmittelgrenze nicht mehr erreichen. Diese Einschränkung sei nötig, um einer „willkürlichen” Umgehung der Rechtsmittelgrenzen vorzubeugen. Sie erhalte ihre für jedermann verständliche innere Rechtfertigung dadurch, daß der Rechtsmittelkläger in solchen Fällen keine günstigere Behandlung beanspruchen kann, als wenn er das Rechtsmittel von vornherein in unzulässigem Umfange eingelegt haben würde. Das RG hat damit solche Fälle gemeint, in denen der Rechtsmittelkläger, ohne daß eine sachgerechte und erst nach Einlegung der Berufung eingetretene Veranlassung für ihn bestand, „aus freier Willkür die an sich gegebene Beschwer nur zu einem Teil mit dem Rechtsmittel abwenden will”. Dieser Auffassung des RG ist auch der Bundesgerichtshof (BGH) in mehreren Entscheidungen beigetreten (BGH in NJW 1951, 274; Lindenmaier/Möhring, ZPO § 546 Nr. 8; vgl. auch Baumbach/Lauterbach, ZPO, 26. Aufl., § 511 a Anm. 4). Der Beklagte ist der Auffassung, daß der Kläger seinen Antrag in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG „freiwillig” i. S. dieser Rechtsprechung auf einen nicht berufungsfähigen Anspruch beschränkt habe. Dem kann jedoch jedenfalls für den vorliegenden Fall nicht beigepflichtet werden. Es kommt vielmehr – wie die Rechtsprechung des RG und des BGH zu dieser Frage erkennen läßt – grundsätzlich darauf an, ob der Rechtsmittelkläger nach Einlegung der Berufung „willkürlich” die an sich gegebene Beschwer nur zu einem Teil mit dem Rechtsmittel abwenden will. Der Kläger hat jedoch sowohl im sozialgerichtlichen Verfahren als auch im Berufungsverfahren die Erhöhung der MdE auf 50 v. H. erstrebt. Er hat auch nach dem Sachverhalt nicht etwa den Berufungsantrag in seinem Schriftsatz vom 30. Oktober. 1961 nur gestellt, um auf diese Weise den Berufungsausschließungsgrund des § 148 Nr. 3 SGG zu umgehen. Erst als der erkennende Senat des LSG ihm in der mündlichen Verhandlung am 4. Juni 1962 nahegelegt hat, den Berufungsantrag auf die Gewährung einer Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. zu beschränken, hat er aus sachgemäßen und für ihn erst nach Einlegung der Berufung erkennbar gewordenen Umständen den Berufungsantrag entsprechend der Belehrung des Berufungsgerichts beschränkte. In einem solchen Falle kann weder von einer willkürlichen Beschränkung des Rechtsmittels noch von einer beabsichtigten Umgehung der Rechtsmittelgrenzen seitens des Klägers gesprochen werden. Es darf ihm nicht zum Nachteil gereichen, daß er, der rechtsunkundig ist und im Berufungsverfahren keinen Prozeßbevollmächtigten hatte, der ausdrücklichen Belehrung des Berufungsgerichts gefolgt ist, das nach seiner Rechtsauffassung eine Beschränkung des Antrags auf die Gewährung einer Versorgungsrente nach einer MdE um 40 v.H. für zweckentsprechend gehalten hat, Durch die von dem LSG angeregte Prozeßhandlung einer Beschränkung des Antrags ist daher die zulässig eingelegte Berufung des Klägers nicht unzulässig geworden, weil die in der Rechtsprechung des RG und des BGH angeführten Ausnahmen von dem Grundsatz, daß für die Zulässigkeit eines Rechtsmittels der Zeitpunkt seiner Einlegung maßgebend ist, nicht vorliegen. Das LSG hat somit zu Recht in der Sache selbst entschieden.
Der Beklagte trägt weiter vor, das LSG habe den § 30 Abs. 2 BVG unrichtig angewandt, „indem es feststellte, daß der Kläger in seinem früher ausgeübten Beruf als aktiver Unteroffizier wegen der anerkannten Schädigungsfolgen an einer Wiederverwendung und damit im Vergleich zu seiner jetzigen Berufstätigkeit als Justizsekretär an einem Aufstieg verhindert ist”. Bei Berufsunteroffizieren der früheren Wehrmacht komme jedoch eine berufliche Beeinträchtigung durch Schädigungsfolgen nicht in Betracht, weil Berufsunteroffizieren der früheren Wehrmacht keine Berufssoldaten auf Lebenszeit gewesen seien. Für die Frage einer besonderen Berufsbeeinträchtigung i. S. des § 30 BVG sei deshalb in diesen Fällen von der vor der Einberufung zum Wehrdienst tatsächlich ausgeübten Tätigkeit oder dem nachweislich angestrebten Zivilberuf auszugehen. Mit diesem Vorbringen rügt der Beklagte keinen Mangel des Verfahrens i. S. des § 162 Abs. 1 Nr. 2. SGG; er wendet sich vielmehr mit der Rüge, das LSG habe die materiell-rechtliche Vorschrift des § 30 Abs. 2 BVG verletzt, gegen den Inhalt des angefochtenen Urteils. Verletzungen materiell-rechtlicher Vorschriften können jedoch nicht die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen.
Endlich rügt der Beklagte eine Verletzung des § 103 SGG mit dem Vorbringen, das LSG habe zur Feststellung der vor Einberufung zum Wehrdienst tatsächlich ausgeübten Tätigkeit des Klägers keine Ermittlungen angestellt. Diese Rüge greift nicht durch. Für die Frage, ob das Berufungsgericht die ihm nach § 103 SGG obliegende Pflicht, den Sachverhalt zu erforschen, erfüllt hat, kommt es darauf an, ob der Sachverhalt, wie er dem LSG zur Zeit der Urteilsfällung bekannt gewesen ist, von dessen sachlich-rechtlichem Standpunkt aus zur Entscheidung des Rechtsstreits ausreichte (vgl. BSG in SozR SGG § 103 Bl. Da 2 Nr. 7). Das LSG ist in der angefochtenen Entscheidung von der materiell-rechtlichen Auffassung ausgegangen, daß für die Frage, ob der Kläger in seinem Beruf i. S. des § 30 Abs. 2 BVG besonders betroffen ist, sein Einkommen aus der jetzigen Tätigkeit als Justizsekretär dem Einkommen gegenüberzustellen ist, das er bei Übernahme in die Bundeswehr erzielt hätte. Nach der materiell-rechtlichen Auffassung des LSG kam es also nicht darauf an, welche Tätigkeit der Kläger vor der Einberufung zum Wehrdienst tatsächlich ausgeübt hat. Für das LSG bestand daher kein Anlaß, insoweit weitere Ermittlungen nach § 103 SGG vorzunehmen. Die Statthaftigkeit der Revision kann daher auch nicht aus einer Verletzung dieser Vorschrift hergeleitet werden.
Da die gerügten Verfahrensmängel nicht vorliegen, war die Revision des Beklagten nach § 169 SGG durch Beschluß als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Unterschriften
Dr. Tesmer, Dr. Brocke, Sautter
Fundstellen