Leitsatz (amtlich)
An der Auffassung, daß die Frage, ob die Berufung, die ein Beteiligter vor dem Inkrafttreten des 2. ÄndG SGG eingelegt hat, statthaft ist, nach den Vorschriften der SGG §§ 145 ff aF zu beurteilen ist (vergleiche BSG 1958-06-25 11/9 RV 1144/55 = BSGE 8, 135-139 und BSG 1958-12-10 11/8 RV 983/56 = SozR Nr 3 zu § 143 SGG), wird festgehalten.
Normenkette
SGG § 143 Fassung: 1953-09-03, § 145 Fassung: 1953-09-03, § 147 Fassung: 1953-09-03, § 148 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, Nr. 2 Fassung: 1958-06-25, § 149 Fassung: 1953-09-03, § 150 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 30. Oktober 1958 wird aufgehoben; die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Die Landesversicherungsanstalt W, Rentenabteilung B, hatte beim Kläger nach der Sozialversicherungsdirektive Nr. 27 (SVD Nr. 27) als Schädigungsfolge "Durchblutungsstörung der linken Großzehe nach Erfrierung" anerkannt, Rente jedoch abgelehnt. Auf einen Antrag des Klägers vom 12. Dezember 1953, mit dem er wegen Verschlimmerung seines Leidens Rente begehrte, änderte das Versorgungsamt II Hannover durch Bescheid vom 12. März 1955 die Leidensbezeichnung, lehnte jedoch Rente weiterhin ab, da die Erwerbsfähigkeit des Klägers nicht um wenigstens 25 v.H. gemindert sei. Der Widerspruch des Klägers wurde zurückgewiesen. Das Sozialgericht Hannover änderte durch Urteil vom 2. August 1957 den Bescheid des Versorgungsamts und den Widerspruchsbescheid ab und verurteilte den Beklagten, dem Kläger wegen der Folgen eines Nährstoffmangelschadens für die Zeit vom 1. Oktober 1946 bis 31. Dezember 1948 eine Rente zu gewähren die für diese Zeit nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 100 %, absinkend bis nach einer MdE. von 30 v.H. gestaffelt wurde; im übrigen wies das Sozialgericht die Klage ab. Die Berufung des Beklagten verwarf das Landessozialgericht Niedersachsen (LSG.) durch Urteil vom 30. Oktober 1958 als unzulässig; die Berufung sei zwar bei der Einlegung am 19. September 1957 nach der damaligen Fassung des § 148 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft gewesen, weil das Urteil des Sozialgerichts nicht nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume, sondern den Anspruch auf Rente überhaupt betroffen habe; während des Verfahrens sei aber am 1. Juli 1958 das Zweite Gesetz zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes vom 25. Juni 1958 (BGBl. I S. 409) - Zweites Änderungsgesetz -) in Kraft getreten. Nunmehr sei nach § 148 Nr. 2 SGG n.F. u.a. die Berufung nicht zulässig, soweit sie nur Versorgung für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe; dies sei hier der Fall, der Beklagte wende sich nur gegen die Verurteilung zur Gewährung von Rente für die Zeit vom 1. Oktober 1946 bis 31. Dezember 1948; es genüge nicht, daß die Berufung bei ihrer Einlegung statthaft gewesen sei, sie müsse es auch noch in dem Zeitpunkt sein, in dem das Berufungsgericht zu entscheiden habe, es bedürfe also einer "zweifachen Prüfung der Zulässigkeit"; dies ergebe sich aus dem Zweck der Gesetzesänderung, die zu einer Entlastung der Berufungsgerichte habe führen sollen, aus der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts, des Reichsversorgungsgerichts und des Bundessozialgerichts zu der Frage, wie weit neues Verfahrensrecht auf bereits schwebende Fälle anzuwenden sei, aus den Vorarbeiten und Motiven zum Zweiten Änderungsgesetz und auch daraus, daß mit § 1 Ziff. 11 des Zweiten Änderungsgesetzes in § 186 SGG der nunmehrige Satz 2 eingefügt worden sei, wonach die Gebühr, die Körperschaften und Anstalten des öffentlichen Rechts nach § 184 SGG zu entrichten hätten, entfalle, wenn die Erledigung der Streitsache auf einer Rechtsänderung beruhe; damit sei auch die Erledigung der Sache durch ein zulässig eingelegtes aber gerade infolge des Zweiten Änderungsgesetzes unzulässig gewordenes Rechtsmittel gemeint; dem Urteil des erkennenden Senats vom 4. September 1958 (BSG. 8 S. 135 ff.) könne nicht gefolgt werden. Die Revision ließ das LSG. zu; das Urteil wurde dem Beklagten am 30. Dezember 1958 zugestellt. Am 23. Januar 1959 legte der Beklagte Revision ein mit dem Antrag,
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 2. August 1957 und das Urteil des LSG. Niedersachen vom 30. Oktober 1958 aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das Urteil des LSG. aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Zur Begründung berief er sich auf die Ausführungen in dem Urteil des erkennenden Senats vom 4. September 1958 (a.a.O.) und machte geltend, das LSG. habe zu Unrecht ein Prozeßurteil erlassen, es habe sachlich entscheiden müssen. Für den Kläger wurde eine Erklärung durch einen beim Bundessozialgericht (BSG.) zugelassenen Prozeßbevollmächtigten nicht abgegeben.
II.
Die Revision ist statthaft und zulässig (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist auch begründet.
Die Frage, ob die Berufung, die ein Beteiligter wirksam vor dem Inkrafttreten des Zweiten Änderungsgesetzes zum SGG eingelegt hat, statthaft ist, ist nach den Vorschriften der §§ 145 ff. SGG a.F. zu beurteilen. Das BSG. hat dies in den Urteilen des erkennenden Senats vom 4. September 1958 (BSG. 8 S. 135 ff.) und vom 10. Dezember 1958 (SozR. Nr. 3 zu § 143 SGG) und in den Beschlüssen des 5. Senats vom 29. November 1958 - 5 RKn 29/57 und des 10. Senats vom 23. Juli 1959 - 10 RV 275/59 - entschieden, an dieser Rechtsprechung wird festgehalten; auf die Ausführungen in den Gründen des Urteils vom 10. Dezember 1958 wird verwiesen. Der erkennende Senat sieht in dieser Rechtsprechung insbesondere keinen Widerspruch zu den vom LSG. erwähnten Urteilen des 8. Senats des BSG. vom 16. Juni 1955 (BSG. 1 S. 78 ff. (81)) und des 10. Senats vom 20. Oktober 1955 (BSG. 1 S. 264 ff.); in den dort entschiedenen Sachen hat es sich um "Übergangsfälle" gehandelt, diese Entscheidungen werden im wesentlichen durch die auch nach der Überzeugung des erkennenden Senats zutreffende Erwägung getragen, daß in den beim Inkrafttreten des SGG rechtshängigen Sachen über die Rechtsmittel nicht nur nach einem neuen Verfahrensgesetz, dem SGG, sondern auch durch ein neues Gericht hat entschieden werden müssen, für das grundsätzlich nur die Vorschriften desjenigen Gesetzes maßgebend sein können, auf Grund dessen es errichtet worden ist (BSG. 1 S. 81); in den Entscheidungen vom 4. September 1958, 29. November 1958, 10. Dezember 1958 und 23. Juli 1959, in denen sich das BSG. mit der Anwendbarkeit der §§ 145 ff. n.F. auf bereits schwebende Berufungsverfahren befaßt hat, hat es sich dagegen um Fälle gehandelt, in denen nach dem Inkrafttreten des SGG gegen Urteile von Sozialgerichten Berufung eingelegt worden ist, die nach der damaligen Rechtslage zulässig gewesen ist. Der erkennende Senat hält daran fest, daß eine solche Berufung eine abgeschlossene Prozeßhandlung ist und daß die neue Fassung der §§ 145 ff., insbesondere des § 148 Nr. 2 SGG durch das Zweite Änderungsgesetz nicht erkennen läßt, daß dadurch den Beteiligten ein bei der Einlegung statthaftes und rechtswirksam eingelegtes Rechtsmittel hat entzogen werden sollen; der Senat vermag auch nicht zu erkennen, warum für die Sozialgerichtsbarkeit insoweit andere verfahrensrechtliche Gesichtspunkte maßgebend sein sollen als die, die für das Zivilprozeßrecht in der auch vom LSG. erörterten neueren Rechtsprechung des Reichsgerichts und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entwickelt worden sind; dies ist weder durch grundsätzliche Unterschiede der Verfahrensarten (§ 202 SGG) noch im Hinblick auf eine abweichende frühere Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts und Reichsversorgungsgerichts zu rechtfertigen. Auch wenn aus den Vorarbeiten und Materialien zum Zweiten Änderungsgesetz erkennbar ist, daß der Zweck der Änderung der §§ 145 ff. SGG für das Zweite Änderungsgesetz die Entlastung der Landessozialgerichte gewesen ist, so ist damit noch nicht gesagt, daß diese Entlastung hat dadurch erfolgen sollen, daß den Klägern Rechtsmittel, die bei der Einlegung statthaft gewesen sind, haben rückwirkend entzogen werden sollen. Der Senat kann dem LSG. auch nicht folgen, soweit es eine solche Absicht des Gesetzgebers aus § 186 Satz 2 SGG n.F. entnehmen will; wenn dort gesagt ist, daß die Gebühr nach § 184 SGG entfällt, wenn die Erledigung der Sache auf einer Rechtsänderung beruht, so ergibt sich aus dieser allein eine Gebührenfrage betreffenden Regelung nichts darüber, ob und unter welchen Voraussetzungen sich eine Sache, insbesondere ein Rechtsmittel, durch eine Rechtsänderung erledigt; es ist damit keinesfalls gesagt, daß diese Bestimmung auch deshalb durch das Zweite Änderungsgesetz in das SGG eingefügt worden ist, weil der Gesetzgeber mit der Erledigung schwebender Rechtsmittelverfahren ohne Urteil gerade auch durch das Zweite Änderungsgesetz gerechnet habe.
Das LSG. hat daher über das Rechtsmittel des Klägers nicht durch ein Prozeßurteil entscheiden dürfen, es hat ein Sachurteil erlassen müssen, sein Urteil beruht darauf, daß es § 148 Nr. 2 SGG n.F. zu Unrecht auf die Berufung des Beklagten angewandt hat; das Urteil ist daher aufzuheben. Da das LSG. in tatsächlicher Hinsicht keine Feststellungen getroffen hat, kann der Senat nicht selbst entscheiden. Die Sache ist vielmehr zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Satz 2 SGG).
Der Senat hat über die Revision entscheiden können, obwohl der Kläger (Revisionsbeklagte) einen Prozeßbevollmächtigten nicht bestellt hat (BSG. 3 S. 106). Er hat nach § 216 Abs. 1 Nr. 4 Buchstabe b SGG entschieden, weil die Rechtslage durch mehrere übereinstimmende Entscheidungen des BSG. zweifelsfrei geklärt ist. Die Beteiligten haben nach § 216 Abs. 2 Satz 2 SGG Gelegenheit gehabt, sich zu äußern.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen