Leitsatz (amtlich)
Der Antrag des Versorgungsberechtigten, ihn für den Fall, daß das Gericht gegen ihn entscheiden wolle, noch einmal fachärztlich untersuchen zu lassen, verpflichtet das Gericht nicht, nach SGG § 106 den Antragsteller über die Vorschrift des SGG § 109 aufzuklären.
Normenkette
SGG § 106 Fassung: 1953-09-03, § 109 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts in Darmstadt vom 11. Mai 1956 wird als unzulässig verworfen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision des Klägers gegen das vorbezeichnete Urteil des Hessischen Landessozialgerichts (LSG.) in Darmstadt ist - mangels Zulassung durch das Berufungsgericht - nicht statthaft, da die Voraussetzungen des § 162 Abs. 1 Nr. 2 und 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) für die Statthaftigkeit einer nicht zugelassenen Revision nicht gegeben sind.
Die aus § 103 SGG hergeleitete Rüge, das LSG. habe es entgegen seiner ihm obliegenden Aufklärungspflicht unterlassen, den Sachverhalt ausreichend aufzuklären, geht fehl. Nach § 103 SGG hat das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen; es bestimmt allein und im Rahmen seines richterlichen Ermessens die Ermittlungen und Maßnahmen, die nach seiner Beurteilung der Rechtslage zur Aufklärung des Sachverhalts notwendig sind. Sein Ermessen wird lediglich durch die Pflicht zur Aufklärung in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang begrenzt (BSG. 2 S. 236). Das Gericht hat daher sorgfältig zu prüfen, ob im Einzelfall über die schon vorliegenden Beweisunterlagen hinaus eine weitere Beweiserhebung - gegebenenfalls durch Anhörung eines weiteren Sachverständigen oder Einholung eines weiteren Gutachtens (Obergutachtens) - erforderlich ist. Im vorliegenden Falle war das LSG. jedoch nicht verpflichtet, zur Frage der Höhe der beim Kläger bestehenden Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) noch ein weiteres Gutachten einzuholen. Ihm lag neben der kurzen gutachtlichen Stellungnahme des ärztlichen Sachverständigen des Sozialgerichts (SG.) Marburg, Prof. Dr. F vom 8. Juli 1954, die im Ergebnis zwar zu Gunsten des Klägers ausgefallen ist, die aber das Vorhandensein von Folgen der durch Granatsplitterverletzung herbeigeführten Gehirnerschütterung verneint, ein ausführliches Gutachten des Facharztes für Nerven - und Gemütsleiden, Dr. H M, vom 26. September 1952 vor, das sich - anders als die gutachtliche Stellungnahme des Prof. Dr. F auf einen eingehend erhobenen Befund stützt und dabei zu dem Ergebnis kommt, daß Zeichen einer früher erlittenen Gehirnerschütterung nicht mehr nachweisbar sind. Dieses Gutachten ist schlüssig und enthält keine inneren Widersprüche, so daß es nach Auffassung des Senats für das LSG. ausreichte, um nach seiner freien richterlichen Überzeugung über den Rechtsstreit zu entscheiden; es bestand keine Veranlassung, den medizinischen Sachverhalt noch weiter aufzuklären. Insbesondere bedurfte es entgegen der Meinung der Revision auch keiner nochmaligen Anhörung des Prof. Dr. F mehr, nachdem selbst dieser beim Kläger Folgen einer erlittenen Gehirnerschütterung nicht mehr feststellen konnte. Daran ändert nichts, daß Prof. Dr. F seine gutachtliche Stellungnahme im Hinblick auf die Vorschrift des § 62 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und nicht auch auf die vom Berufungsgericht angewandte Vorschrift des § 86 Abs. 3 BVG abgegeben hatte. Denn die rechtliche Beurteilung einer im Streit stehenden Frage ist ohnehin ausschließlich dem Gericht vorbehalten.
Die weitere Rüge, das LSG. habe die Vorschriften der §§ 106, 112 Abs. 2 und 3 SGG verletzt, weil es den Kläger nicht auf die Möglichkeit einer Antragstellung nach § 109 SGG hingewiesen habe, konnte ebenfalls keinen Erfolg haben. Das Revisionsvorbringen einer Verletzung des § 112 Abs. 2 und 3 SGG geht schon deshalb fehl, weil die Vorschrift des § 112 SGG allein die Leitung und den Gang der mündlichen Verhandlung betrifft, der Kläger aber nach der Sitzungsniederschrift vom 11. Mai 1956 in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht weder selbst erschienen, noch durch einen Bevollmächtigten vertreten war. Aber auch die Rüge der Verletzung des § 106 SGG ist nicht geeignet, die Revision statthaft zu machen. Denn für das LSG. bestand vorliegend keine verfahrensrechtliche Verpflichtung, den Kläger auf die Möglichkeit einer Antragstellung nach § 109 SGG hinzuweisen oder gar eine solche Antragstellung anzuregen. Der Grundsatz im sozialgerichtlichen Verfahren, daß das Gericht von Amts wegen verpflichtet ist, den Sachverhalt - ohne Bindung an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten - zu erforschen (§ 103 SGG), wird durch die Vorschrift des § 109 SGG insoweit durchbrochen, als es im Belieben des Versicherten, des Versorgungsberechtigten oder des Hinterbliebenen steht, ob er durch die Stellung eines Antrags nach § 109 SGG die Einholung eines Gutachtens von einem bestimmten Arzt, auch wenn dies vom Gericht zur Aufklärung des Sachverhalts nicht mehr für erforderlich gehalten wird, erzwingen will. Das aber bedeutet nicht, wie die Revision meint, daß das Gericht auf Grund seiner Aufklärungspflicht nach § 106 SGG gehalten wäre, in jedem Falle auf die Möglichkeit einer Antragstellung nach § 109 SGG hinzuweisen oder eine solche anzuregen. Eine solche Auffassung würde nicht zuletzt der Verpflichtung des Gerichts entgegenstehen, daß es über den Rechtsstreit dann entscheiden muß, wenn nach seiner Beurteilung der Rechtslage der Sachverhalt in dem für die Entscheidung erforderlichen Umfang aufgeklärt ist. Dies alles muß umsomehr gelten, wenn wie vorliegend keine verfahrensrechtliche Handlung des Beteiligten darauf hindeutet, daß er gegebenenfalls gewillt ist, einen Antrag nach § 109 SGG zu stellen, oder wenn der Beteiligte nicht einmal erkennbar zum Ausdruck gebracht hat, daß nach seiner Auffassung der medizinische Sachverhalt noch nicht genügend geklärt sei. Der Antrag des Klägers in seiner Berufungserwiderung vom 27. Dezember 1955, ihn für den Fall, daß das LSG. gegen ihn entscheiden wolle, noch einmal fachärztlich untersuchen zu lassen, verpflichtete das LSG. jedenfalls nicht nach § 106 SGG zu einer Aufklärung des Klägers über § 109 SGG.
Danach ist die Revision des Klägers nicht statthaft; sie war nach der Vorschrift des § 169 Satz 2 SGG als unzulässig zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen