Entscheidungsstichwort (Thema)
Meinungsbildung erst nach Aufklärung des Sachverhalts
Orientierungssatz
Das Gericht darf nicht eigene Mutmaßungen an die Stelle einer Zeugenaussage setzen. Es hat sich seine Überzeugung nach Aufklärung des Sachverhalts durch Maßnahmen nach SGG §§ 106, 118 zu bilden und kann nicht eigene Erwägungen über den vermutlichen Ausgang weiterer Beweiserhebungen an die Stelle dieser Ermittlungen setzen.
Normenkette
SGG § 103 Fassung: 1953-09-03, § 128 Fassung: 1953-09-03, § 118 Fassung: 1953-09-03, § 106 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1954 wird aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erlitt im April 1945 beim Einmarsch der amerikanischen Truppen einen Durchschuß des rechten Oberarms. Wegen dieser Verletzung war er bis Ende April 1945 im Krankenhaus H. in stationärer Behandlung. Kurze Zeit darauf erkrankte er an einer Phlegmone der rechten Hand. Diese Erkrankung wurde von Prof. Dr. S... vom Luitpold-Krankenhaus in W... behandelt. Schließlich trat der Kläger in Behandlung des Dr. F... vom Standortlazarett W.... Die Phlegmone führte zu einer teilweisen Versteifung der Finger der rechten Hand.
1947 beantragte der Kläger wegen dieser Körperschäden Versorgung. Nach versorgungsärztlicher Untersuchung anerkannte das Versorgungsamt Würzburg mit Bescheid vom 22. August 1950 belanglose Verwundungsnarben nach Oberarmdurchschuß rechts als Leistungsgrund nach dem Bayerischen Körperbeschädigten-Leistungsgesetz (KBLG) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) unter 30 v.H.; eine Rente wurde abgelehnt. Mit der Berufung begehrte der Kläger Anerkennung der Versteifung der Finger der rechten Hand als weiteren Leistungsgrund und Gewährung einer Rente. Das Oberversicherungsamt (OVA.) Würzburg hörte das Krankenhaus Hardheim und die Gerichtsärzte Dr. H... und Dr. H... Mit Urteil vom 20. Mai 1952 wies es die Berufung als unbegründet zurück.
Im Verfahren vor dem Bayerischen Landessozialgericht (LSG.), auf das die Sache mit Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen war, legte der Kläger ein Gutachten des Facharztes für Chirurgie Dr. F... vor, der die Handphlegmone zuletzt behandelt hatte. Dr. F... erklärte darin, daß er mit Prof. Dr. S... über den Fall gesprochen habe und daß sich dieser noch genau an den Kläger erinnere. Der Kläger beantragte, gegebenenfalls Prof. Dr. S... zu einer Stellungnahme aufzufordern. In der mündlichen Verhandlung stellte auch der Beklagte den Antrag, Prof. Dr. S... darüber einzuvernehmen, welche Beobachtungen er über die Handverletzung gemacht habe, insbesondere wann der Kläger zum ersten Mal in Behandlung kam und welche Angaben er bezüglich der Handverletzung damals gemacht habe. Während des Verfahrens vor dem LSG. lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 20. November 1953 eine Rentengewährung für die Versteifung der Finger auch nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab. Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage zum Sozialgericht (SG.) Würzburg erhoben. Dieses Verfahren läuft noch.
Das LSG. hat mit Urteil vom 16. Dezember 1954 die Berufung des Klägers gegen das Urteil des OVA. Würzburg vom 20. Mai 1952 zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, die Verwundungsfolgen am Oberarm bedingten nur eine MdE. um 20 v.H. Die Versteifung der Finger beruhe auf der Phlegmone. Diese stehe nach den ärztlichen Gutachten nicht in ursächlichem Zusammenhang mit der erlittenen Verwundung. Daß der Kläger bei der Verwundung des Oberarms weitere Verletzungen an der Hand erlitten habe, sei zwar möglich, aber nicht wahrscheinlich. Hinreichende Anhaltspunkte für einen solchen Ablauf des Geschehens fehlten. Das LSG. hat von der Anhörung des Prof. Dr. S... als "sachverständigen Zeugen" abgesehen, weil Krankenhauspapiere nicht mehr vorhanden seien und Prof. Dr. S... wie das LSG. annimmt, aus der Erinnerung über die damaligen Angaben des Klägers und die festgestellten Befunde im einzelnen keine sichere Aussage machen könne. Revision ist nicht zugelassen worden.
Mit der Revision beantragt der Kläger, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, als weitere Schädigungsfolge Folgezustand nach Hand-Phlegmone rechts anzuerkennen und entsprechend der dadurch bedingten MdE. ab 1. Februar 1947 Rente zu gewähren, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen, sowie den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger die Kosten des ersten bis dritten Rechtszuges zu erstatten.
Die Revision rügt als wesentlichen Mangel des Verfahrens nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG, daß das LSG. Prof. Dr. S... nicht als sachverständigen Zeugen gehört habe, obwohl es sich hätte veranlaßt fühlen müssen, diesen Beweis zu erheben. Der Zeuge hätte voraussichtlich wichtige Angaben zur Frage des Ursachenzusammenhangs machen können, was möglicherweise zu einer Anerkennung des klägerischen Anspruchs geführt hätte. Außerdem sei die Revision auch nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG begründet, weil das LSG. den Wahrscheinlichkeitsbegriff in § 1 BVG verkannt habe.
Der Beklagte hat zuletzt beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen, hilfsweise, die Revision zu verwerfen. Auch er erblickt in der Nichtanhörung des Prof. Dr. S... einen wesentlichen Mangel des Verfahrens.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und unter Beachtung des § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG begründet worden. Da sie nicht zugelassen ist, findet sie nur statt, wenn ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des LSG. gerügt wird und vorliegt (BSG. 1 S. 150) oder wenn bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs einer Gesundheitsstörung mit einer Schädigung im Sinne des BVG das Gesetz verletzt ist (§ 162 Abs. 1 SGG, BSG. 1 S. 254).
Zutreffend geht das LSG. davon aus, daß im vorliegenden Verfahren nur über den Versorgungsanspruch des Klägers nach dem Bayer. KBLG zu entscheiden ist. Der nach dem BVG ergangene Bescheid ist Gegenstand eines besonderen Rechtsstreits.
Mit der Rüge, das LSG. hätte Prof. Dr. S... als Zeugen hören müssen, macht der Kläger einen Verfahrensmangel des LSG. durch Verletzung seiner Sachaufklärungspflicht geltend (§ 103 SGG). Einen weiteren Verfahrensmangel der Vorinstanz rügt der Kläger mit der Behauptung, das LSG. habe gegen die Vorschriften für die Bildung der richterlichen Überzeugung verstoßen (§ 128 SGG).
Die gerügten Verfahrensmängel liegen vor. Das LSG. hat seine Amtsaufklärungspflicht verletzt und sich seine Überzeugung auf rechtlich nicht bedenkenfreie Weise gebildet.
Zwar liegt eine Verletzung der Amtsaufklärungspflicht nicht schon darin, daß das LSG. einem Antrag auf Anhörung eines Zeugen nicht entsprochen hat; denn nach § 103 Satz 2 SGG ist das Gericht an Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Es kann auch dahingestellt bleiben, ob in der Rüge aus § 103 SGG etwa die Rüge einer Verletzung des § 109 SGG mit enthalten ist. Der Kläger hat einen eindeutigen Antrag, Prof. Dr. S... als ärztlichen Sachverständigen gutachtlich gemäß § 109 SGG zu hören, nicht gestellt, und in der mündlichen Verhandlung ist dies nur vom Beklagten beantragt worden. Bei der Vertretung des Klägers durch einen Rechtskundigen bestand auch keine Veranlassung für das LSG., etwa auf das Recht aus § 109 SGG besonders hinzuweisen (vgl. Beschluß des 8. Senats vom 21.11.1957 - 8 RV 611/56 - in SozR. zu § 109 SGG Da 7 Nr. 12).
Das Verfahren des LSG. ist jedoch aus anderen Gründen fehlerhaft. Nach § 103 SGG hat die Tatsacheninstanz den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen. Nach § 128 SGG entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. In diesem Rahmen bestimmt es Art und Umfang der nach seiner sachlich-rechtlichen Auffassung zur Tatsachenfeststellung und Überzeugungsbildung erforderlichen Ermittlungen. Es verletzt seine Sachaufklärungspflicht, wenn es zu seiner Überzeugung unter Berücksichtigung aller Umstände noch nicht hätte gelangen dürfen, weil bekannte, von ihm bisher nicht verwertete, taugliche Beweismittel zu einer Erschütterung dieser Überzeugung hätten führen können. Inwieweit die bisher gewonnene Meinung über rechtserhebliche Vorgänge durch die Erhebung weiterer Beweise auf ihre Richtigkeit zu überprüfen ist, hat das Gericht vom Standpunkt eines lebenserfahrenen, sorgfältigen und gewissenhaften Richters aus zu beurteilen. Das Revisionsgericht prüft nur, ob das Tatsachengericht hierbei die gesetzlichen Grenzen seiner Entscheidungsfreiheit verletzt hat, indem es etwa sich seiner gesetzlichen Verpflichtung zur Erforschung des Sachverhalts nicht bewußt geworden oder ihr nicht nachgekommen ist, obwohl die Umstände den Gebrauch weiterer Beweismittel geboten. Die Vorschrift des Art. 2 Abs. 1 KBLG und des § 1 Abs. 3 BVG, wonach zur Anerkennung einer Gesundheitsstörung als Folge einer Schädigung im Sinne dieser Versorgungsgesetze die Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhangs genügt, gibt Anhalt für die Grenzen der Entscheidungsfreiheit des Gerichts nach § 128 SGG. Sie wendet sich an die Überzeugungsbildung des Richters und beantwortet die Frage, welcher Grad von subjektiver Sicherheit dafür zu fordern ist, daß von einer richterlichen Überzeugung vom Vorliegen des Ursachenzusammenhangs gesprochen und darauf ein richterliches Urteil gegründet werden darf (vgl. Leipziger Zeitschrift 1933 Sp. 273). Hiernach bestimmt sich auch, wieweit das Gericht seine tatsächlichen Ermittlungen auszudehnen hat.
Bei Anwendung dieser Grundsätze ist die Rüge der Revision, daß das LSG. Prof. Dr. S... hätte hören müssen, begründet. Das LSG. hat die Feststellung, der Kläger habe anläßlich der Verwundung des Oberarms keine andere Verletzung erlitten, auf die Auskunft des Krankenhauses H., in dem der Kläger unmittelbar im Anschluß an die Oberarmverletzung - nur wegen dieser, nicht auch wegen einer Phlegmone - behandelt wurde, und auf die Aussage des Dr. F... gestützt, der ab Ende April die Phlegmone behandelt hat. Dagegen hat das LSG. Prof. Dr. S... der den Kläger in der Zwischenzeit nach der Entlassung aus dem Krankenhaus H. bis zur Aufnahme der Behandlung durch Dr. F... behandelt und nach Aussage des Dr. F... die Hand-Phlegmone als erster Arzt festgestellt hat, über den Kausalzusammenhang der Phlegmone mit der Oberarmverwundung nicht gehört, weil keine Krankenpapiere mehr vorhanden seien und weil Prof. Dr. S... wie das LSG. unterstellt, aus der Erinnerung über die damaligen Angaben des Klägers und den festgestellten Befund keine sichere Aussage machen könne. Diese Begründung für das Nichtanhören des Prof. Dr. S... steht einmal im Widerspruch zu der Aussage des Dr. F... nach der sich Prof. Dr. S... noch genau an den Kläger erinnere, und enthält überdies eine nach der Bekundung des Dr. F... inhaltlich unzutreffende Vorwegnahme des Beweisergebnisses. Das LSG. hat mit dieser Begründung vorweg ausgedrückt, daß es sich durch Aussagen des Prof. Dr. S... nicht in seiner bereits gebildeten Überzeugung beeinflussen lassen wolle. Dies ist nicht zulässig. Das Gericht darf nicht eigene Mutmaßungen an die Stelle einer Zeugenaussage setzen. Es hat sich seine Überzeugung nach Aufklärung des Sachverhalts durch Maßnahmen nach §§ 106, 118 SGG zu bilden und kann nicht eigene Erwägungen über den vermutlichen Ausgang weiterer Beweiserhebungen an die Stelle dieser Ermittlungen setzen. Hier hätte das LSG. nach der ganzen Sachlage, und zumal beide Beteiligte dies beantragten, sich veranlaßt fühlen müssen, den sich anbietenden weiteren Beweis zu erheben und Prof. Dr. S... zu hören.
Das LSG. hat damit gegen §§ 103, 128 SGG verstoßen. Die Revision ist daher gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft. Sie ist auch begründet, denn es ist möglich, daß das LSG. anders entschieden hätte, wenn es Prof. Dr. S... einvernommen hätte. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben. Da schon die Verfahrensrügen die Revision gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft machen und zur Aufhebung des Urteils führen, konnte dahingestellt bleiben, ob die Revision auch wegen Gesetzesverletzung bei Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs nach § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG statthaft ist. Den vom Beklagten erst in der Verhandlung und nur mündlich gestellten Antrag auf Aufhebung des Urteils des LSG. und Zurückverweisung an die Vorinstanz hat der Senat, da der Beklagte durch die Entscheidung des LSG. nicht beschwert ist, lediglich als Zustimmung zu den Ausführungen der Revision angesehen. Einer besonderen Entscheidung darüber bedurfte es daher nicht.
Der Senat konnte nicht selbst zur Sache entscheiden, weil dazu weitere Ermittlungen tatsächlicher Art, wie die Vernehmung des Prof. Dr. S..., erforderlich sind. Der Rechtsstreit war daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen