Entscheidungsstichwort (Thema)
Übergangener Antrag auf Rechtsmittelzulassung
Leitsatz (amtlich)
Ist dem Antrag auf nachträgliche Zulassung der (Sprung-)Revision die Zustimmungserklärung des Gegners nicht beigefügt und liegt diese auch bei der Beschlußfassung durch das SG noch nicht vor, so ist die Zulassung unwirksam. Dieser Mangel kann durch die Beifügung der Zustimmungserklärung zur Revisionsschrift nicht geheilt werden.
Leitsatz (redaktionell)
SGG § 140 kann nicht auf das Fehlen einer Entscheidung über die Zulassung der Berufung bzw der Revision entsprechend angewendet werden (vgl BSG vom 1967-01-31 2 RU 63/63 = SozR Nr 4 zu § 140 SGG).
Normenkette
SGG § 161 Abs. 1 Fassung: 1974-07-30, § 140 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 14. November 1975 wird als unzulässig verworfen.
Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die (Sprung-)Revision ist von dem Beklagten frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes -- SGG.); sie ist jedoch unzulässig.
Das Sozialgericht (SG) hat den vom Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 14. November 1975 gestellten Antrag auf Zulassung der Berufung und Revision im Urteil übergangen. Dabei spielt es keine Rolle, daß dieser Antrag nur "hilfsweise" gestellt war. Eine Ergänzung des Urteils gemäß § 140 SGG, wie sie vom Beklagten mit Schriftsatz vom 5. Dezember 1975 (Bl. 22 der SG-Akten) beantragt wurde, kam nicht in Betracht (vgl. BSGE 25, 202; BGHZ 44, 395). Die Anwendung des § 140 SGG ist auf die Fälle beschränkt, in denen das Urteil einen von einem Beteiligten erhobenen Anspruch oder den Kostenpunkt ganz oder teilweise übergangen hat. Unter "Anspruch" ist dabei der materielle Anspruch, nicht aber jeder prozessuale Antrag zu verstehen. Die nachträgliche Ergänzung eines Urteils ist in § 140 SGG für das Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit abschließend geregelt. Die Vorschrift kann nicht auf das Fehlen einer Entscheidung über die Zulassung der Berufung bzw. der Revision entsprechend angewendet werden (vgl. BSG SozR SGG § 140 Nr. 4).
Diese Rechtslage war für den Beklagten ohne weiteres erkennbar. Im Interesse des Beklagten hat daher das SG den Antrag auf Urteilsergänzung als Antrag auf (nachträgliche) Zulassung der Sprungrevision gemäß § 161 Abs. 1 SGG ansehen dürfen. Dieser Antrag ist nicht deshalb unzulässig, weil er bereits vor der Zustellung des Urteils gestellt worden ist. § 161 Abs. 1 Satz 2 SGG schreibt lediglich vor, bis zu welchem Zeitpunkt der Antrag spätestens - "innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils" - gestellt sein muß. Der Vorsitzende des SG hat über diesen Antrag ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter entschieden. Das war rechtsfehlerhaft; jedoch sind daraus aus Gründen des Vertrauensschutzes zur Zeit noch keine Folgerungen zum Nachteil des Antragstellers zu ziehen (vgl. BSG SozR 1500 SGG § 161 Nrn. 4, 6 und 7; siehe auch Urteil des Bundessozialgerichts - BSG - vom 10. März 1976 - 10 RV 193/75 -).
Der Beschluß des SG vom 15. Dezember 1975 über die nachträgliche Zulassung der (Sprung-) Revision ist jedoch deshalb rechtsunwirksam, weil er unter Verletzung des § 161 Abs. 1 Satz 3 SGG fehlerhaft zustande gekommen ist. Nach dieser Vorschrift ist die - schriftliche, vgl. Satz 1 - Zustimmung des Gegners dem Antrag auf Zulassung der Sprungrevision beizufügen . Darauf weist - zutreffend - auch die Rechtsmittelbelehrung in dem angefochtenen Urteil hin. Selbst wenn zugunsten des Beklagten davon ausgegangen wird, daß die Zustimmung nicht unbedingt zusammen mit dem Antrag auf Revisionszulassung eingereicht werden muß, sondern bis zum Ablauf der Antragsfrist (Satz 2) nachgereicht werden kann (vgl. Urteil BSG vom 14. September 1976 - 11 RA 128/75 -; siehe auch SozR 1500 SGG § 161 Nr. 2), so setzt § 161 Abs. 1 Satz 3 SGG jedenfalls voraus, daß die Zustimmungserklärung dem SG bei der Beschlußfassung vorliegen muß. Das aber war hier nicht der Fall. Der Beschluß des SG ist am 15. Dezember 1975 ergangen. Die Zustimmungserklärung des Klägers ist jedoch erst vom 2. Januar 1976 datiert und vom Beklagten zusammen mit der Revisionsschrift vom 13. Januar 1976 beim BSG eingereicht worden. Dieses prozessuale Verhalten entsprach § 137 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO), nicht jedoch § 161 Abs. 1 SGG.
Bei der Vorschrift des § 161 Abs. 1 Satz 3 SGG über die Beifügung der Zustimmungserklärung handelt es sich nicht nur um eine rein formelle Vorschrift, die durch nachträgliche, d.h. nach der Beschlußfassung des SG erfolgende Beibringung der Zustimmung geheilt werden kann, sondern um eine zwingende Ordnungsvorschrift. Der Zweck dieser Vorschrift, die ihrem Wortlaut nach völlig eindeutig ist, liegt darin, daß überflüssige gerichtliche Beschlußverfahren vermieden werden. Derartige Verfahren aber wären in den nicht seltenen Fällen unvermeidbar, in denen sich der Prozeßgegner später auf eine Sprungrevision nicht einläßt und in denen deshalb eine Zustimmungserklärung nicht beigebracht werden kann. Die Ausführungen des Beklagten zum bürgerlich-rechtlichen Begriff der Zustimmung (vgl. §§ 182 ff des Bürgerlichen Gesetzbuches) sind daher nicht geeignet, die zwingende Ordnungsfunktion, die der Verpflichtung zur Beifügung der Zustimmungserklärung zukommt, zu beseitigen.
Eine Bestätigung für diese Auffassung findet sich in § 161 Abs. 3 SGG. Danach beginnt in den Fällen, in denen das SG den Antrag auf Zulassung der Revision durch Beschluß ablehnt, mit der Zustellung dieser Entscheidung der Lauf der Berufungsfrist nur dann von neuem, sofern dem Antrag ... "die Zustimmungserklärung des Gegners beigefügt war". Daraus folgt gleichfalls, daß die Beifügung der Zustimmungserklärung zu den notwendigen Erfordernissen des Antrages auf nachträgliche Zulassung der Revision gehört. Eine klare und eindeutige Regelung liegt zudem im Interesse des Rechtsmittelklägers. Dieser soll davor bewahrt werden, daß er zunächst den Antrag auf Zulassung der (Sprung-)Revision stellt, später die Zustimmungserklärung des Gegners nicht beibringen kann und alsdann die Berufungsfrist abgelaufen ist.
Der Beklagte vermag sich insoweit auch nicht auf Vertrauensschutz zu berufen, wie es - jedenfalls zur Zeit noch - bei der Zulassung der Sprungrevision allein durch den Vorsitzenden - statt durch die besetzte Kammer unter Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter - der Fall ist. Die beantragte Ergänzung des Urteils (§ 140 SGG) und damit die nachträgliche Zulassung der Berufung bzw. der Revision durch Urteilsspruch kamen - wie bereits oben dargelegt - nicht in Betracht (vgl. BSGE 25, 202; BGHZ 44, 395; OLG Koblenz MdR 1976, 940). Für den Antrag auf nachträgliche Zulassung der (Sprung-)Revision besteht eine eindeutige gesetzliche Regelung (§ 161 Abs. 1 SGG). Die Nichteinhaltung der dafür vorgeschriebenen zwingenden gesetzlichen Voraussetzungen hat der Beklagte zu vertreten, so daß es insoweit nicht darauf ankommt, ob auch dem SG ein fehlerhaftes Verhalten zur Last fällt.
Entgegen der Auffassung des Beklagten ist der Senat an die gesetzwidrig erfolgte Zulassung der Revision nicht gebunden. Die Vorschrift des § 161 Abs. 2 Satz 2 SGG, die ihrem Wortlaut nach etwas anderes zu besagen scheint, muß im Zusammenhang mit Satz 1 dieser Vorschrift gelesen werden. Dann aber zeigt sich, daß eine Bindung des Revisionsgerichts nur insoweit besteht, als das SG die Voraussetzungen des § 160 Abs. 2 Nrn. 1 oder 2 SGG bejaht hat. Das Revisionsgericht soll also - soweit es sich um den Ausspruch der Zulassung der Revision handelt - nicht mehr prüfen dürfen, ob das SG zu Recht oder zu Unrecht der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beigemessen oder eine Divergenz angenommen hat. Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht darum, ob die Zulassungsentscheidung richtig oder unrichtig war und ob das SG eine offensichtlich gesetzwidrige Zulassung der Revision - also entgegen § 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG - ausgesprochen hat (vgl. BFHE 102, 461), sondern allein darum, ob die formellen Voraussetzungen für eine nachträgliche Zulassung der Revision erfüllt sind oder ob die Entscheidung des SG formell fehlerhaft zustande gekommen ist (vgl. BSG SozR 1500 SGG § 161 Nr. 7). Die vom Beklagten zitierte Entscheidung des 9. Senats des BSG vom 18. Mai 1976 (SozR 1500 SGG § 160 Nr. 21), die zu § 160 Abs. 3 SGG ergangen ist, besagt nichts anderes. Dort ist ausdrücklich ausgesprochen, daß die Zulassung der Revision - durch das Landessozialgericht - für das BSG unbedingt und damit ungeachtet dessen bindend ist, "ob ein Zulassungsgrund im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG bestand", und daß deshalb bei einer Zulassung durch das Berufungsgericht in Kauf genommen werden muß, daß das Revisionsgericht "in Einzelfällen ohne einen Grund im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG" mit der Sache befaßt wird. Die Bindung des Revisionsgerichts erstreckt sich also auf den Zulassungsgrund, nicht jedoch auf die formellen Voraussetzungen der Zulassung (vgl. auch BSG SozR 1500 SGG § 161 Nrn. 4, 6 und 7).
Die unzulässig (Sprung-)Revision kann auch nicht in eine Berufung umgedeutet werden (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 13. Februar 1964 in NJW 1964, 871). Die gesetzliche Regelung in § 161 Abs. 3 und 5 SGG ist eine andere als in § 134 Abs. 2 VwGO, ganz abgesehen davon, daß im vorliegenden Fall auch die Vorschrift des § 148 Nr. 3 SGG über den Berufungsausschluß zu beachten wäre.
Die vom Beklagten eingelegte Sprungrevision erweist sich daher als unzulässig. Sie ist gemäß § 169 SGG durch Beschluß ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen