Verfahrensgang
SG Reutlingen (Entscheidung vom 16.02.2022; Aktenzeichen S 4 U 1413/20) |
LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 16.08.2022; Aktenzeichen L 6 U 785/22) |
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. August 2022 wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Mit vorbezeichnetem Beschluss hat es das LSG abgelehnt, der Klägerin aufgrund des Arbeitsunfalls vom 6.12.2017 Verletztenrente über den 24.12.2019 hinaus nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit um 30 vH zu gewähren. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dieser Entscheidung hat sie Beschwerde eingelegt und in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache sowie Verfahrensmängel geltend gemacht. Im Kern trägt sie vor, das LSG habe seine "grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber der gesetzlichen Norm § 109 SGG" dokumentiert, indem es den Antrag auf Anhörung des A als Arzt ihres Vertrauens verfassungswidrig abgelehnt habe.
II
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist ohne Hinzuziehung ehrenamtlicher Richter als unzulässig zu verwerfen, weil sie nicht formgerecht begründet ist (§ 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG). Die geltend gemachten Zulassungsgründe sind entgegen § 160a Abs 2 Satz 3 SGG nicht hinreichend dargelegt bzw bezeichnet.
1. Soweit die Klägerin in mehrfacher Hinsicht eine Verletzung des § 109 SGG rügt, lässt sie unbeachtet, dass die Nichtzulassungsbeschwerde auf eine Verletzung dieser Vorschrift nach § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG unter keinen Umständen gestützt werden kann (BSG Beschlüsse vom 22.6.2004 - B 2 U 78/04 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 4 RdNr 3). Dieser Ausschluss gilt ausnahmslos für jede fehlerhafte Anwendung des § 109 SGG(BSG Beschlüsse vom 12.5.2022 - B 2 U 169/21 B - juris RdNr 12 und grundlegend vom 31.1.1979 - 11 BA 129/78 - SozR 1500 § 160 Nr 34) . Er kann nicht mit der Begründung umgangen werden, die Ablehnung entsprechender Anträge werfe Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung auf (BSG Beschluss vom 30.5.2006 - B 2 U 86/06 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 9 RdNr 4) oder verletze den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (BSG Beschlüsse vom 28.2.2017 - B 13 R 355/16 B - juris RdNr 7 und grundlegend vom 14.4.2009 - B 5 R 206/08 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 18 RdNr 6), weil andernfalls die Beschränkungen des § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG im Ergebnis leerliefen (BSG Beschlüsse vom 28.2.2018 - B 13 R 73/16 B - juris RdNr 12 und vom 6.2.2007 - B 8KN 16/05 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 12 RdNr 7). Darin liegt keine Missachtung des Art 103 Abs 1 GG, wonach jedermann vor Gericht Anspruch auf rechtliches Gehör hat. Vielmehr ist es gerade mit Blick auf das Amtsermittlungsprinzip (§ 103 SGG) verfassungsrechtlich unbedenklich, von einer Revisionszulassung grundsätzlich alle Entscheidungen auszunehmen, die eine fehlerhafte Anwendung des § 109 SGG aufweisen, unabhängig davon, worauf dieser Verfahrensmangel im Einzelnen beruht (BVerfG Beschluss vom 12.4.1989 - 1 BvR 1425/88 - SozR 1500 § 160 Nr 69; BSG Beschlüsse vom 12.5.2022 - B 2 U 169/21 B - juris RdNr 12; vom 25.5.2009 - B 5 R 126/09 B - juris RdNr 6 und vom 7.3.2000 - B 9 V 75/99 B - juris RdNr 3).
2. Der Senat lässt ausdrücklich offen, ob dieser Komplettausschluss der Verfahrensrüge uneingeschränkt auch für gleichzeitige Verstöße gegen das allgemeine Prozessgrundrecht auf ein faires Verfahren gilt (dafür BSG Beschluss vom 25.5.2009 - B 5 R 126/09 B - juris RdNr 6 allerdings nicht tragend). Dieses Grundrecht beruht auf Art 1 Abs 1, Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG und auf Art 19 Abs 4 GG(BVerfG Beschlüsse vom 15.4.2004 - 1 BvR 622/98 - NJW 2004, 2149, 2150; vom 3.1.2001 - 1 BvR 2147/00 - NJW 2001, 1343; vom 14.10.2003 - 1 BvR 901/03 - NVwZ 2004, 334; vom 26.4.1988 - 1 BvR 669/87 ua - NJW 1988, 2787; vom 26.5.1981 - 2 BvR 215/81 - BVerfGE 57, 250, 275 und grundlegend vom 8.10.1974 - 2 BvR 747/73 - BVerfGE 38, 105, 111; Volland, MDR 2004, 377, 378) sowie auf Art 6 Abs 1 Satz 1 EMRK(BSG Beschlüsse vom 2.7.2019 - B 2 U 19/19 B - juris RdNr 5 und vom 17.12.2010 - B 2 U 278/10 B - juris RdNr 4) und Art 47 Abs 2 Satz 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (BVerfG Beschluss vom 4.5.2004 - 1 BvR 1892/03 - BVerfGE 110, 339, 342). Danach dürfen die Gerichte sich nicht widersprüchlich verhalten, aus eigenen oder ihnen zuzurechnenden Fehlern, Irrtümern oder Versäumnissen keine Verfahrensnachteile ableiten (BVerfG Beschlüsse vom 4.5.2004 - 1 BvR 1892/03 - BVerfGE 110, 339, 342; vom 14.4.1987 - 1 BvR 162/84 - BVerfGE 75, 183, 190; vom 9.2.1982 - 1 BvR 1379/80 - BVerfGE 60, 1, 6 sowie vom 22.5.1979 - 1 BvR 1077/77 - BVerfGE 51, 188, 192) und sind allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (BVerfG Beschlüsse vom 17.1.2019 - 2 BvQ 1/19 - juris RdNr 24; vom 25.9.2018 - 2 BvR 1731/18 - juris RdNr 22; vom 18.7.2013 - 1 BvR 1623/11 - NJW 2014, 205, 206; vom 26.4.1988 - 1 BvR 669/87 ua - BVerfGE 78, 123, 126 mwN; vom 19.10.1977 - 2 BvR 462/77 - BVerfGE 46, 202, 210; vom 10.6.1975 - 2 BvR 1074/74 - BVerfGE 40, 95, 98 f und grundlegend vom 8.10.1974 - 2 BvR 747/73 - BVerfGE 38, 105, 111 ff; BSG Beschluss vom 9.10.2012 - B 5 R 196/12 B - SozR 4-1500 § 67 Nr 10 RdNr 8; vgl auch BSG Beschluss vom 13.7.2017 - B 2 U 8/17 BH - juris RdNr 6).
Indem die Klägerin auf die ursprünglich kurze richterliche Frist zur Antragstellung und Vorschusseinzahlung hinweist, die Reaktion des LSG auf den entsprechenden Fristverlängerungsantrag schildert, den Antritt der stationären Rehabilitationsmaßnahme als triftigen Grund für die Absage des Begutachtungstermins benennt, den Irrtum des Sachverständigen und des LSG über ihre angeblich entfallene Bereitschaft, sich untersuchen zu lassen, mit mangelnden Deutschkenntnissen erklärt und sinngemäß darauf hinweist, dass die gebotene Beiziehung und Auswertung des Reha-Entlassungsberichts die Erledigung des Rechtsstreit ohnehin verzögert hätte, mag sie Umstände aufgezeigt haben, die auf eine mangelnde Rücksichtnahme schließen lassen könnten. Die Beschwerdebegründung versäumt es jedoch darzulegen, mit welcher Begründung das LSG den Antrag nach § 109 SGG abgelehnt hat, sodass nicht erkennbar ist, ob es dabei Bedeutung und Tragweite des Prozessgrundrechts auf ein faires Verfahren grundlegend verkannt haben könnte.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.
Karmanski Hüttmann-Stoll Karl
Fundstellen
Dokument-Index HI15615636 |