Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage
Orientierungssatz
Zur grundsätzlichen Bedeutung der Frage, wann eine Veränderung in den gesundheitlichen Verhältnissen, hier eine Veränderung der unfallbedingten MdE, als wesentlich anzusehen ist.
Normenkette
SGG § 160 Abs 2 Nr 1, § 160a Abs 2 S 3; RVO § 622 Abs 1 Fassung: 1963-04-30; SGB 10 § 48 Abs 1
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 19.10.1988; Aktenzeichen L 4 U 50/88) |
Gründe
Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung der Verletztenrente, die ihr aus Anlaß des Arbeitsunfalles vom 12. Dezember 1983 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH bis zum Ablauf des Monats April 1987 gewährt wurde (Entziehungsbescheid vom 23. März 1987; Urteile des Sozialgerichts -SG- vom 21. März 1988 und des Landessozialgerichts -LSG- vom 19. Oktober 1988). Das LSG ist zu der Auffassung gelangt, die Rentenentziehung sei zu Recht erfolgt, weil es zu einer wesentlichen Besserung der Unfallfolgen gekommen sei. Nach den überzeugenden Ausführungen des vom SG gehörten medizinischen Sachverständigen Dr. D. sei die unfallbedingte MdE nur noch mit 10 vH zu bewerten. Auch nach den Angaben des im Berufungsverfahren zusätzlich befragten Sachverständigen Dr. S. sei eine wesentliche Besserung im Sinne der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu bejahen; dessen schriftliche MdE-Bezifferung mit 15 vH sei in Verbindung mit dessen mündlichen Angaben dahin zu verstehen, daß die Besserung mehr als 5 vH, allerdings keine vollen 10 Prozentpunkte betrage.
Zur Begründung ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin geltend, die Sache habe grundsätzliche Bedeutung. Grundsätzlich bedeutsam sei die Frage, wann eine Veränderung in den gesundheitlichen Verhältnissen als wesentlich anzusehen sei: Genüge hierfür eine nur geringfügige Überschreitung der 5-Prozent-Marke, oder sei die Wesentlichkeit erst bei der 8 1/3-Prozent-Marke erreicht? Eine exakte Grenzziehung durch das Bundessozialgericht (BSG) stehe noch aus. Ferner habe das LSG gegen § 122 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) iVm §§ 160 Abs 2 und Abs 3 Nr 4, 165 der Zivilprozeßordnung (ZPO) verstoßen, indem es die Aussage des Sachverständigen Dr. S. mit einem von der Sitzungsniederschrift abweichenden Inhalt berücksichtigt habe. Das LSG habe auch gegen den Untersuchungsgrundsatz verstoßen, weil es angesichts der Divergenz zwischen den mündlichen und schriftlichen Ausführungen zur nochmaligen Anhörung des Sachverständigen verpflichtet gewesen wäre. Schließlich habe das LSG gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs verstoßen, indem es bei seiner Beweiswürdigung dem Gutachten des Dr. D. gefolgt sei, ohne die beabsichtigte Beweiswürdigung zunächst mit der Klägerin zu erörtern. Wenn das LSG der Aussage des Dr. S. nicht habe folgen wollen, so wäre es verpflichtet gewesen, die Klägerin zuvor auf die Punkte hinzuweisen, in denen es die medizinischen Ausführungen für nicht überzeugend gehalten habe. Außerdem habe es auch insoweit den Untersuchungsgrundsatz verletzt; denn angesichts der abweichenden MdE-Bewertungen wäre das LSG zur Einholung eines Obergutachtens verpflichtet gewesen.
Die Beschwerde ist teilweise unbegründet, zum anderen Teil unzulässig.
Nach § 160 Abs 2 Nr 1 SGG ist die Revision zuzulassen, wenn die Sache grundsätzliche Bedeutung hat. In der Beschwerdebegründung muß nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache dargelegt werden. Die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ist gegeben, wenn zu erwarten ist, daß die Revisionsentscheidung die Rechtseinheit in ihrem Bestand erhalten oder die Weiterentwicklung des Rechts fördern wird (vgl Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, RdNr 84 mwN). Es muß eine klärungsbedürftige Rechtsfrage aufgeworfen sein, welche bisher revisionsgerichtlich noch nicht - ausreichend - geklärt ist (s ua BSG SozR 1500 § 160 Nr 17; BSG Beschluß vom 16. Dezember 1986 - 2 BU 173/86 -). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall nicht gegeben. Das BSG hat sich bereits mehrfach mit der Frage befaßt, wann eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 622 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF - nunmehr iS des § 48 Abs 1 des Sozialgesetzbuches/Verwaltungsverfahren (SGB X) - vorliegt, und hat in Abweichung von der früheren Rechtsprechung am 2. März 1971 grundsätzlich entschieden, eine relevante Änderung sei nur zu bejahen, wenn sich dadurch der Grad der MdE um "mehr als 5 vH" senkt bzw erhöht (BSGE 32, 245, 249). Es hat in dieser Entscheidung - im Gegensatz zur Ansicht der Beschwerdeführerin - nicht offengelassen, um wieviel mehr als 5 vH die Änderung betragen muß, um als wesentlich zu gelten, sondern hervorgehoben, daß es sich bei der Bewertung der MdE in jedem Einzelfall nur um eine Schätzung handeln kann, bei der der Grad der unfallbedingten MdE nicht völlig genau, sondern nur annäherungsweise feststellbar ist (BSG aaO, 247). Mit dieser Rechtsprechung hat sich die Beschwerdeführerin nicht hinreichend auseinandergesetzt und deshalb auch nicht dargelegt, inwiefern diese noch einer weiteren Ergänzung bedarf.
Soweit die Klägerin eine Verletzung der Vorschriften über den Inhalt der Sitzungsniederschrift rügt, ist die Beschwerde unzulässig. Für das Geltendmachen eines Verfahrensmangel setzt § 160 Abs 2 Nr 3 SGG voraus, daß die angefochtene Entscheidung auf dem Verfahrensmangel beruhen kann. Daran fehlt es im vorliegenden Fall. Die Beschwerde geht selbst davon aus, daß es sich bei den Ausführungen des LSG zu den Angaben des Dr. S. nur um Alternativerwägungen handelt. In erster Linie hat das LSG seine Entscheidung auf die seiner Meinung nach überzeugenden Ausführungen des Dr. D. gestützt, so daß es auf die Frage, ob das LSG eine nicht protokollierte Äußerung des Dr. S. verwerten durfte, nicht ankommt.
Mit der Rüge einer Verletzung des rechtlichen Gehörs iS von §§ 62, 112 Abs 2 Satz 2, 128 Abs 2 SGG kann die Beschwerde ebenfalls nicht durchdringen. Der sich aus den genannten Vorschriften ergebende Anspruch auf rechtliches Gehör und die dementsprechenden Hinweispflichten des Gerichts beziehen sich nur auf entscheidungserhebliche Tatsachen, die dem Betroffenen bislang unbekannt waren, und auf neue rechtliche Gesichtspunkte. Solche hat das LSG im vorliegenden Fall aber nicht in das Verfahren eingebracht; die für die streitentscheidende Frage maßgeblichen Sachverständigengutachten waren der Klägerin bekannt. Es gibt keinen allgemeinen Verfahrensgrundsatz, der das Gericht verpflichten würde, die Beteiligten vor einer Entscheidung auf eine in Aussicht genommene Beweiswürdigung hinzuweisen oder die für die richterliche Überzeugungsbildung möglicherweise leitenden Gründe zuvor mit den Beteiligten zu erörtern (vgl Beschluß des erkennenden Senats vom 31. Januar 1989 - 2 BU 127/88 -).
Soweit die Klägerin darüber hinaus rügt, das LSG habe den Sachverhalt nur unzureichend aufgeklärt, ist die Beschwerde unzulässig, weil sie sich auf keinen Beweisantrag bezieht, den das LSG ohne hinreichende Begründung übergangen haben soll (vgl § 160 Abs 2 Nr 3 iVm § 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen