Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfassungsbeschwerde. Nichtannahme. Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung. Vertragsärzte. Altersgrenze. Rechtsfrage. Klärung
Orientierungssatz
1. Wenn die Verfassungsrichter in Anwendung des § 93a Abs 2 Buchst a BVerfGG zu der Auffassung gelangt sind, die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerden seien jeweils nicht erfüllt, weil die Verfassungsbeschwerden keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung aufwiesen, ist diese Frage für die Rechtsanwendung (hier: Altersgrenze nach § 95 Abs 7 S 2 SGB 5) geklärt.
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen den Beschluss wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 2. Kammer vom 23.06.2004 - 1 BvR 1302/04).
Normenkette
BVerfGG § 93a Abs. 2; SGB 5 § 95 Abs. 7 S. 2 Fassung: 1992-12-22
Verfahrensgang
Tatbestand
Der am 11. November 1929 geborene Kläger, der ab 1964 als Kassen- bzw Vertragsarzt zugelassen war, beantragte bei den Zulassungsgremien, über den 31. Dezember 1998 hinaus trotz Überschreitens der Altersgrenze weiter vertragsärztlich tätig zu sein dürfen. Diesen Antrag lehnte der Zulassungsausschuss ab. Anrufung des Berufungsausschusses, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, die gesetzlichen Vorschriften über die grundsätzliche Beendigung der vertragsärztlichen Tätigkeit mit Vollendung des 68. Lebensjahres stünden mit Verfassungs- und Europarecht in Einklang.
Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der zu entscheidenden Rechtsfrage (Zulassungsgrund gemäß § 160 Abs 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) geltend.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist nicht begründet.
Ein auf das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache gestützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision hat nur Erfolg, wenn eine konkret bezeichnete Rechtsfrage in dem angestrebten Revisionsverfahren klärungsfähig (entscheidungserheblich) sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist. An der Klärungsbedürftigkeit fehlt es, wenn die zutreffende Beantwortung der Rechtsfrage nach dem Inhalt der maßgeblichen Rechtsvorschriften bzw der dazu bereits vorliegenden höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegen kann (vgl zB BSG SozR 3-2500 § 75 Nr 8 S 34; SozR 3-1500 § 146 Nr 2 S 6 und § 160a Nr 21 S 38). So verhält es sich hier.
Nach der - mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) vom 21. Dezember 1992 (BGBl I 2266) in Kraft gesetzten - Regelung des § 95 Abs 7 Satz 2 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) endet die Zulassung ab dem 1. Januar 1999 am Ende des Kalendervierteljahres, in dem der Vertragsarzt sein 68. Lebensjahr vollendet hat. Ergänzend bestimmt Art 33 § 1 Satz 1 GSG für Vertragsärzte, die bereits vor dem 1. Januar 1999 ihr 68. Lebensjahr vollendeten, dass ihre Zulassung am 1. Januar 1999 endet. Diese Vorschriften hat der beklagte Berufungsausschuss auf den Kläger zutreffend angewandt und das Ende der vertragsärztlichen Tätigkeit mit Ablauf des 31. Dezember 1998 festgestellt. Das stellt der Kläger selbst nicht in Abrede.
Die maßgeblichen gesetzlichen Vorschriften stehen mit dem Grundgesetz (GG) in Einklang. Der Senat hat die Verfassungsmäßigkeit der Altersgrenze von 68 Jahren für Vertragsärzte bereits bejaht (BSGE 83, 135, 140 ff = SozR 3-2500 § 95 Nr 18 S 68 ff; BSG SozR 3-2500 § 95 Nr 32 S 154). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Kammerbeschluss vom 31. März 1998 (SozR 3-2500 § 95 Nr 17 S 58 ff = NJW 1998, 1776 f) dieselbe Rechtsauffassung vertreten. Die Altersgrenze mit Vollendung des 68. Lebensjahres findet auch auf Psychotherapeuten Anwendung, wie sich aus § 95 Abs 7 Satz 2 Nr 2 SGB V idF des Art 2 des Gesetzes über die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, zur Änderung des SGB V und anderer Gesetze vom 16. Juni 1998 (BGBl I S 1311) ergibt. Auch insoweit ist die Altersgrenze von 68 Jahren verfassungskonform (BSGE 87, 184 = SozR 3-2500 § 95 Nr 26). Die Verfassungsbeschwerde der Klägerin dieses Verfahrens gegen dieses Senatsurteil hat das BVerfG nicht zur Entscheidung angenommen (Beschluss ÄKammerÜ vom 18. Mai 2001 - 1 BVR 522/01). Die von der Beschwerde erneut aufgeworfene Rechtsfrage der Verfassungsmäßigkeit der Altersgrenze für Vertragsärzte ist damit von den zuständigen Gerichten der Bundesrepublik Deutschland abschließend geklärt.
Allein der Umstand, dass dieser Rechtsprechung von den Verbänden der von der Altersgrenze betroffenen Ärzte und einigen Stimmen im Schrifttum widersprochen wird, begründet nicht die erneute Klärungsbedürftigkeit der Verfassungsmäßigkeit der Altersgrenze. Insbesondere die vom Kläger in den Mittelpunkt seiner Argumentation gerückte Erwägung, "das Bundesverfassungsgericht" habe sich mit dieser Rechtsfrage nicht hinreichend befasst, rechtfertigt nicht die erneute Durchführung eines Revisionsverfahrens. Das BVerfG hat - wie dargestellt - zur Vereinbarkeit der Altersgrenze für die vertragsärztliche Tätigkeit insbesondere mit Art 12 Abs 1 GG Stellung genommen. Wenn die Verfassungsrichter dabei in Anwendung des § 93a Abs 2 Buchst a Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) zu der Auffassung gelangt sind, die Voraussetzungen für die Annahme der Verfassungsbeschwerden seien jeweils nicht erfüllt, weil die Verfassungsbeschwerden keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung aufwiesen, ist diese Frage für die Rechtsanwendung geklärt. Allein die zuständigen Verfassungsrichter entscheiden auf der Grundlage des § 93b BVerfGG darüber, ob die Befassung des Senats mit einer Verfassungsbeschwerde geboten ist oder nicht. Das Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren ist weder geeignet noch dazu bestimmt, ein Forum der Kritik an der Entscheidung des Verfassungsgerichts über die Annahme oder Nichtannahme von Verfassungsbeschwerden zu bieten.
Auch mit dem Einwand des Klägers, die Altersgrenze sei im Hinblick auf andere Maßnahmen zur Begrenzung des Anstiegs der Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung nicht erforderlich, hat sich der Senat bereits auseinandergesetzt. Er hat eingehend dargelegt, dass ein Zuwachs von Vertragsärzten auch außerhalb der Entwicklung des vertragsärztlichen Honorars zu Ausgabensteigerungen bei den Krankenkassen beitragen kann, und dass die Prognose des Gesetzgebers, dass es sich so verhalten werde, nach den Maßstäben, die für die gerichtliche Kontrolle von gesetzgeberischen Prognosen gelten, nicht zu beanstanden ist (BSGE 83, 135, 142 = SozR 3-2500 § 95 Nr 18 S 70). Auch der Umstand, dass im Jahre 2003 nach der Darstellung der Beschwerdebegründung im Deutschen Bundestag der Antrag gestellt worden ist, die Altersgrenze für Vertragsärzte zu beseitigen, verleiht der Rechtsfrage keine (erneute) grundsätzliche Bedeutung. Im Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz - GMG -) vom 14. November 2003 (BGBl I, 2190) hat der Gesetzgeber an den Vorschriften über die Altersgrenzen im Vertragsarztrecht nichts geändert. Damit entspricht es nach wie vor der Überzeugung des parlamentarischen Gesetzgebers, dass die Altersgrenzen notwendig und zur Erreichung der Zwecke einer qualitativ hochstehenden vertragsärztlichen Versorgung, insbesondere zur Begrenzung des Anstiegs der Ausgaben der Krankenkassen, erforderlich und geeignet sind.
Die Tatsache, dass es in einzelnen Regionen der Bundesrepublik Deutschland (etwa in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands) in einigen ärztlichen Fachgebieten möglicherweise inzwischen zu wenig niedergelassene Ärzte gibt bzw ein entsprechender Mangel in Zukunft zu besorgen ist, rechtfertigt keine andere verfassungsrechtliche Beurteilung. In den meisten Planungsbereichen in der Bundesrepublik Deutschland und in den meisten ärztlichen Fachgebieten besteht nach wie vor ein Zustand der Überversorgung; das gilt insbesondere für großstädtische Ballungsräume und für Gebiete, die für die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit offenbar als besonders attraktiv angesehen werden. Die zur Begrenzung des Anstiegs der Zahl der zugelassenen Vertragsärzte geschaffenen Instrumentarien der vertragsärztlichen Bedarfsplanung hat auch der Gesetzgeber des GMG nicht geändert. Das rechtfertigt ebenfalls den Schluss, dass der Gesetzgeber die Begrenzung des Anstiegs der Zahl der Vertragsärzte bezogen auf das ganze Bundesgebiet nach wie vor als wichtiges Anliegen bewertet. Auf den Zusammenhang zwischen Zulassungsbeschränkungen und der Einführung von Altersgrenzen für die vertragsärztliche Tätigkeit (auch) unter dem Gesichtspunkt der angemessenen Lastenverteilung auf die verschiedenen Ärztegenerationen hat der Senat bereits ausdrücklich hingewiesen (BSGE 83, 135, 142 = SozR 3-2500 § 95 Nr 18 S 71 f).
Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 Absätze 1 und 4 SGG in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung.
Fundstellen