Leitsatz (redaktionell)
Der 4. Senat hält an der im Urteil vom 1978-01-19 4 RJ 47/77 = FEVS 26, 384) wiedergegebenen Rechtsauffassung fest, daß der Versicherungsträger selbst dann bis zur Hälfte der Geldleistungen aufrechnen darf, wenn dadurch der Leistungsberechtigte in höherem Maße als bisher sozialhilfebedürftig wird.
Normenkette
SGB 1 § 51 Abs. 1 Fassung: 1975-12-11, Abs. 2 Fassung: 1975-12-11, § 52 Fassung: 1975-12-11; BGB § 394
Gründe
Der Senat hält an der im Urteil vom 19. Januar 1978 - 4 RJ 47/77 - (BSGE 45, 271 = SozR 1200 § 51 Nr 3) wiedergegebenen Rechtsauffassung fest, daß der Versicherungsträger selbst dann bis zur Hälfte der Geldleistungen aufrechnen darf, wenn dadurch der Leistungsberechtigte in höherem Maße als bisher sozialhilfebedürftig wird.
Es ist fraglich, ob der 8. Senat, wenn er die von der beklagten Berufsgenossenschaft (BG) vorgenommene Verrechnung des Beitragsanspruchs der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) mit der ihr, der BG, obliegenden Zahlung der Dauerteilrente mißbilligt, von dem Urteil des 4. Senats vom 19. Januar 1978 abweicht.
Die Regelung der §§ 51, 52 Sozialgesetzbuch (SGB) 1 betrifft drei Fälle:
1. Der Leistungsträger rechnet gegen Ansprüche des Berechtigten auf mit eigenen, gegen den Berechtigten gerichteten Ansprüchen, die sich unmittelbar aus dem zwischen ihm und dem Berechtigten bestehenden Leistungs-(Versicherungs-) Verhältnis ergeben; zB der Berechtigte schuldet Beiträge, die die Grundlage für die Leistungspflicht des Trägers darstellen.
2. Der Träger rechnet auf mit eigenen Ansprüchen, die sich nicht unmittelbar aus dem Leistungsverhältnis ergeben; zB der Berechtigte kann eine Rente aus der Rentenversicherung verlangen, schuldet aber dem Träger der Rentenversicherung Beiträge für andere Personen, deren Arbeitgeber er war.
3. Der Träger verrechnet gegen Ansprüche des Berechtigten die gegen diesen gerichteten Ansprüche eines anderen Leistungsträgers.
Das Urteil vom 19. Januar 1978 betraf den 2. Fall, die Anfrage des 8. Senats betrifft dagegen den 3. Fall. Es ist immerhin denkbar, die beiden Fälle je verschieden zu behandeln (vgl dazu Wolber, SozVers 78, 181 unter III 4 mit der Entgegnung von Florian, aaO Seite 182). Zwar nimmt § 52 SGB 1 auf § 51 SGB 1 Bezug. Aber die Interessenlage ist doch möglicherweise anders. Bei der Aufrechnung ist die Verbindung zwischen den einander gegenübergestellten Ansprüchen wesentlich enger als bei der Verrechnung.
Der Senat hält an seiner Rechtsauffassung zum 2. Fall fest.
Auf die Gründe des Urteils vom 19. Januar 1978 wird Bezug genommen. Zu den im Anfrage-Beschluß des 8. Senats vom 6. Dezember 1978 - 8 RU 12/78 - erwähnten Argumenten ist folgendes zu sagen:
Die Stellungnahme des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung vom 26. August 1977 (Die Beiträge 1978, 16, dazu siehe auch Seiten 198, 203) zwingt nicht zu der Auslegung des § 51 Abs 2 SGB 1 in der von diesem vertretenen Richtung.
Auch der Entwurf des 10. Buches des SGB (BT-Drucks 8/2034, Art II § 26 Nr 2) hat insoweit keine wesentliche Bedeutung. Nach der Begründung zu diesem Entwurf (aaO S 42) soll im Verhältnis des Abs 2 zu Abs 1 des § 51 SGB 1 statt des "Gegenteilsschlusses" wohl ein Ähnlichkeitsschluß gezogen werden. Der Gesetzgeber ist insoweit frei. Daß die beabsichtigte Änderung des § 51 Abs 2 SGB 1 bereits am Tage nach der Verkündung in Kraft treten soll (Art II § 35 Abs 4 des Entwurfs), hat die Bundesregierung nicht mit der Notwendigkeit einer "Klarstellung" begründet (aaO S 44); eine solche ist nur beim Wohngeldgesetz (Art II § 23 des Entwurfs) vorgesehen, während die Änderung des § 51 SGB 1 lediglich "frühestmöglich" erreicht werden soll.
Der Hinweis auf den subsidiären Charakter der Bundessozialhilfegesetz-Leistungen bringt nichts Neues; er steht der Rechtsauffassung des beschließenden Senats nicht entgegen. Die entscheidende Berücksichtigung sozialpolitischer Gründe ist Aufgabe des Gesetzgebers.
Die Auffassung des 4. Senats findet eine Stütze auch in § 394 Satz 2 BGB, wenn auch die dort bestimmte Ausnahme vom Verbot der Aufrechnung gegen unpfändbare Forderungen wohl nur den 1. Fall betrifft, daß nämlich gegen die "Hebungen" (Versicherungsleistungen) diejenigen geschuldeten Beiträge aufgerechnet werden, die mit den Hebungen in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Satz 1 des § 394 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) enthält ein Aufrechnungsverbot gegen Forderungen, die nicht der Pfändung unterworfen sind. Diese Vorschrift dient nicht nur dem Interesse des Forderungsberechtigten, sondern auch dem öffentlichen Interesse, indem vermieden werden soll, daß die geschützte Person der öffentlichen Fürsorge anheim fällt (vgl BGHZ 4, 153, 154). Die Ausnahme vom Aufrechnungsverbot nach Satz 2 des § 394 BGB bedeutet demnach, daß der Gesetzgeber in diesen Fällen dem Eingehen der Beiträge bei den Kassen mehr Gewicht beilegt, als der Vermeidung der Inanspruchnahme der öffentlichen Fürsorge (die Fürsorge war schon immer subsidiär, § 21 Reichsverordnung über die Fürsorgepflicht vom 13.2.1924, § 5 Reichsgrundsätze der öffentlichen Fürsorge vom 1.8.1931). Mit diesem Gedanken des Satzes 2 des § 394 BGB stimmt die Auslegung des § 51 Abs 2 SGB 1 in dem Urteil vom 19. Januar 1978 überein. Es ist zu berücksichtigen, daß die Versicherungsträger, die jetzt an die Stelle der genannten Kassen getreten sind, ihre Leistungen an ihre Versicherten erbringen müssen, auch wenn der Arbeitgeber diesen Versicherten die Beiträge für diese nicht an den Träger abgeführt hat. Ob ein allgemeiner Schuldnerschutz vorzusehen ist (vgl dazu insbesondere § 850 f Abs 2 Halbsatz 2 Zivilprozeßordnung - ZPO -) und wie er auszusehen hat, ist dem Gesetzgeber überlassen. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat bei der Aufrechnung als "unterste Grenze des Sozialschutzes", die auch derjenige Arbeitgeber nicht überschreiten dürfe, der gegen den Arbeitnehmer Gegenforderungen wegen einer vom Arbeitnehmer im Rahmen seines Arbeitsverhältnisses begangenen vorsätzlichen Nachteilszufügung hat, die Vorschrift des § 850 d ZPO angesehen (Urteil vom 16. Juni 1960 - 5 AZR 121/60-AP Nr 8 zu § 394 BGB), allerdings nicht für den Fall, daß der Arbeitnehmer bereits ausgeschieden ist (Urteil vom 28. August 1964 - 1 AZR 414/63 - BAGE 16, 228, 237 = AP Nr 9 zu § 394 BGB). In dem zweiten Urteil heißt es (AP aaO Bl 313 Nr 3 aE): "Selbst wenn ein solcher Arbeitnehmer, der seinen Arbeitgeber in dieser Weise vorsätzlich geschädigt hat, durch die Nichtbegleichung unpfändbarer Forderungen und deren Tilgung im Wege der Aufrechnung in eine wirtschaftliche Notlage kommen sollte, scheint es nicht Sache des Arbeitgebers zu sein, dieser wirtschaftlichen Notlage seines doch ungetreuen Arbeitnehmers durch Auszahlung "unpfändbarer" Forderungen Rechnung zu tragen. Dem Arbeitnehmer kann in solchen Fällen vielmehr zugemutet werden, zur Existenzsicherung die öffentliche Fürsorge anzurufen."
Fundstellen