Entscheidungsstichwort (Thema)

Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung. Sachkunde des Gerichts

 

Orientierungssatz

Ein Verstoß gegen die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung liegt vor, wenn das SG seine besondere Sachkunde zu einer medizinischen Frage im Urteil nicht darlegt und ebensowenig angibt, woher es die hierzu erforderlichen Fachkenntnisse besitzt (vgl BSG vom 2.6.1959 2 RU 20/56 = BSG SozR Nr 33 zu § 103 SGG).

 

Normenkette

SGG §§ 103, 128 Abs 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 30.09.1987; Aktenzeichen L 4 U 29/86)

 

Gründe

Der Kläger hat mit seinem Begehren, wegen einer weiteren - von der Beklagten - anerkannten Folge eines 1972 erlittenen Arbeitsunfalls Verletztenrente nach einer höheren Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) zu erhalten, im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) Schleswig zum Teil Erfolg gehabt; das SG hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE um 30 vH (statt bisher 25 vH) zu gewähren (Urteil vom 24. Februar 1986). Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 30. September 1987 die Berufung der Beklagten nach § 150 Nr 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als zulässig angesehen, da das Urteil an einem wesentlichen Verfahrensmangel leide. Das SG hätte in seinem Urteil nicht ohne besonderen Grund von der Beurteilung der ihm vorliegenden ärztlichen Gutachten abweichen dürfen; es habe auch nicht aufgrund eigener Sachkunde dargelegt, daß die von der Rechtsprechung und im versicherungsmedizinischen Schrifttum entwickelten allgemeinen Erfahrungssätze unrichtig und daher hier nicht anwendbar seien.

Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Nichtzulassungsbeschwerde. Er rügt als Verfahrensmangel, das LSG habe zu Unrecht die Berufung als zulässig angesehen. Das LSG habe in seiner Urteilsbegründung keinen Verfahrensfehler aufgezeigt; vielmehr habe es dem SG eine fehlerhafte Rechtsanwendung vorgeworfen.

Die Beschwerde ist nicht begründet.

Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist die Revision nur zuzulassen, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) liegt ein wesentlicher Mangel des Verfahrens vor, wenn das Gericht, anstatt die Berufung als unzulässig zu verwerfen, in der Sache entscheidet (BSG SozR Nr 191 zu § 162 SGG; s auch BSGE 36, 181, 182 mwN).

Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ist die Entscheidung des LSG, die Berufung wegen Vorliegens eines wesentlichen Verfahrensmangels als zulässig anzusehen, jedenfalls rechtlich nicht zu beanstanden. Das SG hat in seinem Urteil zur Begründung der von ihm angenommenen Gesamt-MdE nicht nur die Innenohrschwerhörigkeit höher als der von ihm gehörte Sachverständige bewertet, was allein grundsätzlich noch keinen wesentlichen Verfahrensmangel bildet. Das SG hat für die Feststellung der unfallbedingten Gesamt-MdE auch medizinische Beurteilungen zur Kompensationsfähigkeit zwischen Gehör und Sehvermögen vorgenommen, die von keinem bis dahin gehörten Sachverständigen gedeckt worden sind. Das SG hat dabei selbst medizinische Zusammenhänge angenommen und beurteilt. Seine evtl besondere Sachkunde zu dieser medizinischen Frage hat es im Urteil nicht dargelegt und ebensowenig angegeben, woher es die hierzu erforderlichen Fachkenntnisse besitzt. Damit liegt - wie das LSG zu Recht angenommen hat - ein Verstoß gegen die Grenzen der richterlichen Beweiswürdigung vor (vgl dazu BSG SozR Nr 33 zu § 103 SGG).

Die Kostenentscheidung folgt aus einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666686

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