Leitsatz (amtlich)

Ist auf Antrag des Versicherten nach SGG § 109 ein bestimmter Arzt gutachtlich gehört worden, so ist das Gericht desselben Rechtszuges nur verpflichtet, einen zweiten Arzt zu derselben Beweisfrage gutachtlich zu hören, wenn besondere Umstände das Verlangen des Versicherten rechtfertigen.

 

Normenkette

SGG § 109 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 21. August 1956 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Klägerin erlitt am 29. Juni 1939 beim Kartoffelhacken einen Unfall; sie rutschte aus und verstauchte sich den rechten Fuß. Die Beklagte gewährte ihr deshalb zeitweise eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von anfänglich 100 v.H. und zuletzt am 31. Dezember 1940) 25 v.H. Wiederholte Anträge der Klägerin auf Wiedergewährung der Rente lehnte die Beklagte ab, weil Gutachten und Auskünfte von Ärzten des St. Elisabeth Krankenhauses Hünfeld, der Universitätsklinik Marburg und des Städtischen Krankenhauses Fulda zu dem Ergebnis geführt hatten, daß die zweifellos bestehenden Beinbeschwerden der Klägerin nicht auf den Unfall von 1939, sondern auf eine anlagebedingte Knochenerkrankung zurückzuführen seien.

Einen erneuten, im September 1953 gestellten Antrag auf Wiedergewährung der Rente wegen Verschlimmerung der Unfallfolgen lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 9. November 1953 ab, nachdem die Ärzte Dr. St... und Dr. T... vom Städtischen Krankenhaus Fulda in einem Gutachten vom 3. Oktober 1953 zu demselben Ergebnis gekommen waren wie die früher gehörten Sachverständigen. In beiden Vorinstanzen ist die Klage gegen den ablehnenden Bescheid der Beklagten ohne Erfolg geblieben.

Die Revision ist ausschließlich darauf gestützt, daß das Landessozialgericht (LSG.) dem Antrag der Klägerin auf Vernehmung des Facharztes Dr. H. nicht entsprochen und dadurch § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) verletzt habe.

Die Revision wäre nur statthaft, wenn der von der Klägerin gerügte Verfahrensmangel tatsächlich vorläge (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG - vgl. BSG. 1 S. 150). Dies trifft jedoch nicht zu. Die Klägerin hatte vor dem LSG. zunächst nach § 109 SGG beantragt, den Facharzt für Chirurgie Dr. G. Bad Hersfeld, gutachtlich zu hören. Diesem Antrag hat der Vorderrichter stattgegeben. Der Sachverständige hat sein Gutachten am 15. Mai 1956 schriftlich mit folgendem Ergebnis erstattet: Bei der Klägerin liege, wie bereits in den früheren Gutachten festgestellt worden sei, ein Enchondrom vor; dieses sei nicht traumatisch entstanden. Der Unfall vom 29. Juni 1939 habe allenfalls zu einer schnelleren Entwicklung der Erkrankung beigetragen. Schon 4 Wochen nach dem Unfall hätten die von der Enchondromentwicklung ausgehenden Beschwerden der Klägerin keinen wesentlichen Zusammenhang mehr mit dem Unfallereignis gehabt. Die auf Unfallfolgen beruhende MdE. betrage weniger als 10 v.H.

Nachdem die Klägerin von dem Gutachten des Dr. G. Kenntnis genommen hatte, hat sie um Untersuchung und Begutachtung durch Dr. H. gebeten. Diesen Antrag konnte das LSG. ablehnen, ohne dadurch § 109 SGG zu verletzen. Ein Ablehnungsgrund ergab sich allerdings nicht schon daraus, daß nach § 109 Abs. 1 Satz 1 SGG "ein" bestimmter Arzt zu hören ist. Es ist einhellige Auffassung in der Rechtsprechung und im Schrifttum sowohl zu § 109 SGG als auch zu § 1681 der Reichsversicherungsordnung (RVO) und § 104 Verwaltungsverfahrensgesetz (VerwVG), den Vorgängern jener Bestimmung, daß sich die Pflicht des Gerichts nicht darauf beschränkt, nur einen einzigen ärztlichen Sachverständigen zu hören. Das Wort "ein" ist nicht Zahlwort, sondern unbestimmter Artikel. Anderenfalls ließe sich die Zielsetzung der Vorschrift, dem Versicherten oder Versorgungsberechtigten die Beurteilung des medizinischen Sachverhalts durch einen Arzt seines Vertrauens zu ermöglichen, beispielsweise in den Fällen nicht oder nicht ausreichend verwirklichen, in denen mehrere Ärzte verschiedener Fachgebiete gehört werden müssen, nach der Begutachtung neue Leiden auftreten, das Gutachten vom Prozeßgegner angegriffen wird oder sonstige neue Gesichtspunkte eine zweite oder weitere Stellungnahme durch den bereits angehörten oder einen anderen Arzt erforderlich machen (vgl. Brackmann, Handbuch der Soz. Vers. Bd. 1 S. 244 x und y; Peters-Sautter-Wolff, Komm. zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand: August 1957, § 109 Anm. 4; Hofmann-Schröter, Komm. zum SGG, 2. Aufl. § 109 Anm. 1; Teutsch in Sozialgerichtsbarkeit 1954 S. 101; RVO-Mitgl. Komm. zu § 1681 Anm. 1; RVA. in EuM. 21 S. 55). Dem Recht des Versicherten oder Versorgungsberechtigten, die gutachtliche Anhörung bestimmter Arzte zu beantragen, war jedoch schon nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.) und des Reichsversorgungsgerichts (RVGer.) eine Grenze gesetzt. Es konnte, wenn der Arzt des Vertrauens in dem Verfahren ausreichend zu Wort gekommen war, die Anhörung eines weiteren Arztes nicht allein deshalb verlangt werden, weil das erstattete Gutachten den Erwartungen des Rentenbewerbers nicht entsprach. Vielmehr wurde diesem ein Anspruch auf Anhörung mehrerer Ärzte - gleichzeitig oder nacheinander - nur zugestanden, wenn "besondere Umstände Vorlagen, die ein solches Verlangen gerechtfertigt und im Rahmen einer zweckentsprechenden Rechtsverfolgung liegend erscheinen ließen" (vgl. RVGer. 10 S. 17; RVA. - Großer Senat - grunds. Entsch. Nr. 4637 in AN 1933 S. 244). Dieser Rechtsgrundsatz gilt auch nach der an das bisherige Recht anknüpfenden Neuordnung des Verfahrensrechts der Sozialversicherung und der Kriegsopferversorgung. Etwas anderes läßt sich nicht daraus herleiten, daß § 109 Abs. 2 SGG Ablehnungsgründe geschaffen hat, die das frühere Recht nicht kannte: die auf grober Nachlässigkeit oder Verschleppungsabsicht beruhende Verspätung der Antragstellung. Aus der amtlichen Begründung zu § 57 - jetzt § 109 SGG - des Entwurfs einer Sozialgerichtsordnung (BT Drucks. Nr. 4357/49) ergibt sich, daß § 109 Abs. 2 SGG dem Mißbrauch des Antragsrechts schon in Fällen entgegenwirken soll, in denen noch keine Begutachtung durch den "Arzt des Vertrauens" stattgefunden hat. Diese Neuerung hat die von der bisherigen Rechtsprechung herausgearbeiteten Ablehnungsgrundsätze nicht überflüssig werden lassen; denn in Fällen, in denen einem Antrag aus § 109 Abs. 1 SGG bereits stattgegeben worden ist, muß ein Wiederholungsantrag nicht unbedingt mit Verschleppungsabsicht oder grober Nachlässigkeit verbunden sein. Nach der Auffassung des Senats kann deshalb auch nach dem Inkrafttreten des SGG die Anhörung eines zweiten oder weiteren Arztes nicht ohne Einschränkung verlangt werden.

Dem steht nicht entgegen, daß der Versicherungsträger während des gerichtlichen Verfahrens beliebig viele ärztliche Gutachten einholen und dem Gericht vorlegen kann. Dadurch wird der Grundsatz der gleichen Behandlung der Prozeßbeteiligten nicht verletzt; denn ein vom Versicherungsträger vorgelegtes Gutachten ist kein Beweismittel im Sinne des Beweises durch Sachverständige (§§ 402 ff ZPO), sondern Parteivorbringen. Solche Privatgutachten kann auch der Versicherte in beliebiger Zahl dem Gericht unterbreiten. Die vom Senat vertretene Auffassung entspricht der Entscheidung des BSG. vom 31. Juli 1957 - 9 RV 498/55 - (SozR. SGG § 109 Bl. Da 3 Nr. 6) und deckt sich auch mit der - soweit ersichtlich - einhelligen Meinung im Schrifttum (vgl. Brackmann a.a.O.; Peters-Sautter-Wolff a.a.O.; Hofmann-Schroeter a.a.O.; Hastler, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit § 109 SGG, Anm. 4; Teutsch a.a.O.; Wagner in Sozialgerichtsbarkeit 1956 S. 219; Krebs in Sozialgerichtsbarkeit 1956 S. 273; so auch LSG. Baden-Württemberg in Breithaupt 1956 S. 431).

Die Revision hat, obwohl dies nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG erforderlich gewesen wäre, keine Tatsachen angegeben, die das LSG. hätten veranlassen müssen, dem auf Grund des § 109 SGG gestellten Antrag auf Anhörung eines zweiten Arztes stattzugeben. Aus den Feststellungen des angefochtenen Urteils ergibt sich, daß solche besonderen Umstände auch nicht Vorlagen. Nachdem bereits mehrere Ärzte zu dem Ergebnis gelangt waren, die Beinbeschwerden der Klägerin seien nicht auf den Unfall vom 29. Juni 1939, sondern auf eine schicksalhafte Knochenerkrankung zurückzuführen, hat sich auch der nach § 109 SGG auf Antrag der Klägerin gutachtlich gehörte Arzt Dr. G. dieser Auffassung in einem ausführlichen, keine wesentlichen Punkte offenlassenden Gutachten vom 15. Mai 1956 angeschlossen. Von diesem Zeitpunkt bis zur Stellung ihres Antrages, den Facharzt Dr. H. zu demselben Beweisthema gutachtlich zu hören, hat sich im Krankheitsbild der Klägerin nichts geändert; es sind auch keine sonstigen Gesichtspunkte hervorgetreten, die das LSG. verpflichtet hätten, der Klägerin das Recht aus § 109 SGG noch einmal zu gewähren.

Da der gerügte Verfahrensmangel somit nicht vorliegt, war die Revision als unzulässig zu verwerfen (§ 169 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2149384

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