Entscheidungsstichwort (Thema)
Bezeichnung von Verfahrensmängeln. Antrag auf Anhörung eines Gutachters
Orientierungssatz
1. Verfahrensmängel, die mit der Revision gerügt werden sollen, brauchen nicht schon in der Revisionsschrift, sondern erst in der Revisionsbegründung bezeichnet zu werden (§ 164 Abs 2 S 2 SGG).
2. Nach § 109 SGG braucht der Arzt, der gutachtlich gehört werden soll, nicht namentlich benannt zu werden. Es genügt vielmehr jede Angabe, die es ermöglicht, den vom Kläger gemeinten Arzt ohne weiteres zu bestimmen (vgl BSG 1957-01-21 4 RJ 248/56 = SozR Nr 5 zu § 109 SGG)
Normenkette
SGG § 164 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03, § 109 Fassung: 1953-09-03
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 25.04.1956) |
SG Landshut (Entscheidung vom 18.10.1954) |
Tenor
Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 25. April 1956 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin geriet am 30. April 1952 beim Jauchefahren unter ihr Fuhrwerk. Dabei erlitt sie eine Beckenquetschung, Blutergüsse an beiden Oberschenkeln, eine Distorsion des linken Kniegelenks und eine Gehirnerschütterung. Im Auftrage der Beklagten wurde sie zweimal von dem damaligen Chefarzt des Krankenhauses Passau, Dr. N, begutachtet. Auf Grund des ersten Gutachtens gewährte ihr die Beklagte durch Bescheid vom 28. November 1952 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von zuletzt 20 v. H. Im Kontrollgutachten vom 11. Mai 1953 bewertete der Sachverständige die durch den Unfall verursachte MdE. nur noch mit 10 v. H. und wies darauf hin, daß in beiden Kniegelenken eine nicht auf den Unfall zurückzuführende Arthrosis deformans bestehe. Daraufhin entzog die Beklagte der Klägerin die vorläufige Rente durch Bescheid vom 19. Mai 1953 mit Ablauf des Monats Juni 1953.
Die gegen den Entziehungsbescheid gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG.) Landshut durch Urteil vom 18. Oktober 1954 abgewiesen, wobei es sich dem Gutachten des Dr. N angeschlossen hat. Mit der form- und fristgerecht eingelegten Berufung hat die Klägerin vor allem das Kontrollgutachten des Dr. N angegriffen und beantragt, "ein neues Gutachten durch das Krankenhaus Passau erstellen zu lassen, nachdem nunmehr ein neuer Oberarzt eingetreten und ein neuer Röntgenfacharzt bestellt ist" (Schriftsatz vom 28. Oktober 1955). In einem am Tage vor der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG.) eingegangenen Schriftsatz hat sie nochmals beantragt, "ein neues Gutachten über die Unfallfolgen des Städtischen Krankenhauses Passau zu erholen". Das LSG. hat die Berufung ohne Beweiserhebung mit folgender Begründung zurückgewiesen: Die Streitsache sei nach den Begutachtungen des Dr. N medizinisch hinreichend geklärt, die Einholung eines weiteren ärztlichen Gutachtens von Amts wegen also nicht erforderlich. Der Antrag der Klägerin, vom Städtischen Krankenhaus Passau ein ärztliches Gutachten einzuholen, sei nicht nach § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zu beurteilen, denn dieses Krankenhaus habe bereits am 11. Mai 1953 ein Gutachten erstattet.
Gegen dieses am 13. Juli 1956 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 13. August 1956 durch ihren Prozeßbevollmächtigten Revision eingelegt. Nachdem die Begründungsfrist um einen Monat verlängert worden war, hat die Klägerin das Rechtsmittel mit zwei bis zum 12. Oktober 1956 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangenen Schriftsätzen begründet. Die Revision rügt: Das LSG. habe durch die Ablehnung des Antrags, ein neues Gutachten vom Städtischen Krankenhaus Passau einzuholen, gegen § 109 SGG verstoßen; denn der Antrag sei erkennbar auf eine gutachtliche Anhörung des neuen Leiters dieses Krankenhauses gerichtet gewesen. Außerdem habe der Vorderrichter den Bericht des behandelnden Arztes Dr. A vom 16. Oktober 1952 und die dem SG. vorgelegte Bescheinigung desselben Arztes vom 16. Oktober 1954 nicht gewürdigt. Schließlich bezeichnet die Revision das Gutachten des Dr. N als unzureichend und widerspruchsvoll und meint, in der Verwertung dieses Gutachtens liege eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, über den 30. Juni 1953 hinaus eine Rente nach einer MdE. um 20 v. H. an die Klägerin zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision als unzulässig zu verwerfen,
hilfsweise,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Sie führt aus: Die Revisionsschrift enthalte keine zulässigen Revisionsrügen; außerdem seien dem Vorderrichter keine Verfahrensmängel unterlaufen.
II
Die Revision ist zulässig und begründet.
Entgegen der Auffassung der Beklagten brauchen Verfahrensmängel, die mit der Revision gerügt werden sollen, nicht schon in der Revisionsschrift, sondern erst in der Revisionsbegründung bezeichnet zu werden (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Diesem Erfordernis ist die Klägerin nachgekommen. Sie hat u. a. Verletzung des § 109 SGG und damit einen Verfahrensmangel gerügt und zur Rechtfertigung dieser Rüge darauf hingewiesen, daß das LSG. ihrem Antrage, ein Gutachten des Städtischen Krankenhauses Passau über die Unfallfolgen einzuholen, nicht stattgegeben habe. Der gerügte Verfahrensmangel liegt auch vor. Nach § 109 SGG braucht der Arzt, der gutachtlich gehört werden soll, nicht namentlich benannt zu werden. Es genügt vielmehr jede Angabe, die es ermöglicht, den vom Kläger gemeinten Arzt ohne weiteres zu bestimmen (vgl. BSG. in SozR. SGG § 109 Bl. Da 3 Nr. 5; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15. März 1957, S. 244 x; Teutsch in "Die Sozialgerichtsbarkeit" 1954 S. 101 (103)). Der Antrag der Klägerin ließ klar erkennen, daß er auf eine gutachtliche Anhörung des an die Stelle des Dr. N getretenen neuen Leiters des Städtischen Krankenhauses Passau gerichtet war. Dieser Arzt ist in dem vorliegenden Rechtsstreit noch nicht als Sachverständiger vernommen worden. Schon aus diesem Grunde ist die vom Vorderrichter gegebene Begründung, ein im Verfahren bereits vernommener Arzt könne nicht noch einmal auf Grund des § 109 SGG als Sachverständiger benannt werden, nicht geeignet, die Ablehnung des von der Klägerin gestellten Antrags zu tragen. Es ist auch kein anderer Grund ersichtlich, der die Ablehnung des Antrags gerechtfertigt hätte. Die Revision ist daher nach § 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG statthaft, ohne daß geprüft zu werden brauchte, ob auch die weiteren Verfahrensrügen zu Recht erhoben sind oder eine Gesetzesverletzung im Sinne des § 162 Abs. 1 Nr. 3 SGG vorliegt.
Die Revision ist auch begründet; denn es läßt sich nicht ausschließen, daß das Ergebnis der noch ausstehenden Beweiserhebung zu einer das Klagebegehren ganz oder teilweise rechtfertigenden Beweiswürdigung führt. Da das BSG. in der Sache selbst nicht entscheiden kann, war das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem abschließenden Urteil des LSG. vorbehalten.
Fundstellen