Entscheidungsstichwort (Thema)
Nur Hinterbliebene als Vertriebene anerkannt
Leitsatz (redaktionell)
Kann ein Hinterbliebener ein Recht auf Hinterbliebenenleistungen nach FRG § 1 Buchst a iVm FRG §§ 14, 15 (und gegebenenfalls 16) auch dann haben, wenn nur der Hinterbliebene als Vertriebener anerkannt ist, der Versicherte aber keine der Voraussetzungen des FRG § 1 erfüllt und er auch nicht schon vor der Vertreibung des Hinterbliebenen verstorben ist?
Normenkette
FRG § 1 Buchst. a Fassung: 1960-02-25, § 14 Fassung: 1960-02-25, § 15 Fassung: 1960-02-25, § 16 Fassung: 1960-02-25; SGG § 43 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Dem Großen Senat des Bundessozialgerichts wird gemäß § 43 des Sozialgerichtsgesetzes folgende Frage von grundsätzlicher Bedeutung zur Entscheidung vorgelegt:
Kann ein Hinterbliebener ein Recht auf Hinterbliebenenleistungen nach § 1 Buchst a) iVm §§ 14, 15 (und ggf 16) Fremdrentengesetz auch dann haben, wenn nur der Hinterbliebene als Vertriebener anerkannt ist, der Versicherte aber keine der Voraussetzungen des § 1 Fremdrentengesetz erfüllt und er auch nicht schon vor der Vertreibung des Hinterbliebenen verstorben ist?
Gründe
I
Die Ehe der 1909 geborenen Klägerin mit dem 1906 geborenen O. (O.L.) ist 1947 in ... aus dem Verschulden von O.L. geschieden worden. Zu jener Zeit hatten beide die tschechoslowakische Staatsangehörigkeit; sie sind jüdischer Abstammung und Opfer nationalsozialistischer Verfolgung.
1948 ist O.L. nach Ecuador ausgewandert; bis dahin hatte er in der Tschechoslowakei eine Beitragszeit von mehr als 60 Kalendermonaten zurückgelegt. Im Oktober 1966 ist er in Quito/Ecuador als ecuadorianischer Staatsangehöriger verstorben; er war in zweiter Ehe mit der noch in Ecuador lebenden Beigeladenen verheiratet gewesen. Die Klägerin, die ebenfalls (aber später als O.L.) nach Ecuador ausgewandert war, lebt seit 1961 in der Bundesrepublik Deutschland; sie hat die deutsche Staatsangehörigkeit und ist als Vertriebene anerkannt. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) haben die Klägerin und O.L. anläßlich der Ehescheidung einen außergerichtlichen Unterhaltsvergleich geschlossen, aufgrund dessen O.L. der Klägerin lebenslang eine Unterhaltsrente von monatlich 3.000,-- tschechischen Kronen zahlen und ein Wohnrecht gewähren sollte. Bis Mai 1949 hat die Klägerin hieraus Unterhaltsleistungen erhalten.
Den im Juni 1972 gestellten Antrag auf Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 2. August 1974 ab. Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen, das LSG hat ihr für die Zeit ab Juli 1972 stattgegeben (Urteil vom 1. Februar 1978). Es hält die Wartezeit für die Rente mit Rücksicht auf die §§ 1 Buchst e, 14 und 15 des Fremdrentengesetzes (FRG) für erfüllt. Zwar habe O.L. nicht zu dem Personenkreis des § 1 Buchst a bis d FRG gehört; zu den nach Buchst e Berechtigten zählten jedoch auch Hinterbliebene von nicht anerkannten Vertriebenen, sofern sie - wie die Klägerin - selbst als Vertriebene anerkannt seien. Von den drei Alternativen des § 42 Satz 1 AVG kämen die erste und dritte nicht in Betracht, weil O.L. der Klägerin zur Zeit seines Todes weder Unterhalt nach dem deutschen Ehegesetz (EheG) zu leisten gehabt noch im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt gewährt habe. Nach den Regeln des internationalen Privatrechts richteten sich die Unterhaltsansprüche der geschiedenen Eheleute in entsprechender Anwendung des Art 17 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) nach dem für die Scheidung gültigen Recht; dies sei hier das tschechoslowakische Recht. Der spätere Wechsel der Staatsangehörigkeit ändere daran nichts; das für das Unterhaltsrecht geltende Scheidungsstatut sei unwandelbar. Die zweite Alternative des § 42 Satz 1 AVG indessen sei erfüllt. Hiernach sei auch ein nach fremdem Recht verwirklichter Unterhaltstatbestand als ein "sonstiger Grund" zur Unterhaltspflicht beachtlich. Insofern könne man zum einen das nach Art 17 EGBGB berufene Recht anwenden, zum anderen in Anlehnung an den Grundsatz der Eingliederung im FRG es genügen lassen, daß zur Zeit der Vertreibung das fremde Recht einen Unterhaltsanspruch zwischen Geschiedenen gekannt habe und zur Zeit des Todes des Versicherten das deutsche Recht einen Unterhaltsanspruch vorsehe. Im vorliegenden Fall sei es nach tschechoslowakischem Recht jedenfalls nicht ausgeschlossen, daß die Klägerin zumindest aufgrund der Unterhaltsvereinbarung zur Zeit des Todes von O.L. einen Unterhaltsanspruch gehabt habe. Eine abschließende Ermittlung der Rechtslage nach tschechoslowakischem Recht zu diesem Zeitpunkt sei indessen nicht notwendig, weil sich der Unterhaltsanspruch in Anlehnung an das FBG ergebe. Es erscheine nicht sinnvoll, nach diesem Gesetz nur das Arbeits- und Versicherungsleben als in Deutschland zurückgelegt zu fingieren und es bei anderen sozialversicherungsrechtlich erheblichen Sachverhalten bei der Anwendung des alten Heimatrechts zu belassen. Hier habe die Klägerin bis zum Verlassen der Tschechoslowakei einen Unterhaltsanspruch gehabt; zur Zeit seines Todes hätte O.L. - die Anwendung von § 58 EheG unterstellt - ihr Unterhalt gewähren müssen. Da sie keine eigenen Einkünfte gehabt habe, wäre ein Drittel bis ein Viertel seines Nettoeinkommens von monatlich umgerechnet ca 1.125,-- DM dafür in Betracht gekommen; dieser Betrag von wenigstens 280,-- DM monatlich hätte 25 % des monatlichen Mindestbedarfs der Klägerin überstiegen.
Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügt eine Verletzung des FRG, insbesondere der §§ 1 und 14 iVm §§ 40 Abs 2 und 42 AVG. Bei seinen Ausführungen zu § 1 Buchst e FEG habe das LSG das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) in SozR 5050 § 16 Nr 10 übersehen. Danach könnten die vertriebenen Hinterbliebenen keine Anrechnung von fremden Zeiten beanspruchen, wenn der verstorbene Versicherte selbst nicht zum begünstigten Personenkreis des § 1 FRG gehört habe. Ob O.L. die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Vertriebeneneigenschaft in eigener Person erfüllt hätte oder als Verfolgter von § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (VGSVG) erfaßt worden wäre, müsse noch ermittelt werden. Außerdem sei O.L. zur Zeit des Todes weder nach deutschem Eherecht noch aus "sonstigen Gründen" zum Unterhalt verpflichtet gewesen. Die Regelungen der §§ 15 ff FRG seien abschließend, § 42 AVG gelte daher unverändert auch bei den FRG-Berechtigten. Im zivilen Unterhaltsrecht habe der Eingliederungsgedanke aber keinen Niederschlag gefunden; der Anspruch auf Unterhalt unterliege somit bei Auslandsberührung dem - unwandelbaren - Scheidungsstatut. Im vorliegenden Fall habe dementsprechend das tschechoslowakische Unterhaltsrecht zu gelten (§§ 92, 93, 96 des Familiengesetzbuches der Tschechoslowakei); danach habe die Klägerin keinen Unterhaltsanspruch gegen O.L. gehabt; auch der Unterhaltsvergleich habe Unterhaltsansprüche im letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode von O.L. nicht mehr begründet.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend. O.L. sei deutscher Volkszugehöriger gewesen, der die Tschechoslowakei seines Deutschtums wegen verlassen habe; wäre er in der Bundesrepublik Deutschland ansässig geworden, dann wäre er als Vertriebener iS von § 1 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz) -BVFG- anerkannt worden. Im übrigen seien bei vertriebenen deutschen Volkszugehörigen ohne deutsche Staatsangehörigkeit die Grenzen des Personalstatuts durchbrochen; diese Personen seien auf dem Gebiet des Privatrechts - also auch des internationalen Privatrechts und des Prozeßrechts - wegen Art 116 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) als Deutsche zu behandeln. Damit richteten sich die unterhaltsrechtlichen Beziehungen zur Zeit des Todes von O.L. nach §§ 58, 59 EheG.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Sämtliche Beteiligten sind mit einer Entscheidung, ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
II
Der Senat hat beschlossen, zu der im Tenor bezeichneten Frage gemäß § 43 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) die Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen. Die vorgelegte Frage ist von grundsätzlicher Bedeutung; ihre Beantwortung klärt die Rechtsstellung vieler Hinterbliebener.(einschließlich von Spätaussiedlern), die sich in gleicher oder ähnlicher Lage wie die Klägerin befinden. Nach der Auffassung des vorlegenden Senats bedarf es der Entscheidung des Großen Senats sowohl zur Fortbildung des Rechts als auch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung.
Von der Beantwortung der gestellten Frage hängt die Entscheidung über die Revision der Klägerin ab. Die als Vertriebene anerkannte Klägerin ist Berechtigte nach § 1 Buchst a FRG, nicht, wie das LSG gemeint hat, nach § 1 Buchst e (vgl BSGE 36, 255, 256). Wird die Rechtsfrage verneint, dann fehlt es für den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch bereits an der Erfüllung der Wartezeit für Hinterbliebenenrenten (§ 40 Abs 2 AVG); der Revision der Beklagten ist dann stattzugeben. Im anderen Falle würde der Senat den Rechtsstreit an das LSG zurückverweisen; nach seiner Auffassung richten sich nämlich die unterhaltsrechtlichen Beziehungen zwischen geschiedenen Ehegatten auch bei FRG-Berechtigten ausschließlich nach dem zivilen Unterhaltsrecht; maßgebend wäre also hier das tschechoslowakische Recht (Gesetzes- oder Vertragsrecht); ob die Klägerin auf der Grundlage dieses Rechts gegen O.L. zur Zeit seines Todes (während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes) einen Unterhaltsanspruch besaß (und in welcher Höhe), müßte das LSG noch feststellen.
III
1. Die Frage, ob vertriebene Hinterbliebene ein Recht auf Hinterbliebenenleistungen nach dem FRG haben, wenn derjenige, von dem sie ihr Recht auf Hinterbliebenenleistungen herleiten (im folgenden vereinfachend der "Versicherte" genannt), selbst nicht Vertriebener war, hat zuerst der 12. Senat in BSGE 24, 251 (und danach noch im Urteil vom 21. September 1971 - 12/11 RA 68/70 -) bejaht.
Leider verwechselt die Entscheidung mehrfach die Buchstaben, unter denen § 1 FRG die begünstigten Personen erfaßt. So wird im Leitsatz Nr 1 und in der drittletzten Zeile von Seite 251 der Buchst c angeführt, obwohl dieser nicht einschlägig sein kann. Das Urteil betrifft eine als Vertriebene anerkannte Hinterbliebene; es rechnet sie zum Personenkreis des § 1 Buchst a (vgl S 252, Zeilen 5 und 20 sowie S 253, 4. Abs); im Leitsatz Nr 1 muß es daher richtig § 1 Buchst a heißen. Dagegen ist in der drittletzten Zeile von S 251, wie der dort folgende Text ausweist, § 1 Buchst e gemeint (so auch der Entscheidungsabdruck in SozB Nr 6 zu § 15 FRG, wo es allerdings auch im 1. Leitsatz: Buchst e heißt - eine zuverlässige Klärung der Differenzen ist wegen Aktenvernichtung nicht mehr möglich; die noch vorhandenen Entscheidungsabdrucke haben den fraglichen Buchstaben nicht deutlich genug ausgedruckt).
Der 12. Senat hat sich bei der allgemeinen Bejahung des Leistungsrechts auf den Sinn und Zweck des FRG gestützt; mit diesem Gesetz solle der begünstigte Personenkreis den einheimischen Versicherten gleichgestellt werden. Diese gewollte Eingliederung werde bei Hinterbliebenenleistungen nur erreicht, wenn es genüge daß entweder der Hinterbliebene selbst oder der Versicherte zu den begünstigten Personen zähle. Das werde durch die Entstehungsgeschichte von § 1 Buchst a FRG bestätigt.
Trotz dieser allgemeinen Aussage enthält der Leitsatz Nr 1 die Einschränkung auf den Fall, daß der Versicherte schon vor der Vertreibung gestorben ist. Sie wird durch die den Leitsatz Nr 1 tragenden Gründe nicht gerechtfertigt. In der Begründung dazu (Seiten 251 und 252) ist nur auf S. 252 oben von Hinterbliebenen solcher Versicherter die Rede, die selbst nicht zu den Personengruppen a bis d gehören, weil sie in der früheren Heimat verstorben sind; diese Textstelle bezieht sich aber auf § 1 Buchst e.
Die Entscheidung des 12. Senats hat sich im weiteren mit der - im vorgelegten Falle nicht in Betracht kommenden - Anrechnung von Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG befaßt. Dort finden sich auch in der Begründung einschränkende Ausführungen für den Fall, daß der Versicherte schon vor der Vertreibung des Hinterbliebenen verstorben ist; zusammenfassend heißt es jedoch auf S. 253: "§ 16 FRG ist somit in Fällen, in denen ein Vertriebener (§ 1 Buchst a FRG) Hinterbliebenenansprüche geltend macht, dahin auszulegen, daß es genügt, wenn die Beschäftigung desjenigen, von dem das Recht hergeleitet wird, vor der Vertreibung des Hinterbliebenen verrichtet worden ist". Lediglich absichernd wird hinzugefügt, dies gelte "jedenfalls dann", wenn der Beschäftigte wie im dortigen Falle (deshalb) nicht selbst Vertriebener war, "weil er vor der Vertreibung des Hinterbliebenen gestorben ist".
Der 4. Senat des BSG schloß sich der Rechtsauffassung des 12. Senats in den Urteilen vom 1. Dezember 1966 - 4 RJ 457/66 - (ZfS 1967, 245) und vom 28. Februar 1967 - 4 RJ 407/65 - an. Zu § 16 FRG hebt auch er hervor, daß dessen Grundgedanke keine unterschiedliche Behandlung der Hinterbliebenen von Vertriebenen einerseits und der vertriebenen Hinterbliebenen von bereits vor der Vertreibung gestorbenen Versicherten andererseits zulasse. Ob eine andere Auslegung geboten erscheine, wenn andere Gründe als der vorzeitige Tod den Beschäftigten daran gehindert hätten, selbst die Vertriebeneneigenschaft zu erwerben, könne offen bleiben (Urteil vom 28. Februar 1967 aaO).
Der 11. Senat trat im Urteil vom 17. März 1967 - 11 RA 292/65 - für Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG ebenfalls der Entscheidung in BSGE 24, 251 bei. Im Urteil vom 15. November 1973 (BSGE 36, 255) führte er die Rechtsprechung für Ersatzzeiten fort. Er wies dabei darauf hin (S. 256), daß der herausgestellte allgemeine Gedanke der Eingliederung auch dieser Hinterbliebenen nicht bei der grundsätzlichen Leistungsberechtigung nach § 1 FRG haltmachen dürfe; er müsse sich insbesondere bei der Anrechnung der vom Verstorbenen zurückgelegten Zeiten auswirken. Des weiteren verwarf der Senat (S. 257) das Gegenargument, daß der Verstorbene im Heimatland selbst keine Rente nach bundesdeutschen Vorschriften hätte erhalten können; Hinterbliebenenleistungen setzten nämlich nicht immer voraus, daß auch der Verstorbene leistungsberechtigt gewesen sei. Auch möge es sein, daß dann Ersatzzeiten von Personen angerechnet würden, die zu keiner Zeit eine Aussiedlung beabsichtigt hätten. Dieses Argument gelte aber nicht nur für Ersatzzeiten, sondern ebenso für Beschäftigungszeiten nach § 16 und für Beitragszeiten nach § 15 FRG; es müßte zu der allgemeinen Forderung führen, Hinterbliebenenleistungen stets von der Vertriebeneneigenschaft des Verstorbenen abhängig zu machen; das sei aber, wie dargelegt, nicht gerechtfertigt.
2. Hatte es sich bei allen diesen Fällen noch um solche gehandelt, in denen der Versicherte bereits vor der Vertreibung der Hinterbliebenen im Vertreibungsgebiet verstorben war, so war in dem vom 11. Senat am 19. März 1976 entschiedenen Fall (BSGE 41, 257) der Versicherte demgegenüber erst Jahre danach im Vertreibungsgebiet verstorben. Hier konnte aus der grundsätzlichen Leistungsberechtigung von vertriebenen Hinterbliebenen nach § 1 Buchst a FRG keine Verpflichtung bundesdeutscher Versicherungsträger mehr hergeleitet werden, auch für die nach der Vertreibung der Hinterbliebenen noch vom Versicherten im Ausland zurückgelegten Beitrags- und Beschäftigungszeiten einzustehen; insoweit dürfe nur auf die im Zeitpunkt der Vertreibung der Hinterbliebenen schon vorhandenen Zeiten abgestellt werden. Dies verdeutliche § 16 FRG, der auf die "vor der Vertreibung" verrichtete Beschäftigung abstelle; er enthalte insoweit einen auch bei § 15 FRG zu beachtenden allgemeinen Gedanken (diese zeitliche Begrenzung schließe es allerdings nicht aus, spätere Zeiten als Ersatzzeiten iS von § 28 Abs 1 Nr 3 AVG zu berücksichtigen, wenn der Versicherte in diesen Zeiten an der Zurücklegung bundesdeutscher Beitragszeiten verhindert gewesen war).
Der 4. Senat entschied am 23. März 1977 (SozR 5050 § 16 Nr 10 = SGb 1978, S. 35) ebenfalls in einem Falle, in dem der Versicherte erst nach der Vertreibung der Hinterbliebenen verstorben ist. Der Versicherte war mit seiner Frau aus einem Vertreibungsgebiet in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt, hier aber nicht als Vertriebener anerkannt worden. Der 4. Senat hat die Beschäftigungszeiten des Versicherten im Vertreibungsgebiet nicht nach § 16 FRG bei der Witwenrente der als Vertriebene anerkannten Ehefrau berücksichtigt. Die bisherige Auslegung des § 16 FRG durch das BSG sei nur gerechtfertigt, wenn der Beschäftigte ohne den vorzeitigen Tod eine Vertreibung erlitten hätte. Die Rechtsprechung zu § 16 FRG sei demnach dahingehend zu verstehen, daß beim Tod des Beschäftigten vor der Vertreibung abgesehen von der Wohnsitzbegründung im Bundesgebiet die übrigen Merkmale des § 1 BVFG vorgelegen haben müßten.
3. Im erläuternden Schrifttum zu § 1 Buchst e (bzw Buchst a iVm §§ 15, 16) FRG herrscht die Meinung, im Falle, daß der Versicherte vor der Vertreibung verstorben ist, genüge es zur Inanspruchnahme von Hinterbliebenenleistungen nach dem FRG, wenn die Hinterbliebenen den im FRG für den Versicherten vorgeschriebenen Status haben (Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, Anm 8 zu § 1 und Anm 7 zu § 16 FRG; Merkle/Michel, Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetz, Anm 2a; VerbKomm, Anm 4 aE; RVO-Gesamt-Komm, Anm 4 aE jeweils zu § 15 FRG).
Hoernigk/Jahn/Wickenhagen (FRG, Anm 15 zu § 1) wollen noch eine Vermutung, daß der Versicherte, sofern er nicht vorzeitig gestorben wäre, zum Kreis der anspruchsberechtigten Personen nach § 1 Buchst a (bis d) gehört haben würde; es sei sicherzustellen, daß der mutmaßliche Status des Versicherten für die Berechnung der Hinterbliebenenrente ausschlaggebend sei und nicht etwa der versicherungsrechtlich bessere Status der Hinterbliebenen. Insofern verweisen die Verfasser auf die ihres Erachtens gegenteilige Auffassung des vorlegenden Senats in BSGE 36, 255, 257.
Das Urteil des 4. Senats in SozR 5050 § 16 Nr 10 deuten sie als eine Einschränkung, wenn nicht sogar als eine Abkehr von der bisherigen extensiven Auslegung. Nach ihrer Meinung sollte man, wenn beispielsweise eine Vertriebene später einen Ausländer mit FRG-Zeiten (nach §§ 15 oder 16 FRG) heirate oder der Versicherte seinen Wohnsitz im Vertreibungsgebiet (gewollt) beibehalten habe, eine Anspruchsberechtigung nicht anerkennen (s. hierzu noch die Anm von Jahn zum Urteil des 4. Senats in SGb 1978 S. 37; ferner Bergner in SozVers 1974, 171 ff; Ludwig in SozVers 1976, 36 ff).
IV
Der vorstehende Überblick über die bisherige Rechtsprechung und das Schrifttum läßt deutlich unterschiedliche Grundlinien und Tendenzen im Hinblick auf die dem Großen Senat vorgelegte Rechtsfrage erkennen. Gehört nur der Hinterbliebene, nicht aber der Versicherte zum Personenkreis des § 1 Buchst a bis d FRG, dann soll der Hinterbliebene nach der einen Richtung Hinterbliebenenleistungen offenbar nur dann erhalten können, wenn der Versicherte schon vor der Vertreibung des Hinterbliebenen gestorben ist und wenn er ohne den Tod Vertriebener geworden wäre (dem Personenkreis des § 1 Buchst a bis d FRG angehört hätte). Die andere Richtung will dagegen das mit dem Tode des Versicherten entstehende Recht auf Hinterbliebenenleistungen wohl ohne Rücksicht darauf zubilligen, wann der Versicherte gestorben ist und aus welchen Gründen er nicht Angehöriger des Personenkreises des § 1 Buchst a bis d FRG geworden ist; dabei sollen - von Ersatzzeiten nach § 28 Abs 1 Nr 3 AVG abgesehen (vgl BSG 41 aaO S. 259) - alle versicherungsrechtlich bedeutsamen Zeiten angerechnet werden, die der Versicherte im Vertreibungsgebiet vor der Vertreibung des Hinterbliebenen zurückgelegt hat.
Die Rechtsprechung des 11. Senats ist bisher in die letztgenannte Richtung gegangen. Der Senat möchte diese Linie weiterverfolgen. Er sieht sich daran allerdings nicht unmittelbar gehindert durch das Urteil des 4. Senats vom 23. März 1977, weil sich diese Entscheidung auf Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG bezog und auf die Auslegung dieser Vorschrift beschränkte. Im hier zu entscheidenden Falle geht es dagegen um Beitragszeiten nach § 15 FRG. Der 11. Senat hält es auch bei Bejahung der vorgelegten Rechtsfrage nicht für ausgeschlossen, in dem Sonderfalle des § 16 FRG Beschäftigungszeiten nur unter den vom 4. Senat dargelegten Voraussetzungen anzurechnen; er hat deshalb die Vorlage an den Großen Senat nicht auf § 42, sondern auf § 43 SGG gestützt.
Für seine Ansicht zum allgemeinen Leistungsrecht von Hinterbliebenen in gleicher oder ähnlicher Lage wie die Klägerin möchte der 11. Senat noch folgende - zum Teil schon in der bisherigen Rechtsprechung vorgetragene - Erwägungen geltend machen:
Soweit ersichtlich besteht allseits Einigkeit darüber, daß der als Vertriebener anerkannte Hinterbliebene nach § 1 Buchst a FRG grundsätzlich auch zu Hinterbliebenenleistungen berechtigt ist. Die Zubilligung einer solchen Berechtigung ist jedoch ohne Sinn, wenn bei der Feststellung der Hinterbliebenenleistungen nach dem FRG keine Zeiten des Versicherten angerechnet werden. Beide in der Rechtsprechung vertretenen Richtungen rechnen demnach Zeiten des Versicherten an. Damit entfernen sich aber beide von versicherungsrechtlichen Grundsätzen; sie halten die Gewährung von Hinterbliebenenrenten für zulässig, obwohl der Versicherte im Zeitpunkt seines Todes keine Rente nach dem FRG erhalten konnte. Bei der Anrechnung von Beschäftigungszeiten nach § 16 FRG hält sich die Rechtsprechung außerdem nicht an den Wortlaut dieser Vorschrift, sofern die darin enthaltenen Worte "vor der Vertreibung" auf die Vertreibung des Beschäftigten und nicht, wie es auch möglich wäre, auf die Vertreibung des Hinterbliebenen bezogen werden (vgl BSGE 41 aaO S. 259). Diese von Versicherungsprinzipien bzw vom Gesetzeswortlaut abweichende Rechtsprechung wird zutreffend mit dem Sinn und Zweck des FRG, insbesondere mit dem es beherrschenden Eingliederungsgedanken gerechtfertigt. Ihm wird aber nur unzureichend genügt, wenn lediglich die Fälle des vorzeitigen Todes des Versicherten im Heimatgebiet ein Recht auf Hinterbliebenenleistungen begründen sollen und das auch nur, falls der Versicherte Vertriebener geworden wäre. Die in BSGE 24 aaO S. 252 dargelegte Entstehungsgeschichte des § 1 Buchst a FRG gebietet keine solche Einschränkung; danach ist lediglich vorausgesetzt worden, daß die Hinterbliebenen selbst dem Personenkreis der Vertriebenen angehören. Insoweit sollte mitbedacht werden, daß das Vertriebenenschicksal ein Einzelschicksal sein kann. Waisen können ohne ihre Eltern, geschiedene oder getrennt lebende Frauen können ohne den (früheren) Ehemann vertrieben worden sein. Selbst bei im Vertreibungsgebiet zusammenlebenden Eheleuten kann die Vertreibung allein einen Ehepartner betroffen haben, wenn etwa nur er die die Vertreibung auslösende deutsche Staatsangehörigkeit oder deutsche Volkszugehörigkeit besaß. Für alle diese nicht im Familienverband vertriebenen Personen muß aber nicht minder das Eingliederungsprinzip des FRG gelten.
Wie in BSGE 24 aaO S. 253 - dort zu § 16 FRG - dargelegt, wollte der Gesetzgeber diejenigen schützen, "die gewaltsam aus ihren früheren Lebensverhältnissen herausgerissen wurden und die in diesen Verhältnissen begründete Sicherung gegen die Wechselfälle des Lebens verloren haben". Dabei spielt es keine Rolle, ob im Einzelfalle die Verhältnisse im Heimatland überhaupt eine Sicherung oder gar eine ausreichende Sicherung geboten hatten. Wenn es sie gab, haben jedenfalls alle Vertriebenen und somit auch alle vertriebenen Hinterbliebenen diese Sicherung verloren und sind sie alle aus ihren früheren Lebensverhältnissen herausgerissen worden. Der Gesetzgeber des FRG hat ihnen für die im Zeitpunkt ihrer Vertreibung verlorene "Sicherung" Ersatz bieten wollen. Dieser Ersatz ist abgestellt auf den Sachstand im Zeitpunkt der Vertreibung; das vor ihr liegende Arbeits- und Versicherungsleben wird durch ein fiktives im Bundesgebiet zurückgelegtes Arbeits- und Versicherungsleben ersetzt. Der Ersatz wirkt sich auch auf die Hinterbliebenen aus, die ihre Ansprüche vom Versicherten herleiten; der Zeitpunkt, zu dem sie aus ihren früheren Lebensverhältnissen herausgerissen worden sind, ist bei ihnen der Zeitpunkt ihrer eigenen Vertreibung. Deshalb muß ihnen im Rahmen des § 1 Buchst a FRG das vom Versicherten bis zum Zeitpunkt ihrer eigenen Vertreibung im Vertreibungsgebiet zurückgelegte Arbeits- und Versicherungsleben auf die vom FRG bezeichnete Weise zugute kommen.
Aufgrund einer Berechtigung nach § 1 Buchst a FRG können deshalb nach Ansicht des vorlegenden Senats keine Zeiten nach der Vertreibung des Hinterbliebenen (abgesehen vom Falle des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG) mehr angerechnet werden. Wem der Versicherte später als der Hinterbliebene vertrieben worden ist, kann der Hinterbliebene die Anrechnung der vom Versicherten zwischenzeitlich noch im Vertreibungsgebiet zurückgelegten Zeiten nicht mehr nach § 1 Buchst a FRG, sondern nur nach § 1 Buchst e FRG erreichen.
Die Zäsur zum Zeitpunkt der Vertreibung des Hinterbliebenen schließt das von Hoernigk/Jahn/Wickenhagen negativ bewertete Heiratsbeispiel und alle anderen denkbaren Fälle des Erwerbs von abgeleiteten FRG-Zeiten nach der Vertreibung aufgrund von § 1 Buchst a FRG aus; sie macht gleichzeitig die - spekulative - Überprüfung entbehrlich, ob der Versicherte in der Bundesrepublik Deutschland als Vertriebener iS des § 1 BVPG anerkannt worden wäre, wenn er dies beantragt hätte bzw ob er einen der anderen Tatbestände des § 1 FRG - b bis d - erfüllt hätte.
Fundstellen