Leitsatz (amtlich)
Die "Höchstdauer" der Hochschulausbildung von 5 Jahren ist in AVG § 36 Abs 3 S 2 (= RVO § 1259) nicht anders als in AVG § 36 Abs 1 Nr 4, nämlich vom Beginn der Hochschulausbildung an zu berechnen.
Normenkette
AVG § 36 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 3 S. 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 36 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 4 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revisionen der Kläger und der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1970 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Die Kläger sind die Hinterbliebenen des am 10. August 1909 geborenen und am 27. August 1967 verstorbenen Versicherten Philipp Sch. Dieser studierte vom 16. Februar 1926 bis 6. Juli 1934 an der Akademie für Tonkunst in M. Er entrichtete Pflichtbeiträge erstmals von Januar bis September 1930, dann von Juni bis September 1933 und erneut ab Mai 1935.
Die Beklagte hat bei der Berechnung der Hinterbliebenenrenten (Bescheide vom 13. Oktober 1967) eine pauschale Ausfallzeit von 6 Monaten nach Art. 2 § 14 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) berücksichtigt. Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) München die Beklagte verpflichtet, statt dessen eine Hochschulausbildung (Akademieausbildung) von 5 Jahren als nachgewiesene Ausfallzeit i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) anzurechnen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Verpflichtung der Beklagten auf die Zeiten von Februar 1926 bis Dezember 1929 und von Oktober 1930 bis Januar 1931, d. h. die beitragslose Studienzeit bis zum Ablauf von 5 Jahren nach dem Studienbeginn (51 Monate) beschränkt. Es bejaht die Anrechenbarkeit nach § 36 Abs. 3 AVG, weil die Halbdeckung (Halbbelegung) erfüllt sei. Die Zeit vom Eintritt in die Versicherung (Versicherungsbeginn) bis zum Eintritt des Versicherungsfalles betrage 450 Monate; der Versicherte habe 144 Pflichtbeiträge und 16 gleichgestellte Beiträge (§ 36 Abs. 3 Satz 3 AVG idF vor dem Finanzänderungsgesetz - FinÄndG - vom 21. Dezember 1967), insgesamt 160 entrichtet; er erreiche die Halbdeckung also, wenn sich die Gesamtzeit von 450 Monaten auf Grund des § 36 Abs. 3 Satz 2 AVG auf 320 Monate verringern lasse; das sei hier der Fall. Von der Gesamtzeit seien nämlich abzuziehen:
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a) |
75 |
Monate Ersatzzeiten |
b) |
7 |
Monate Rentenbezugszeit |
c) |
42 |
Monate Hochschulbildung, das ist die beitragslose Zeit vom Versicherungsbeginn bis zum Ablauf von 5 Jahren nach dem Versicherungsbeginn (die Beklagte hält hier nur 12 Monate, nämlich die Studienzeit vom Versicherungsbeginn bis zum Ablauf von 5 Jahren nach dem Studienbeginn für abzugsfähig) |
d) |
6 |
Monate pauschale Ausfallzeit (nach Ansicht der Beklagten nicht abzugsfähig) |
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= |
130 |
Monate |
Den Abzug hat das LSG begründet:
Zu c): Weder der Wortlaut noch der Grundgedanke des § 36 Abs. 3 Satz 2 AVG zwängen dazu, eine Hochschulausbildung nur bis zu dem Zeitpunkt unberücksichtigt zu lassen, bis zu dem sie nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG tatsächlich anrechenbar sei; der Hinweis in § 36 Abs. 3 Satz 2 auf § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG könne nur den Sinn haben, den Abzug auf die Höchstdauer von 5 Jahren nach dem Versicherungsbeginn zu begrenzen.
Zu d): Die Aufzählung der pauschalen Ausfallzeit in § 36 Abs. 3 Satz 2 neben Ausfallzeiten nach Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 4 verlöre jeden Sinn, wenn der Abzug der pauschalen Ausfallzeit neben einem Abzug höherer nachgewiesener Ausfallzeiten (Hochschulausbildung) unzulässig sei; denn § 36 Abs. 3 bezwecke immer die Prüfung, ob eine längere nachgewiesene Ausfallzeit anrechenbar sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen. Sowohl die Kläger als auch die Beklagte haben von dem Rechtsmittel Gebrauch gemacht.
Die Kläger beantragen,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Sie wollen weitere 9 Monate Hochschulausbildung nach dem Januar 1931 angerechnet haben, weil die Hochschulausbildung bis zu insgesamt 5 Jahren als Ausfallzeit anrechenbar sei.
Die Beklagte beantragt mit ihrer Revision,
das angefochtene Urteil in dem der Klage stattgebenden Teil sowie das Urteil des SG aufzuheben und die Klage in vollem Umfange abzuweisen.
Sie hält § 36 Abs. 3 Satz 2 AVG für verletzt und rügt zum Abzug von Ausfallzeiten durch das LSG:
Zu c): Es bestehe kein sachlicher Grund, den Fünfjahreszeitraum der Hochschulausbildung in § 36 Abs. 3 Satz 2 AVG anders als in § 36 Abs. 1 Nr. 4 zu berechnen; er beginne immer mit dem tatsächlichen Studienbeginn. Eine andere Auslegung - je nach dem für den Versicherten günstigeren Ergebnis - habe auch erhebliche Schwierigkeiten bei der Rentenberechnung zur Folge.
Zu d): Für Zeiten vor 1957 stünden die pauschale und die nachgewiesene Ausfallzeit zueinander im Verhältnis der Alternativität; die Auffassung des LSG widerspreche deshalb auf jeden Fall dem Sinn des Gesetzes.
Die Kläger erwidern:
Zu c): Das LSG habe zu Recht zwischen Anrechenbarkeit und Absetzbarkeit unterschieden; für die Absetzbarkeit sei vom Versicherungsbeginn auszugehen.
Zu d): Die pauschale Ausfallzeit sei jedenfalls dann abzusetzen, wenn bei der Rentenberechnung - wie hier - eine pauschale Ausfallzeit angerechnet worden sei.
Die Kläger und die Beklagte beantragen ferner, die Revision der Gegenseite zurückzuweisen.
Alle Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revisionen aller Beteiligten sind insoweit begründet, als der Rechtsstreit zu neuer Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Beteiligten und die Vorinstanzen sind übereinstimmend davon ausgegangen, daß die gesamte Studienzeit des Versicherten an der Akademie für Tonkunst in M von Februar 1926 bis Juli 1934 als Hochschulausbildung zu werten ist. Wäre dem zu folgen, dann hätte die Beklagte als Ausfallzeit für die Zeit vor 1957 zu Recht nur eine pauschale Ausfallzeit von 6 Monaten nach Art. 2 § 14 AnVNG angerechnet. Die Anrechnung längerer nachgewiesener Ausfallzeiten wäre dann wegen Fehlens der Voraussetzungen des § 36 Abs. 3 AVG nicht möglich.
Der gegenteiligen Auffassung des LSG kann der Senat nicht folgen. Nach § 36 Abs. 3 Satz 2 AVG bleiben bei der Ermittlung der Anzahl der Kalendermonate vom Eintritt in die Versicherung bis zum Eintritt des Versicherungsfalles "die auf die Zeit nach Eintritt in die Versicherung entfallenden Ersatzzeiten, Ausfallzeiten nach Abs. 1 Nr. 1 bis 4, die gesamte Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 AnVNG und Zeiten eines Rentenbezugs unberücksichtigt, auch wenn die Voraussetzungen dieses Absatzes - d. h. die des § 36 Abs. 3 - nicht erfüllt sind". Nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG ist die Zeit einer abgeschlossenen Hochschulausbildung "nur bis zur Höchstdauer von 5 Jahren" Ausfallzeit. Das bedeutet, wie auch das LSG einräumt, daß nur die ersten 5 Jahre der Hochschulausbildung nach dem Beginn der Hochschulausbildung Ausfallzeit nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG sind. Entgegen der Meinung des LSG gilt das aber auch für § 36 Abs. 3 AVG; denn in Abs. 3 wird mit den Worten "Ausfallzeiten nach Abs. 1 Nr. 1 bis 4" die dortige Definition der Ausfallzeiten übernommen. Diese Ausfallzeiten sind bei der Berechnung der Halbdeckung nach § 36 Abs. 3 AVG insoweit nicht zu berücksichtigen (abzuziehen), als sie "auf die Zeit nach Eintritt in die Versicherung entfallen". Die Auffassung des LSG, der Zeitraum von 5 Jahren der Hochschulausbildung beginne bei Anwendung des § 36 Abs. 3 AVG mit dem Versicherungsbeginn, findet also im Wortlaut des Gesetzes keine Stütze. Anhaltspunkte dafür, daß die dem Wortlaut entsprechende Auslegung zu sinnwidrigen Ergebnissen führt, sind weder vom LSG dargetan noch erkennbar. Demgemäß durfte das LSG unter c) nur die Zeit von Februar 1930 bis Januar 1931 mit 12 Monaten als Ausfallzeit i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG bei der Berechnung der Halbdeckung unberücksichtigt lassen. Das hätte bereits zur Folge gehabt, daß die Halbdeckung mit den vorhandenen 160 Beiträgen nicht erreicht werden konnte. Im übrigen war es aber auch unzulässig, neben dieser Ausfallzeit von 12 Monaten noch eine pauschale Ausfallzeit von 6 Monaten abzusetzen. Wie der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) durch Urteil vom 11. November 1971 - 1 RA 35/71 - entschieden hat, dürfen bei der Berechnung der Halbdeckung nach § 36 Abs. 3 AVG von der nach Abs. 3 Satz 1 maßgebenden Gesamtzeit für die Zeit vor 1957 nur - und zwar je nach dem, was für den Versicherten günstiger ist - entweder die nach Versicherungsbeginn nachweislich zurückgelegten Ausfallzeiten oder die gesamte pauschale Ausfallzeit nach Art. 2 § 14 AnVNG abgezogen werden, nicht aber beide. Der erkennende Senat hält diese Auffassung für zutreffend und schließt sich ihr an.
Gleichwohl kann das Urteil des LSG keinen Bestand haben, weil Bedenken bestehen, ob die Studienzeit von über 8 Jahren insgesamt eine Hochschulausbildung gewesen ist. Insoweit fehlen tatsächliche Feststellungen für eine abschließende Würdigung. Die Bedenken gründen sich nicht nur auf das Alter von 16 1/2 Jahren, in dem der Versicherte schon die Hochschulausbildung begonnen haben müßte, sondern auch auf Ausführungen im Deutschen Hochschulführer 1970, 45. Aufl., S. 389 zur Geschichte der jetzigen Hochschule für Musik in München. Dort heißt es, die frühere Akademie für Tonkunst habe seit 1924 für die Klassen Schulmusik und Kirchenmusik und für die Meisterklassen Hochschulcharakter in Anspruch nehmen können; mit der Verleihung der Bezeichnung: Staatliche Hochschule für Musik sei sie auf Grund der Verfassung von 1947 voll als Hochschule anerkannt und 1962 den wissenschaftlichen Hochschulen absolut gleichgestellt worden (zum Hochschulbegriff im engeren und weiteren Sinne vgl. Urteil des BVerwG vom 18. Juni 1967, Samml. Nr. 23 zu 421.2 Hochschulrecht, Aklg., das auch Ausführungen zu Musikhochschulen enthält). Aus dem Hochschulführer ist ferner ersichtlich, daß an der jetzigen Hochschule neben Meisterklassen auch Ausbildungs- und Fortbildungsklassen bestehen. Es erscheint darum nicht ausgeschlossen, daß der Versicherte im Februar 1926 im Alter von 16 1/2 Jahren zunächst in eine Klasse eintrat, für die die Akademie für Tonkunst damals keinen Hochschulcharakter besaß. Demnach könnte es sein, daß die Studienzeit zunächst als Fachschulausbildung i. S. des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG und erst ab einem späteren Zeitpunkt als Hochschulausbildung zu werten ist. Das könnte für die von den Klägern erstrebte Anrechnung längerer Ausfallzeiten von Bedeutung sein. Die Kläger erreichen die Halbdeckung, wenn aus der Studienzeit vom Versicherungsbeginn bis zum Studienende wenigstens 48 Monate noch abzugsfähig i. S. des § 36 Abs. 3 Satz 2 AVG sind. Wäre das der Fall - die mit Beiträgen belegten Monate dürfen dabei vom Abzug nicht ausgeschlossen werden - könnten die Kläger möglicherweise sogar die Anrechnung von Ausfallzeiten über 60 Monate hinaus erreichen.
Da die Klärung dieser Fragen weitere Feststellungen voraussetzt, die der Senat nicht selbst treffen darf, ist auf die Revisionen der Beteiligten das Urteil des LSG aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen. Dieses wird bei seiner neuen Entscheidung auch über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen