Entscheidungsstichwort (Thema)
Klage auf rückwirkende Gewährung einer höheren Rente. Entbehrlichkeit des Vorverfahrens. Verschleppungszeit (Ersatzzeit) bei russischem Rentenbezug
Orientierungssatz
1. Bei der auf § 44 Abs 1 SGB 10 gestützten Klage handelt es sich nicht um eine Verpflichtungsklage, sondern um eine Aufhebungs- und Leistungsklage iS des § 54 Abs 1 und 4 SGG, die nach § 78 Abs 2 SGG eines Vorverfahrens nicht bedarf (so BSG vom 1983-04-20 5a RKnU 2/81 = BSGE 55, 87).
2. Der Anrechnung von Zeiten der Verschleppung iS des § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO als Ersatzzeit steht nicht entgegen, daß der Versicherte während der Verschleppungszeit eine russische Rente erhalten hat (so Urteil des BSG vom 1983-04-20 5a RKn 26/81 = SozR 2200 § 1251 Nr 101 und 1983-06-21 4 RJ 69/82 = SozR 2200 § 1251 Nr 102).
Normenkette
SGB 10 § 44 Abs 1 S 1 Fassung: 1980-08-18; RVO § 1251 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1957-02-23; SGG § 54 Abs 1, § 54 Abs 4, § 78 Abs 2
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 30.07.1982; Aktenzeichen L 4 J 2161/81) |
SG Heilbronn (Entscheidung vom 29.09.1981; Aktenzeichen S 6 J 806/80) |
Tatbestand
Streitig ist zwischen den Beteiligten die Anrechnung der Zeiten vom 18. Juni 1970 bis zum 22. Februar 1971 und vom 25. Mai 1973 bis zum 11. März 1975 als Ersatzzeiten im Sinne des § 1251 Abs 1 Nr 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).
Der am 12. März 1910 in der UdSSR geborene Kläger ist Volksdeutscher. Er wurde während des 2. Weltkrieges in den Warthegau umgesiedelt und 1945 nach Usbekistan verschleppt. Vom 18. Juni 1970 bis zum 22. Februar 1971 und vom 25. Mai 1973 bis zum 11. Mai 1975 bezog er eine russische Altersrente. Am 2. Juli 1978 siedelte er in die Bundesrepublik Deutschland über. Er ist Inhaber des Vertriebenenausweises A und als Heimkehrer im Sinne des § 1 Abs 3 des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (HkG) anerkannt. Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 23. Februar 1979 ab 8. Juli 1978 Altersruhegeld, ohne die Zeit der Verschleppung anzurechnen. Diese Zeit wurde dann im Bescheid vom 4. Mai 1979 bis zum 17. Juni 1970 berücksichtigt. In einem weiteren Bescheid vom 21. Mai 1980 wurde auch die Zeit vom 23. Februar 1971 bis zum 24. Mai 1973 zu 5/6 als Beitragszeit angerechnet, in der der Kläger in der UdSSR eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hatte.
Mit der Klage hat der Kläger begehrt, darüber hinaus die Zeiten des Bezuges der russischen Altersrente angerechnet zu bekommen. Das Sozialgericht (SG) hat die Bescheide der Beklagten vom 23. Februar 1979, 4. Mai 1979 und 21. Mai 1980 insofern abgeändert, als eine Ersatzzeit parallel zum Bezug des sowjetischen Altersruhegeldes bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres nicht berücksichtigt worden ist. Die Beklagte ist verurteilt worden, die Zeit vom 18. Juni 1970 bis zum 11. März 1975 als Ersatzzeit (Verschleppung in der UdSSR) rentensteigernd bei der Gewährung des Altersruhegeldes ab 1. April 1975 (Zahldatum 8. Juli 1978) zu berücksichtigen (Urteil vom 29. September 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 30. Juli 1982). Zwar sei die Zeit vom 23. Februar 1971 bis zum 24. Mai 1973 im Bescheid vom 21. Mai 1980 bereits zu 5/6 als Beitragszeit angerechnet worden. Insoweit bedürfe es aber keiner Korrektur des angefochtenen Urteils, weil Gegenstand der Entscheidung nur die Zeiten "parallel" zum Bezug der sowjetischen Altersrente gewesen seien. Auch der Kläger habe bestätigt, daß nur die Zeiten vom 18. Juni 1970 bis zum 22. Februar 1971 und vom 25. Mai 1973 bis zum 11. März 1975 als streitbefangen anzusehen seien. In der Sache selbst stünden dem Kläger die streitigen Ersatzzeiten gemäß der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in BSGE 46, 54, der sich das LSG angeschlossen hat, zu.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, vor der Klageerhebung hätte ein Vorverfahren durchgeführt werden müssen. Die vom Kläger bezogene sowjetische Altersrente sei eine dem Altersruhegeld entsprechende Leistung im Sinne des § 19 Abs 3 Fremdrentengesetz (FRG). Es bedeute eine nicht zu rechtfertigende Ungleichbehandlung denjenigen, die während des Bezuges einer solchen Altersrente nicht gearbeitet hätten, diese Zeit als Ersatzzeit anzurechnen, hingegen Personen, die während des Altersrentenbezuges noch beschäftigt waren, keine Beitrags- oder Beschäftigungszeiten anzurechnen. Deshalb dürfe auch eine Ersatzzeit nicht berücksichtigt werden, wenn aufgrund von § 19 Abs 3 FRG eine gleichzeitig zurückgelegte Beitragszeit im Sinne des FRG nicht angerechnet werden dürfe.
Die Beklagte beantragt, die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet. Bei der Berechnung des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes sind die streitigen Ersatzzeiten zu berücksichtigen.
Der Senat hat den Tenor des erstinstanzlichen Urteils neu gefaßt, um klarzustellen, daß in diesem Verfahren lediglich der Bescheid der Beklagten vom 21. Mai 1980 angefochten ist und nicht die bereits bindenden Bescheide vom 23. Februar 1979 und 4. Mai 1979. Außerdem sind - wie das LSG bereits ausgeführt hat - Gegenstand des Rechtsstreits nur die Ersatzzeiten vom 18. Juni 1970 bis zum 22. Februar 1971 und vom 25. Mai 1973 bis zum 11. März 1975, deren Anrechnung der Kläger begehrt.
Zutreffend haben die Vorinstanzen gemäß § 44 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) geprüft, ob die Verwaltungsakte der Beklagten vom 23. Februar und 4. Mai 1979 zurückzunehmen sind, soweit darin die streitigen Ersatzzeiten nicht berücksichtigt wurden. Die genannte Vorschrift gilt nach Art 2 § 40 Abs 2 SGB 10 auch dann, wenn - wie hier - ein vor dem 1. Januar 1981 erlassener Verwaltungsakt zurückzunehmen ist und das begonnene Verfahren ist gemäß Art 2 § 37 Abs 1 SGB 10 nach den neuen Vorschriften des genannten Gesetzes zu Ende zu führen (vgl BSGE 54, 223, 226 ff, Urteile des Senats vom 20. April 1983 - 5a RKnU 2/81 - und vom 30. November 1983 - 5a RKn 27/82 - sowie Urteil des 4. Senats vom 21. Juni 1983 - 4 RJ 69/82 -). Zu Recht haben die Vorinstanzen hier ein Vorverfahren nicht für erforderlich gehalten, denn bei der auf § 44 Abs 1 SGB 10 gestützten Klage handelt es sich nicht um eine Verpflichtungsklage, sondern um eine Aufhebungs- und Leistungsklage im Sinne des § 54 Abs 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG), die nach § 78 Abs 2 SGG eines Vorverfahrens nicht bedarf (so der Senat im erwähnten Urteil vom 20. April 1983).
§ 44 Abs 1 Satz 1 SGB 10 bestimmt, daß auch ein unanfechtbar gewordener Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen ist, soweit sich ua im Einzelfall ergibt, daß bei seinem Erlaß das Recht unrichtig angewendet worden ist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Entgegen der von der Beklagten vertretenen Ansicht sind im Falle des Klägers auch für die noch streitigen Zeiten die Voraussetzungen des § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO erfüllt. Danach sind Zeiten der Verschleppung Ersatzzeiten, wenn der Versicherte Heimkehrer im Sinne des § 1 HkG ist. Das LSG hat sowohl die Heimkehrereigenschaft des Klägers als auch den Tatbestand der Verschleppung festgestellt, ohne daß sich die Beklagte dagegen mit zulässigen und begründeten Revisionsrügen gewandt hat.
Wie der erkennende Senat in Übereinstimmung mit dem 4. Senat des BSG bereits entschieden hat, steht der Anrechnung von Zeiten der Verschleppung im Sinne des § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO als Ersatzzeit nicht entgegen, daß der Versicherte während der Verschleppungszeit eine russische Rente erhalten hat (so Urteile des Senats vom 20. April 1983 - 5a RKn 26/81 - und des 4. Senats vom 21. Juni 1983 - 4 RJ 69/82 - mwN). Auf die Ausführungen in den genannten, zur Veröffentlichung bestimmten Urteilen wird Bezug genommen. Neue Argumente hat die Beklagte insoweit nicht vorgebracht.
Da § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO von der Beklagten in den Bescheiden vom 23. Februar und 4. Mai 1979 unrichtig angewendet worden ist, sind zu Unrecht die noch streitigen Ersatzzeiten bei der Berechnung des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes nicht rentensteigernd berücksichtigt worden. Dieses hat nun für die Zeit ab Rentenbeginn am 8. Juli 1978 zu geschehen, denn der Kläger hat den Überprüfungsantrag im November 1979 innerhalb der Frist des § 44 Abs 4 SGB 10 gestellt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen