Leitsatz (amtlich)
Zur Frage, unter welchen Umständen der für eine Neufeststellung der Entschädigung nach RVO § 608 erforderliche Nachweis einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse als geführt angesehen werden kann, wenn Vergleichsunterlagen nicht mehr verfügbar sind (vergleiche BSG 1958-07-17 5 RKn 34/57 = BSGE 7, 295).
Normenkette
RVO § 608 Fassung: 1924-12-15
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. November 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Schlosser Heinrich T, der bei der Deutschen Reichsbahn beschäftigt war, wurde am 12. Februar 1920 von einem Arbeitsunfall betroffen. Er machte geltend, eine Verletzung seines rechten Ellenbogengelenks erlitten zu haben. Die Deutsche Reichsbahn gewährte ihm erstmalig im Jahre 1926, laufend seit 1930, eine Dauerrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 33 1/3 v. H. Die Verwaltungsakten hierüber sind durch die Kriegsereignisse verlorengegangen. Die Rente wurde nach 1945 weitergewährt, nach dem Gesetz über Zulagen und Mindestleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung vom 29. April 1952 umgerechnet und nach dem Gesetz zur vorläufigen Neuregelung von Geldleistungen in der gesetzlichen Unfallversicherung vom 27. Juli 1957 umgestellt.
Im Jahre 1958 ließ die Beklagte den Kläger in den Städt. Krankenanstalten Oldenburg-Kreyenbrück (Dr. L und Dr. F) nachuntersuchen. Der Kläger klagte über Schmerzen im rechten Ellenbogen und Kraftlosigkeit in der rechten Hand. Der Befund der Verletzungsfolgen ergab eine Streckbehinderung im rechten Ellenbogengelenk um 5 Grad und eine Beugemöglichkeit des Unterarms bis zu einem Winkel von 50 Grad. Die Sachverständigen halten nach dem Röntgenbefund das Gelenkleiden für eine Osteochondrosis dessecans , deren Entstehungsursache wegen der spärlichen Aktenunterlagen, insbesondere des Fehlens einer Vergleichsmöglichkeit mit früheren Befunden, nicht mit Sicherheit festzustellen sei; auf Grund des derzeitigen Befundes schätzen sie die MdE auf 10 v. H.
Auf Grund dieser gutachtlichen Äußerung entzog die Beklagte dem Kläger die Unfallrente durch Bescheid vom 22. Mai 1958. Im Klageverfahren hat das Sozialgericht (SG) Oldenburg den Sitzungsarzt Medizinaldirektor Dr. G als Sachverständigen gehört; er bezeichnet die schmerzhafte Bewegungseinschränkung im rechten Ellenbogengelenk als Folge einer sog. Osteochondrosis dissecans und schätzt die dadurch bedingte MdE auf 10 bis 15 v. H.; eine Besserung des Leidens seit dem Jahre 1930 hält er für unwahrscheinlich, da sich der Zustand einer Osteochondrose erfahrungsgemäß kaum bessern könne. Das SG ist auf Grund dieses Gutachtens der Ansicht, die Beklagte habe nicht nachweisen können, daß sich die Unfallfolgen seit der letzten Untersuchung, die für die Gewährung der Teilrente von 33 1/3 v. H. der Vollrente maßgebend sei, geändert haben und hat die Beklagte verurteilt, die Rente nach einer MdE von 33 1/3 v. H. über den 30. Juni 1958 hinaus zu zahlen.
Hiergegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) hat den Sachverständigen Medizinaldirektor Dr. G zu seinen Äußerungen vor dem SG ergänzend gehört. Er hält die Osteochondrosis dissecans im allgemeinen für unfallunabhängig und außerdem für nicht besserungsfähig. Durch Urteil vom 14. November 1961 hat das LSG die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung ist im wesentlichen folgendes ausgeführt: Der nach § 608 Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Neufeststellung einer Dauerrente erforderliche Nachweis einer wesentlichen Änderung der Verhältnisse, die für die Feststellung der Entschädigung maßgebend gewesen sind, sei im vorliegenden Falle nicht als erbracht anzusehen. Zwar sei nach bisheriger Rechtsprechung auch bei Verlust der Unfallakten eine solche Änderung als erwiesen zu erachten, wenn die neue ärztliche Untersuchung ergeben habe, daß der derzeitige Zustand des Verletzten eine andere Feststellung der Entschädigung rechtfertige. Dabei sei allerdings vorauszusetzen, daß die frühere Feststellung zu Recht erfolgt war. Diese Rechtsübung lasse sich seit der Entstehung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 17. Juli 1958 (BSG 7, 295) nicht mehr aufrechterhalten. Nach dieser Entscheidung müsse auch beim Fehlen von Vergleichsunterlagen hinsichtlich des früheren und des derzeitigen Verletzungszustandes versucht werden, aus allen erreichbaren Erkenntnisquellen zu einer sicheren Klärung der früheren (gesundheitlichen) Verhältnisse des Versicherten zu gelangen. Im vorliegenden Falle sei bei dieser rechtlichen Betrachtungsweise nicht als erwiesen anzusehen, daß seit Bewilligung der Rente im Jahre 1926 eine wesentliche Änderung eingetreten sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 30. Dezember 1961 zugestellt worden. Sie hat am 17. Januar 1962 Revision eingelegt und diese am 21. Februar 1962 wie folgt begründet: Das LSG sei ohne überzeugende Begründung von dem Grundsatz abgewichen, daß bei Verlust der Aktenunterlagen eine Neufeststellung der Dauerrente wegen Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO zulässig sei, wenn die ärztliche Nachprüfung ergäbe, daß der derzeitige Zustand des Verletzten die Gewährung der laufenden Rente nicht mehr rechtfertige. Im vorliegenden Falle sei es unwahrscheinlich, daß der Befund, der beim Kläger jetzt nach übereinstimmender ärztlicher Begutachtung mit einer MdE von nur noch 10 bis 15 v. H. zu bewerten sei, im Jahre 1930 ärztlicherseits auf 33 1/3 v. H. eingeschätzt und dementsprechend vom Versicherungsträger anerkannt worden sei. Der Kläger müsse nach seinem eigenen Vorbringen früher unter schwereren Verletzungsfolgen gelitten haben, als sie jetzt noch festzustellen seien. Er habe wiederholt geltend gemacht, daß er "damals wie heute noch keine Kraft im Arm" habe; da aber heute nachweislich nur noch geringe Restbeschwerden im rechten Arm vorhanden seien, müsse sich der Zustand gebessert haben. Der derzeitige Untersuchungsbefund rechtfertige den Schluß, daß seinerzeit nicht eine Osteochondrosis dissecans für die damals offensichtlich erheblichere Funktionseinbuße im rechten Arm angenommen worden sei, so daß andere, allerdings nicht bekannte Unfallfolgen vorgelegen haben müßten, die seinerzeit zu der Rentengewährung führten.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger ist am 24. Oktober 1962 gestorben. Aus einer amtlichen Bescheinigung der ev. luth. Kirchengemeinde Ofenerdiek in der Stadt Oldenburg ergibt sich, daß er bis zu seinem Tode mit seiner Ehefrau Paula T in häuslicher Gemeinschaft gelebt hatte. Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat für dessen Ehefrau erklärt, daß diese den durch den Tod des Klägers unterbrochenen Rechtsstreit aufnimmt.
Sie beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie führt aus: Die Behauptung der Beklagten, der Verletzungsbefund ihres Ehemannes habe sich im Laufe der Jahre gebessert gehabt, sei beweislos geblieben. Im übrigen sei es möglich, daß die MdE früher auf Grund einer Fehldiagnose überbewertet worden sei.
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Das Rechtsmittel ist somit zulässig. Es hatte jedoch keinen Erfolg. Das Revisionsverfahren war durch den Tod des am 24. Oktober 1962 gestorbenen Klägers unterbrochen worden. Seine Ehefrau Paula T hat das Verfahren nach § 68 SGG i. V. m. § 239 Abs. 1 der Zivilprozeßordnung aufgenommen. Hierzu war sie berechtigt. Da der Kläger mit ihr bis zu seinem Tode in häuslicher Gemeinschaft gelebt hatte, ist sie nach § 614 RVO für Entschädigungsbezüge, falls solche ihrem verstorbenen Ehemann aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustanden, allein bezugsberechtigt und damit Rechtsnachfolgerin ihres Ehemannes im Sinne der angeführten Vorschriften (vgl. SozR SGG § 68 Bl. Da 1 Nr. 1 und Bl. Da 2 Nr. 2).
Der Kläger Heinrich T hatte Anspruch auf die ihm von der Beklagten gewährte Dauerrente nach einer MdE von 33 1/3 v. H. über den 30. Juni 1958 hinaus. Das LSG hat mit Recht verneint, daß diese spätestens seit dem Jahre 1930 laufende Rente unter den Voraussetzungen des § 608 RVO entzogen werden durfte. Das LSG ist ohne Rechtsirrtum und ohne Verstoß gegen verfahrensrechtliche Vorschriften zu der Auffassung gelangt, daß gegenüber den tatsächlichen Verhältnissen, die für die Feststellung der Entschädigung des Klägers maßgebend gewesen sind, der Eintritt einer wesentlichen Besserung nicht nachgewiesen ist. Der für die Neufeststellung einer Dauerrente nach § 608 RVO erforderliche Nachweis einer solchen Änderung der Verhältnisse erfordert grundsätzlich einen Vergleich zwischen dem Ergebnis der neuerlichen Untersuchung und dem Verletzungsbefund, der zur Entschädigungsbewilligung geführt hat. Dieser Vergleich setzt die Kenntnis der früheren Schädigungsverhältnisse voraus, die im Normalfall aus den Unterlagen, insbesondere Rentenbescheiden und ärztlichen Gutachten, zu ersehen sind. Fehlen diese Unterlagen, etwa weil sie, wie im vorliegenden Streitfall, durch Kriegseinwirkung verlorengegangen sind, so muß, wie in der im angefochtenen Urteil angeführten Entscheidung des BSG vom 17. Juli 1958 (BSG 7, 295) ausgesprochen ist, zur Durchführung des Vergleichs der Unfallfolgen versucht werden, aus allen zu Gebote stehenden Erkenntnisquellen zu einer ausreichenden Klärung der früheren Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO zu gelangen. Eine Feststellung des damals bestehenden Zustandes ist jedenfalls unerläßlich. Hiernach ist es grundsätzlich nicht zulässig, allein aus der Tatsache, daß der derzeitige gesundheitliche Befund nicht mehr die laufende Rentengewährung rechtfertigt, ohne weiteres auf eine wesentliche Änderung der Verhältnisse des Verletzten gegenüber dem Zeitpunkt der Rentenbewilligung zu schließen; denn eine Entschädigung entspricht objektiv nicht immer Gesundheitsstörungen, welche Folgen des der Leistungsgewährung zugrunde liegenden Arbeitsunfalls sind oder in ihrer Bedeutung für die Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten zutreffend bewertet worden sind.
Allerdings schließt das Fehlen von Unterlagen aus der früheren Zeit nicht in jedem Falle die Möglichkeit aus, eine wesentliche Änderung der Verhältnisse im Sinne des § 608 RVO festzustellen (vgl. auch Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung Bd. II S. 582 a; Lauterbach, Unfallversicherung, S. 148 a, Anm. 2 zu § 608 RVO). Vielmehr wird eine solche Änderung z. B. als erwiesen angesehen werden können, wenn der derzeitige Untersuchungsbefund medizinisch-naturwissenschaftlich den Schluß rechtfertigt, daß es sich um den gegenwärtigen Zustand einer durch den Arbeitsunfall verursachten Gesundheitsstörung handelt, und ausreichend sichere Schlüsse hinsichtlich der Entwicklung dieser Gesundheitsstörung und damit auch hinsichtlich des Zustands im Zeitpunkt der letzten Rentenfeststellung möglich sind.
Im vorliegenden Fall sind jedoch nach den Ausführungen der Sachverständigen derartige medizinisch-naturwissenschaftliche Rückschlüsse auf den früheren Zustand nicht möglich. Der Kläger litt nach den auf Grund der im Verfahren erstatteten ärztlichen Gutachten an einer Osteochondrosis dissecans im rechten Ellenbogengelenk. Von dieser Erkrankung rührte die zwar schmerzhafte, die Erwerbsfähigkeit des Klägers aber nach Auffassung der vorliegenden ärztlichen Gutachten nicht mehr als 10 bis 15 v. H. beeinträchtigende Bewegungsbehinderung im rechten Arm her. Bei der Gelenkschädigung handelte es sich um ein Leiden, das nicht auf eindeutig erkennbare Folgen des Unfalls schließen läßt, der dem Kläger im Jahre 1920 zugestoßen war, ihn aber erst mehrere Jahre später zwang, Entschädigungsansprüche wegen Verschlimmerung der Erkrankung geltend zu machen. Die Revision räumt selbst ein, daß nicht mehr bekannt ist, welche Unfallfolgen bei der Rentenbewilligung als festgestellt angesehen worden sind. Bei der Natur des im Zeitpunkt der Rentenentziehung festgestellten Gelenkleidens des Klägers, der Osteochondrosis dissecans, und deren Bedeutung für die Frage des ursächlichen Zusammenhangs mit dem Unfall vom Jahre 1920 liegt es nahe, daß dieses Leiden schon im Zeitpunkt der Rentengewährung bestanden hat und fälschlicherweise als Unfallfolge beurteilt oder in seiner Auswirkung auf die Erwerbsfähigkeit des Klägers unrichtig bewertet worden ist. Die Osteochondrosis dissecans ist nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils, die insoweit auch die Revision nicht in Zweifel zieht, eine Erkrankung, deren Besserung unwahrscheinlich ist.
Hiermit erledigt sich auch der Hinweis der Revision, die eigene Angabe des Klägers, sein rechter Arm sei seit dem Unfall unverändert kraftlos geblieben, lasse auf eine Besserung des Leidenszustandes schließen, weil erwiesenermaßen die Gelenkbeschwerden im Zeitpunkt der letzten Untersuchung nur noch eine MdE von 10 v. H. bedingten. Auch insoweit ist es möglich, daß den Feststellungsinstanzen seinerzeit eine fehlerhafte Beurteilung der Auswirkung des wirklichen Unfallschadens auf die Gebrauchsfähigkeit des rechten Armes des Klägers unterlaufen ist.
Die Revision der Beklagten muß somit als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen