Leitsatz (redaktionell)
Eine Filialleiterin, die in einem mit dem Firmenschild des Inhabers versehenen und unter dessen Namen gewerberechtlich angemeldeten Ladengeschäft nur die von diesem gelieferten Waren bei wöchentlicher Abrechnung verkauft, während der Inhaber für sämtliche Geschäftsunkosten aufkommt und die nicht verkauften Waren zurücknimmt, unterliegt als Angestellte der Versicherungspflicht.
Orientierungssatz
Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen die selbständige Stellung eines Handelsvertreters iS von HGB § 84 zu bejahen ist.
Normenkette
RVO § 165 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1965-08-24; AVG § 2 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVAVG § 56 Abs. 1 Fassung: 1957-04-03; HGB § 84 Abs. 1
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 2. April 1969 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Streitig ist, ob die Beigeladene zu 1) seit 1963 versicherungspflichtig zur Krankenversicherung, zur Rentenversicherung der Angestellten und zur Arbeitslosenversicherung gewesen ist und ob für sie die gesetzlichen Versicherungsbeiträge zu leisten sind.
Die Klägerin stellt Textilien her. Sie unterhält in mehreren Orten Verkaufsstellen. Im Jahre 1960 meldete sie auch bei der Stadt Bad O den "Verkauf von Decken, Taschentüchern, Blusen und Handstickereien" an. Sie mietete dafür einen Raum, den sie mit dem Firmenschild "H. W und Co. KG" versah. Sie trug auch die Kosten für Miete, Heizung, Beleuchtung u.a. des Raumes. Die Beigeladene zu 1) (Ehefrau eines pensionierten Lehrers) verkaufte darin die Waren der Klägerin. Sie war als "Vertreterin im Nebenberuf" gewerberechtlich gemeldet und erhielt von der Klägerin eine Provision in Höhe von 10 % des Verkaufserlöses.
Im Dezember 1965 führte die Beklagte bei der Klägerin eine Betriebsprüfung durch. Sie kam dabei zu dem Ergebnis, daß die Beigeladene zu 1) bei der Ausübung ihrer Verkaufstätigkeit nicht das Unternehmerrisiko eines selbständigen Kaufmannes trage; deshalb und aufgrund der Verdiensthöhe habe sie vom März 1963 bis Dezember 1964 der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung, Angestelltenversicherung und Arbeitslosenversicherung, vom Januar bis August 1965 nur der Angestellten- und Arbeitslosenversicherungspflicht und vom September 1965 an wiederum auch der Krankenversicherungspflicht unterlegen. Die Beklagte forderte demgemäß von der Klägerin Beiträge im Gesamtbetrag von 4.045,22 DM nach (Bescheid vom 29. Dezember 1965, Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1967).
Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg gewesen.
Mit der zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzungen des § 84 des Handelsgesetzbuches (HGB) und weiterer Vorschriften des Handelsvertreterrechts sowie der rechtlich garantierten Vertragsfreiheit.
Die Klägerin beantragt die Urteile des Bayerischen Landessozialgerichts (LSG) und des Sozialgerichts (SG) Bayreuth vom 2. April 1969 und 28. Mai 1968 sowie den Bescheid der Beklagten vom 29. Dezember 1965 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17. Juli 1967 aufzuheben.
Die Beklagte und die Beigeladenen zu 2) und 3) beantragen, die Revision zurückzuweisen.
Sie machen sich die Rechtsauffassung des LSG zu eigen.
Die Beigeladene zu 1) ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.
Sämtliche Beteiligte sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet.
Die Beitragspflicht der Klägerin hängt davon ab, ob die Beigeladene zu 1) vom März 1963 an in der Krankenversicherung, der Angestelltenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung versicherungspflichtig gewesen ist (§§ 165, 165 b der Reichsversicherungsordnung - RVO -, §§ 2, 3 des Angestelltenversicherungsgesetzes - AVG -, § 56 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -; vgl. nunmehr auch § 168 des Arbeitsförderungsgesetzes - AFG -). Maßgebend ist somit, ob die Beigeladene zu 1) als Angestellte in einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis gestanden hat. Dies ist vom LSG zu Recht bejaht worden.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ist wesentliches Merkmal eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses die persönliche Abhängigkeit des Beschäftigten gegenüber einem Arbeitgeber (vgl. BSG 10, 41, 44; 13, 130, 132; 15, 65, 69; 16, 98, 101; 16, 289, 293; 20, 6, 8; SozR Nrn. 22, 28, 51, 55 und 62 zu § 165 RVO; SozR Nr. 15 zu § 1227 RVO). Sie äußert sich vornehmlich in der Eingliederung des Arbeitenden in einen Betrieb und dem damit in aller Regel verbundenen Direktionsrecht des Arbeitgebers. Diese Weisungsbefugnis kann allerdings im Einzelfall hinsichtlich der Ausführung der Arbeit stark eingeschränkt sein. Trotzdem bleibt in solchen Fällen die Arbeitsleistung fremdbestimmt, wenn sie ihr Gepräge von der Ordnung des Betriebes erhält, in dessen Dienst sie verrichtet wird. An die Stelle der Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers tritt in solchen Fällen die funktionsgerechte, dienende Teilhabe am Arbeitsprozeß (vgl. BSG 20, 6, 8 und SozR Nr. 55 zu § 165 RVO jeweils unter Hinweis auf BSG 16, 289, 293, 294). Bedeutsame Anhaltspunkte für die Abgrenzung von abhängiger Beschäftigung und selbständiger Tätigkeit sind außerdem das Vorhandensein oder Fehlen einer eigenen Betriebsstätte und insbesondere eines eigenen Unternehmerrisikos (vgl. SozR Nr. 51 zu § 165 RVO) sowie die wirtschaftliche und soziale Stellung des Dienstleistenden (SozR Nr. 15 zu § 1227 RVO). Maßgebend muß aber immer das Gesamtbild der Tätigkeit unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung bleiben (vgl. SozR Nr. 51 zu § 165 RVO und SozR Nr. 4 zu § 2 AVG). Dabei kann in Grenzfällen nur eine Gesamtwürdigung aller Tätigkeitsmerkmale klären, ob im Einzelfall eine selbständige Berufsausübung oder eine Beschäftigung als Arbeitnehmer vorliegt (vgl. BSG 11, 257, 260; SozR Nr. 51 und Nr. 55 zu § 165 RVO). Nach diesen Kriterien überwiegen hier - wie das LSG zutreffend erkannt hat - die Umstände, welche für eine abhängige Beschäftigung der Beigeladenen zu 1) sprechen.
Nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindenden Feststellungen des LSG hat die Klägerin das von der Beigeladenen zu 1) geführte Ladengeschäft unter ihrem Namen gewerberechtlich angemeldet. Die Klägerin kommt für sämtliche Geschäftsunkosten auf und ist nach dem Firmenschild am Laden auch dessen Inhaber. Die Beigeladene zu 1) verkauft in diesem Laden während der festgelegten Öffnungszeiten nur die von der Klägerin gelieferten Waren und setzt dabei auf die Kassenzettel den Stempel der Klägerin. Sie rechnet wöchentlich mit der Klägerin ab. Die von der Beigeladenen zu 1) nicht verkauften Waren werden von der Klägerin zurückgenommen. Aus diesen Feststellungen des LSG folgt, daß die Beigeladene zu 1) keinerlei Unternehmerrisiko trägt und örtlich sowie organisatorisch in den Betrieb der Klägerin eingegliedert ist. Damit unterscheidet sich die Tätigkeit der Beigeladenen zu 1) nicht wesentlich von der üblichen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung einer Verkäuferin.
Demgegenüber spielen die nicht einmal schriftlich festgelegten Vereinbarungen, die für eine Selbständigkeit sprechen könnten, eine untergeordnete Rolle. Die Beigeladene zu 1) war nicht - wie die Revision meint - schon deshalb selbständiger Handelsvertreter i.S. des § 84 Abs. 1 HGB, weil sie den Umfang ihrer Tätigkeit und die Höhe ihres Verdienstes selbst habe bestimmen können. Die Bezahlung lediglich nach dem Erfolg der Arbeit ist nach der Rechtsprechung des BSG kein zwingender Grund für den Ausschluß einer persönlichen Abhängigkeit des Beschäftigten (vgl. BSG 11, 257, 261; 13, 130, 133). Dies ergibt sich bereits aus § 160 RVO, wonach auch die Entlohnung einer Arbeitsleistung allein durch Provision eine Beschäftigung gegen Entgelt i.S. der §§ 165 Abs. 2 RVO, 2 Abs. 1 Nr. 1 AVG sein kann. Schon deshalb ist es unerheblich, daß der finanzielle Erfolg der Tätigkeit der Beigeladenen zu 1) von ihrer beruflichen Tüchtigkeit abhängig gewesen ist. Dieses Risiko des Einkommens ist von dem bei einem selbständigen Beruf typischen Unternehmerrisiko zu unterscheiden. Ersteres tragen auch andere Arbeitnehmer, wie zB Stücklohn-, Akkord- oder Heimarbeiter. Letzteres bedeutet dagegen Einsatz eigenen Kapitals, der auch mit der Gefahr eines Verlustes verbunden sein kann. Die Beigeladene zu 1) hat aber ausschließlich ihre Arbeitskraft eingesetzt (vgl. BSG 13, 130, 134).
Entgegen der Auffassung der Revision kann die Selbständigkeit eines Handelsvertreters auch nicht allein aus den in § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB festgelegten gesetzlichen Merkmalen hergeleitet werden. Die Revision beruft sich in diesem Zusammenhang darauf, daß die Frage, ob jemand selbständiger Handelsvertreter sei, nach öffentlichem Recht nicht anders beurteilt werden könne als nach bürgerlichem Recht. Sie übersieht dabei, daß auch die herrschende Meinung zu § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB die Kennzeichnung des selbständigen Handelsvertreters im Gesetz (freie Ausgestaltung von Tätigkeit und Arbeitszeit) nur als Anhalt bei der Würdigung der gesamten Umstände wertet (vgl. Schlegelberger, HGB, 1. Band, 4. Aufl., Anm. 3 zu § 84; Baumbach-Duden, HGB, 19. Aufl., Anm. 5 B zu § 84 mit weiteren Nachweisen). Maßgebend ist hiernach, ob nach den Abreden zwischen Unternehmer und Beauftragten und der ganzen tatsächlichen Ausgestaltung der Beziehungen der Beauftragte eine im Rechtssinn persönlich selbständige Stellung als Unternehmer eines eigenen Handelsgewerbes (vgl. § 1 Abs. 2 Nr. 7 HGB) mit eigenem Unternehmerrisiko hat (so Schlegelberger, aaO, Anm. 3 a). Wenn die Revision aus den Ausführungen von Schröder bei Schlegelberger, aaO, Anm. 7, die Eigenschaft der Beigeladenen zu 1) als selbständige Gewerbetreibende ableiten will, so übersieht sie, daß dort nur dargelegt ist, daß der Beauftragte auch aufgrund eines mit einem einzigen Unternehmer abgeschlossenen Vertrags selbständiger Gewerbetreibender wird, sofern es sich nach der ganzen Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses um die Einräumung der persönlich selbständigen Handelsvertreterstellung handelt. Gerade daran fehlt es.
Im übrigen kann der Revision auch nicht in der Auffassung gefolgt werden, daß die Beigeladene zu 1) die Möglichkeit gehabt habe, i.S. von § 84 Abs. 1 Satz 2 HGB im wesentlichen frei ihre Tätigkeit zu gestalten und ihre Arbeitszeit zu bestimmen. Dies wäre nur dann der Fall gewesen, wenn die Beigeladene zu 1) ohne Mindestarbeitszeit und bestimmtes Arbeitspensum tätig geworden wäre (vgl. Baumbach-Duden, aaO). Davon kann aber schon im Hinblick auf die von der Beigeladenen zu 1) regelmäßig eingehaltenen Ladenöffnungszeiten keine Rede sein. Dem LSG ist auch beizupflichten, wenn es aus dem Umstand, daß sich die Beigeladene zu 1) während einer Krankheit oder eines kurzen Urlaubs von ihrer Mutter im Ladengeschäft vertreten läßt, für die Frage der Selbständigkeit keine maßgeblichen Schlußfolgerungen gezogen hat. Eine derartige Vertretung kann nämlich weder bei einer abhängigen Beschäftigung noch bei einer selbständigen Tätigkeit eines Handelsvertreters als üblich angesehen werden. Der Hinweis der Revision, die Klägerin habe der Beigeladenen zu 1) niemals konkrete Weisungen erteilt, vermag die persönliche Abhängigkeit der Beigeladenen zu 1) auch deshalb nicht auszuschließen, weil die Klägerin - worauf das LSG zutreffend abgestellt hat - infolge der wöchentlichen Abrechnungen über die verkauften Waren ohnehin eine ausreichende Kontrollfunktion ausübt. Diese wöchentliche Abrechnungspflicht der Beigeladenen zu 1) unterstreicht noch den organisatorischen Zusammenhang, der zwischen dem von der Beigeladenen zu 1) geführten Ladengeschäft und dem Betrieb der Klägerin besteht. Durch die Abrechnungstätigkeit wird somit die bereits aufgezeigte Eingliederung der Beigeladenen zu 1) in den Betrieb der Klägerin bestätigt.
Der Annahme eines Beschäftigungsverhältnisses steht auch nicht entgegen, daß nach dem Vortrag der Revision der erkennbare Wille der Beigeladenen zu 1) und der Klägerin auf die Begründung eines Rechtsverhältnisses gerichtet gewesen sei, in dem die Beigeladene zu 1) Selbständigkeit besessen hätte. Dieser Wille der Beteiligten wäre für die sozialversicherungsrechtliche Beurteilung nur dann zu beachten, wenn die tatsächliche Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses diesem Willen entsprochen hätte. Dem war hier aber nicht so. Dann kann es für die rechtliche Beurteilung der Versicherungspflicht der Beigeladenen zu 1) nicht auf die von den Vertragsparteien gewählten Bezeichnungen, sondern nur auf die tatsächliche Ausführung der beruflichen Tätigkeit und die für sie maßgeblichen Verhältnisse ankommen. Den Vertragsparteien ist es insoweit versagt, über ihre öffentlich-rechtlichen Pflichten zu paktieren (vgl. BSG 11, 257, 262; 13, 130, 134). Darin kann entgegen der Ansicht der Revision keine Verletzung der Vertragsfreiheit gesehen werden, weil diese nur im Rahmen der geltenden Rechtsordnung ausgeübt werden kann (vgl. Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes). Im übrigen wäre die Klägerin nicht daran gehindert gewesen, die Beigeladene zu 1) als selbständiger Handelsvertreter mit dem Verkauf ihrer Waren zu betrauen. Nur hätte es dann einer anderen Ausgestaltung des Vertragsverhältnisses - insbesondere eines echten Unternehmerrisikos der Beigeladenen zu 1) durch Einsatz eigener Betriebsmittel - bedurft.
Schließlich kann auch die steuerliche Beurteilung der Tätigkeit der Beigeladenen zu 1) - wie das LSG ebenfalls richtig erkannt hat - nicht für die Frage entscheidend sein, ob die Beigeladene zu 1) im streitigen Zeitraum abhängig oder selbständig gewesen ist (vgl. hierzu BSG 11, 257, 262; 13, 130, 134). Dabei brauchen die wiederholten An- und Abmeldungen des Gewerbes durch die Beigeladene zu 1) nicht besonders gewürdigt werden, weil einerseits die Beigeladene zu 1) zur Gewerbemindeststeuer herangezogen, andererseits aber auch die Klägerin für den Betrieb des Ladengeschäfts zur Gewerbesteuer veranlagt worden ist.
Bei der Gesamtwertung der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse sowie der Art der Tätigkeit muß man daher eine selbständige Stellung der Beigeladenen zu 1) als Handelsvertreter i.S. von § 84 Abs. 1 HGB verneinen. Sie gilt damit als Angestellte (§ 84 Abs. 2 HGB) und ist als solche - Sozialversicherungsrechtlich gesehen - gegen Entgelt beschäftigt. Darauf beruht ihre Versicherungspflicht (§§ 160, 165, 165 b RVO; 2, 3 AVG; 56 AVAVG). Die Beklagte hat somit als Einzugsstelle für die gesamten Sozialversicherungsbeiträge (vgl. §§ 121 AVG, 160 AVAVG, 176 AFG) von der Klägerin zu Recht die der Höhe nach unstreitigen Beiträge nachgefordert.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen