Leitsatz (amtlich)
Der vor Einführung der Reichsarbeitsdienstpflicht geleistete Freiwillige Arbeitsdienst eines 1915 geborenen Reichsarbeitsdienstpflichtigen ist mit 6 Monaten eine Ersatzzeit nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1, wenn die Voraussetzungen des Art 2 der 2. DV RADG vom 1935-10-01 (RGBl 1 1935, 1215) - Erhalt des Arbeitspasses vor dem 1935-10-01 - erfüllt waren und gesetzlich bestimmte Umstände, die der Einberufung zum Reichsarbeitsdienst zB nach dem RADG vom 1935-06-26 (RGBl 1 1935, 769) und der genannten 2. DV RADG entgegengestanden hätten, nicht gegeben sind.
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1965-06-09; RArbDGDV 2 Art. 2 Fassung: 1935-10-01
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. September 1973 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Zeit der Dienstleistung des Klägers beim Freiwilligen Arbeitsdienst (FAD) vom 1. April bis 30. September 1935 rentensteigernd als Ersatzzeit auf die Rente des Klägers wegen Erwerbsunfähigkeit anzurechnen ist.
Der am 24. Januar 1915 geborene Kläger, der nach seiner Schlosserlehre (April 1929 bis April 1933) Notstandsarbeiter im Straßenbau war und anschließend bis Ende September 1934 in seinem Beruf als Schlossergeselle gearbeitet hatte, war vom 1. Oktober 1934 bis 30. September 1935 im FAD. Danach war er, abgesehen vom Wehrdienst, versicherungspflichtig beschäftigt, zuletzt bei der Deutschen Bundesbahn; er schied aus dem Dienst bei der Deutschen Bundesbahn als Oberwerkmeister im Beamtenverhältnis aus.
Die Beklagte gewährte ihm vom 1. Juli 1972 an Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, rechnete aber die Zeit des FAD vom 1. Oktober 1934 bis 30. September 1935 mit der Begründung nicht als Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) rentensteigernd an, sie sei nicht aufgrund einer gesetzlichen Dienstpflicht geleistet worden (Bescheid vom 3. November 1972). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 1. April bis 30. September 1935 als Ersatzzeit anzurechnen (Urteil vom 15. März 1973). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 6. September 1973).
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. September 1973 und des SG Detmold vom 15. März 1973 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 3. November 1972 abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist zulässig, aber unbegründet.
Die Beklagte wendet sich zu Unrecht gegen die von den Vorinstanzen vertretene Entscheidung, daß dem Kläger die Zeit vom 1. April bis 30. September 1935 als Ersatzzeit gemäß § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO für die Erfüllung der Wartezeit anzurechnen ist. Dieses Ergebnis ist gerechtfertigt.
Nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO sind für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeiten u. a. Zeiten des militärähnlichen Dienstes im Sinne des § 3 des Bundesversorgungsgesetzes anzurechnen, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht geleistet worden ist. Als militärähnlicher Dienst gilt nach § 3 Abs. 1 Buchst. i BVG der Reichsarbeitsdienst (RAD). Der FAD ist weder dort noch an anderer Stelle des § 3 BVG als militärähnlicher Dienst aufgeführt. Da der Kläger keinen RAD, vielmehr FAD geleistet hat, scheidet eine unmittelbare Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO iVm § 3 Abs. 1 Buchst. i BVG aus.
Zwar ist das Begehren des Klägers nach Anrechnung der Zeit vom 1. April bis 30. September 1935 als Ersatzzeit nicht unmittelbar aus § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO iVm § 3 Abs. 1 Buchst. i) BVG begründet; doch ist diese Vorschrift in Übereinstimmung mit dem Berufungsgericht entsprechend anzuwenden. Sie ist ungewollt lückenhaft, so daß die Lücke durch die Rechtsprechung zu schließen ist.
Nach Sinn und Zweck der in § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO aufgeführten Ersatzzeitentatbestände sollen diese als Zeiten ohne Beitragsleistung (§ 1250 Abs. 1 Nr. 2 RVO) unterbliebenen Beitragsleistungen ausgleichen. Das Gesetz sieht solche Zeiten vor, in denen der Versicherte wegen der besonderen und im einzelnen bezeichneten Tatbestände regelmäßig daran gehindert war, eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit auszuüben und in denen deshalb für ihn keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet worden sind. Die Ersatzzeitentatbestände des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO, sämtlich außergewöhnlicher Art, messen dem jeweiligen Eingriff von hoher Hand, der den Beitragsausfall bewirkt, die entscheidende Bedeutung bei. Dies trifft nicht nur auf den RAD, der aufgrund der im Reichsarbeitsdienstgesetz (RADG) vom 26. Juni 1935 (RGBl. I S. 769) geregelten gesetzlichen Dienstpflicht geleistet worden ist, zu, sondern auch auf den FAD, wenn er unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen den an sich Arbeitsdienstpflichtigen von der zusätzlichen Ableistung des RAD befreite.
Nach § 8 Abs. 3 Satz 1 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 (RGBl. I S. 609): "Die Erfüllung der Arbeitsdienstpflicht ist eine Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst" hätte der Kläger als Angehöriger des wehrpflichtigen Jahrgangs 1915 vor dem Wehrdienst seine Arbeitsdienstpflicht erfüllen müssen. Das nach dem Wehrgesetz erlassene RADG vom 26. Juni 1935 erkannte in § 3 Abs. 1 dem "Führer und Reichskanzler" das Recht zu, die Zahl der alljährlich einzuberufenden Dienstpflichtigen zu bestimmen und die Dauer der Dienstzeit festzusetzen, die frühestens nach vollendetem 18. Lebensjahr beginnen und spätestens mit Vollendung des 25. Lebensjahres enden sollte (Abs. 2 aaO). Dem vorausgehend war bereits durch § 1 Abs. 3 der Verordnung des Reichskriegsministers und des Reichsministers des Inneren über die Musterung und Aushebung 1935 vom 29. Mai 1935 (RGBl. I S. 697) verfügt worden, daß zum Arbeitsdienst die Dienstpflichtigen des Jahrgangs 1915 bestimmt sind. Diese Regelung erklärt sich aus der damaliger Zeit, in der ein totalitärer Staat mit größter Beschleunigung einen RAD und eine Wehrmacht aufbaute. Hatten also die gemusterten, für tauglich befundenen und ausgehobenen männlichen Angehörigen des Jahrgangs 1915 ihre Arbeitsdienstpflicht vom 1. Oktober 1935 an zu erfüllen, so galt dies ausnahmsweise nicht unter den Voraussetzungen des Artikels 2 der Zweiten Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des RADG vom 1. Oktober 1935 (RGBl. I S. 1215), die der Reichsminister des Inneren aufgrund des § 26 des RADG erlassen hatte. Danach galt die RAD-Pflicht u. a. "für diejenigen Dienstpflichtigen als erfüllt, die vor dem 1. Oktober 1935 den Arbeitspaß erhalten haben". Zwar hat der Kläger, wie das LSG unangefochten und daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG) festgestellt hat, vor dem 1. Oktober 1935 keinen "Arbeitspaß", sondern einen "Arbeitsdienstpaß" erhalten, in dem ihm das Meldeamt für den Arbeitsdienst Paderborn außer der Dauer des Arbeitsdienstes vom 1. Oktober 1934 bis 30. September 1935 bescheinigte, daß er "der Arbeitsdienstpflicht gemäß Wehrgesetz § 8, 3 genügt" habe. Wie bereits das Berufungsgericht zutreffend festgestellt hat, genügt als Nachweis für den geleisteten Arbeitsdienst der "Arbeitsdienstpaß" (vgl. § 40 Abs. 1 Buchstabe g der Verordnung des Reichskriegsministers und des Reichsministers des Inneren vom 29. Mai 1935). Damit war der Kläger aufgrund seiner Dienstleistung im FAD als Dienstpflichtiger des Jahrgangs 1915 vor dem 1. Oktober 1935 so gestellt, als wenn er den RAD nach dem 1. Oktober 1935 geleistet hätte. Dies wurde damals auch praktisch anerkannt: Der Kläger wurde nicht zum RAD herangezogen. Nach alledem wurde der Kläger rechtlich und tatsächlich so behandelt, als wenn er die gesetzliche RAD-Pflicht im RAD erfüllt hätte. Dies rechtfertigt es, diese Gleichstellung in die Ersatzzeitenregelung zu übertragen, so daß grundsätzlich auch ein von einem Arbeitsdienstpflichtigen vor der Einführung des RAD geleisteter FAD in dem zeitlichen Umfang Ersatzzeit sein kann, der für den RAD vorgeschrieben war. Die Dienstzeit betrug für alle arbeitsdienstpflichtigen Wehrpflichtigen im RAD ein halbes Jahr (Artikel 1 des Erlasses des Führers und Reichskanzlers über die Dauer der Dienstzeit des RAD und die Stärke des RAD und des Arbeitsdienstes für die weibliche Jugend vom 26. September 1936 - RGBl. I S. 747). Da der Kläger die Anrechnung der Ersatzzeit nur in diesem zeitlichen Umfang begehrt, ist es rechtlich bedenkenfrei, daß die Vorinstanzen ihm eine Ersatzzeit vom 1. April bis 30. September 1935 zuerkannt haben.
Die Beklagte beruft sich zur Stütze ihrer Auffassung auf das Urteil des erkennenden Senats vom 29. Oktober 1969 - 12 RJ 214/69 - (SozR Nr. 41 zu § 1251 RVO). Dort hat der Senat ausgesprochen, daß die Zeit der Zugehörigkeit zum FAD bei einem Versicherten, dessen Geburtsjahrgang später nicht zur Ableistung der RAD-Pflicht aufgerufen wurde, auch insoweit keine Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO ist, als mit ihr nach Artikel 2 der Zweiten Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des RADG vom 1. Oktober 1935 die RAD-Pflicht als erfüllt galt. In jenem Fall war die Ausgangslage eine andere als diejenige des hier zu entscheidenden Falles. Der dortige Kläger gehörte zum Geburtsjahrgang 1911. Die Angehörigen dieses Jahrgangs sind nie arbeitsdienstpflichtig gewesen. Damit konnte die allein einem Dienstpflichtigen zugute kommende Fiktion des Art. 2 der o. a. Verordnung vom 1. Oktober 1935 schon vom Ansatz her nicht Platz greifen (vgl. Bl. Aa 37 der Nr. 41 zu § 1251 RVO).
Die Fiktion des Art. 2 der o. a. Verordnung vom 1. Oktober 1935 kann indes dann nicht durchgreifen, wenn der Einberufung zum RAD gesetzlich bestimmte Gründe entgegengestanden hätten, die bei der Dienstleistung im FAD unbeachtet geblieben waren, z. B. Ausschluß vom RAD (§§ 5, 7 des RADG) oder zwingende Zurückstellungsgründe (vgl. Art. 10 der o. a. Verordnung vom 1. Oktober 1935 mit Hinweis auf §§ 21 bis 27 der Verordnung über die Musterung und Aushebung 1935 vom 29. Mai 1935). Für derartige Gründe besteht aber im Falle des Klägers kein Anhalt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen