Leitsatz (amtlich)
Der vor Einführung der Reichsarbeitsdienstpflicht geleistete Freiwillige Arbeitsdienst eines 1914 geborenen Versicherten ist keine Ersatzzeit nach AVG § 28 Abs 1 Nr 1 (= RVO § 1251 Abs 1 Nr 1).
Normenkette
AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. i Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. Januar 1975 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 29. Juli 1974 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Zeit der Dienstleistung des Klägers beim Freiwilligen Arbeitsdienst (FAD) vom 1. April bis 30. September 1935 als Ersatzzeit anzuerkennen.
Der am 3. Juli 1914 geborene Kläger beantragte im Februar 1973, die streitige Zeit sowie die Zeit seines Wehrdienstes vom 29. Oktober 1935 bis 2. Oktober 1937 als Ersatzzeiten anzuerkennen. Er legte den am 25. September 1935 ausgestellten Arbeitsdienstpaß vor, in dem bescheinigt ist, daß er seiner Arbeitsdienstpflicht nach § 8 Abs. 3 des Wehrgesetzes genügt habe. Die Beklagte erkannte nur die geltend gemachte Wehrdienstzeit als Ersatzzeit an. Dagegen könne der von Versicherten des Geburtsjahrgangs 1914 geleistete FAD unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. Oktober 1969 - 12 RJ 214/69 - keine Ersatzzeit sein (Bescheid vom 7. September 1973, Widerspruchsbescheid vom 6. Dezember 1973).
Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem Sozialgericht (SG) keinen Erfolg (Urteil vom 29. Juli 1974). Auf die Berufung des Klägers verpflichtete das Landessozialgericht (LSG) die Beklagte, die Zeit vom 1. April bis 30. September 1935 als weitere Ersatzzeit anzuerkennen und dem Kläger in den Versicherungsnachweisen zu bescheinigen. Zur Begründung führte es im wesentlichen aus: Der Anrechnung einer Ersatzzeit stehe nicht entgegen, daß der Kläger nicht zum Reichsarbeitsdienst (RAD) eingezogen worden sei, sondern den FAD geleistet habe. Die Vorschrift des § 28 Abs. 1 Nr. 1 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) regele die Ersatzzeittatbestände nicht in dem Sinne abschließend, daß allen weiteren dort und in § 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht ausdrücklich erwähnten militärähnlichen Dienstleistungen ein Ersatzzeitcharakter ausnahmslos abzusprechen sei. Vielmehr sei diese Vorschrift ungewollt lückenhaft und daher durch die Rechtsprechung auszufüllen (Hinweis auf das BSG-Urteil vom 1. März 1974 - 12 RJ 324/73). Der vor der Einführung der RAD-Pflicht geleistete FAD könne in entsprechender Anwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG i. V. m. § 3 Abs. 1 Buchst. i BVG dann mit 6 Monaten Ersatzzeit angerechnet werden, wenn dafür bestimmte Voraussetzungen erfüllt seien und insbesondere gesetzlich bestimmte Umstände, die der Einberufung zum RAD entgegengestanden hätten, nicht gegeben seien. Der Kläger sei aufgrund seiner Dienstleistung im FAD als aktiv Dienstpflichtiger des Jahrgangs 1914 vor dem 1. Oktober 1935 so gestellt worden, als wenn er den für ihn nach den damaligen gesetzlichen Bestimmungen grundsätzlich noch in Betracht kommenden RAD nach dem 1. Oktober 1935 geleistet hätte. Er sei somit rechtlich und tatsächlich so behandelt worden, als hätte er seine gesetzliche Dienstpflicht im RAD erfüllt. Dies rechtfertige es, den Kläger als Angehörigen des Geburtsjahrgangs 1914, der zusammen mit den Angehörigen des Jahrgangs 1915 durch die Verordnung über die Musterung und Aushebung 1935 vom 29. Mai 1935 erfaßt worden sei, hinsichtlich der Anrechnungsfähigkeit seines sechsmonatigen FAD einem Angehörigen des Jahrgangs 1915 gleichzustellen (Urteil vom 14. Januar 1975).
Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG durch das Berufungsgericht.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung gegen das Urteil des SG Hamburg vom 29. Juli 1974 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die durch Zulassung statthafte Revision ist begründet.
Die Beklagte hat es durch die Bescheide vom 7. September und 6. Dezember 1973 abgelehnt, die Zeit von April bis September 1935 als Ersatzzeit anzuerkennen. Die hiergegen erhobene Klage ist vom LSG ebenso wie vorher vom SG zutreffend - wenn gleich ohne nähere Begründung - als zulässige Anfechtungs- und Verpflichtungsklage angesehen worden, weil der Kläger bereits vor Eintritt des Versicherungsfalles die verbindliche Feststellung von zurückgelegten Ersatzzeiten verlangen kann (vgl. BSG 31, 226, 229).
Nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG werden für die Erfüllung der Wartezeit Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes im Sinne der §§ 2 und 3 BVG, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist, als Ersatzzeiten angerechnet, wenn eine der in § 28 Abs. 2 AVG genannten Voraussetzungen erfüllt ist. Als militärähnlicher Dienst gilt nach § 3 Abs. 1 Buchst. i BVG der RAD. Der vom Kläger im streitigen Zeitraum geleistete FAD ist dagegen an keiner Stelle des § 3 BVG als militärähnlicher Dienst aufgeführt. Eine unmittelbare Anwendung des § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG kommt somit nicht in Betracht.
Die Beklagte wendet sich auch zu Recht gegen die vom Berufungsgericht vertretene entsprechende Anwendung der in § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG i. V. m. § 3 Abs. 1 Buchst. i BVG getroffenen Regelung. Sie könnte im Anschluß an die Entscheidung des BSG vom 1. März 1974 - 12 RJ 324/73 - (SozR 2200 § 1251 Nr. 3) nur für den Fall als ungewollt lückenhaft angesehen werden, daß der FAD unter den gesetzlich bestimmten Voraussetzungen einen an sich Arbeitsdienstpflichtigen von der zusätzlichen Ableistung des RAD befreit hätte. Daran fehlt es hier schon deswegen, weil der Kläger auch ohne die im FAD zurückgelegte Zeit den RAD nicht hätte ableisten müssen.
Dem LSG ist zwar einzuräumen, daß der Kläger nach § 3 Abs. 2 und 3 des Reichsarbeitsdienstgesetzes (RADG) vom 26. Juni 1935 (RGBl I 769) grundsätzlich arbeitsdienstpflichtig war. Nach der Entscheidung des BSG vom 29. Oktober 1969 - 12 RJ 214/69 - (SozR Nr. 41 zu § 1251 RVO) ist indes für die Anerkennung der streitigen Zeit als Ersatzzeit zwischen der im RADG allgemein bestimmten Dienstpflicht und der "konkreten Pflicht" zur Ableistung des RAD zu unterscheiden. Letztere entstand gemäß Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der Zweiten Verordnung zur Durchführung und Ergänzung des RADG (2. VO zum RADG) vom 1. Oktober 1935 (RGBl I 1215) erst und nur, wenn der Einberufungsbefehl erging. Dieser wiederum hing u. a. von der Einberufung eines bestimmten Geburtsjahrgangs ab. Nach § 1 Abs. 2 und 3 der aufgrund des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 - RGBl I 609 - erlassenen Verordnung über die Musterung und Aushebung 1935 vom 29. Mai 1935 (RGBl I 697) wurde der Kläger als Angehöriger des Geburtsjahrgangs 1914 nur zur Erfüllung der aktiven Wehrdienstpflicht herangezogen, nicht aber zum RAD bestimmt. Dessen erstmalige Ableistung blieb vielmehr den - allgemein - Dienstpflichtigen des Jahrgangs 1915 vorbehalten. Insoweit betrifft das vom LSG zur Stützung seiner Rechtsauffassung herangezogene Urteil des BSG vom 1. März 1974 aaO einen vom vorliegenden Fall abweichenden Sachverhalt, weil dort über den FAD eines im Jahre 1915 geborenen Versicherten zu entscheiden war, dessen Jahrgang nach den genannten Vorschriften nicht nur zur Ableistung der aktiven Wehrdienstpflicht, sondern auch zur RAD-Pflicht aufgerufen wurde. Der Auffassung des Klägers, aus § 22 der genannten Verordnung vom 29. Mai 1935 sei zu entnehmen, daß er als Angehöriger des Geburtsjahrgangs 1914 nicht nur zur Ableistung des Wehrdienstes, sondern auch zum RAD herangezogen worden wäre, kann schon deswegen nicht zugestimmt werden, weil diese Vorschrift nur diejenigen wehrfähigen Dienstpflichtigen betraf, welche - anders als der Kläger - von der Ableistung des aktiven Wehrdienstes zurückgestellt worden waren.
Das LSG beruft sich auch zu Unrecht auf Art. 2 der 2. VO zum RADG, wonach die Arbeitsdienstpflicht u. a. für diejenigen Dienstpflichtigen als erfüllt galt, die vor dem 1. Oktober 1935 den Arbeitspaß erhalten hatten. Wie das BSG im Urteil vom 29. Oktober 1969 aaO bereits betont hat, konnte diese Fiktion der Erfüllung der RAD-Pflicht, auch wenn ihre Voraussetzungen an sich vorlagen, nur Bedeutung erlangen, wenn ohne diese Fiktion ein Einberufungsbefehl zum RAD ergangen wäre. Dies trifft gemäß § 1 Abs. 3 der Verordnung vom 29. Mai 1935 aaO für den Geburtsjahrgang 1914 nicht zu. Der FAD konnte somit für den Kläger keinen RAD ersetzen. Der Kläger wäre, auch wenn er keinen FAD geleistet hätte, nicht vor der Heranziehung zum aktiven Wehrdienst zur Ableistung des RAD verpflichtet worden. Dies wird bei dem Hinweis des LSG auf die allgemeine Regelung in § 8 Abs. 3 des Wehrgesetzes übersehen. Danach war zwar die Erfüllung der Arbeitsdienstpflicht eine Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst. Ausnahmen hiervon konnten aber durch Sonderbestimmungen - wie hier durch § 1 Abs. 3 der Verordnung vom 29. Mai 1935 geschehen - geregelt werden. Schließlich kann die in Art. 2 der 2. VO zum RADG getroffene Regelung, die während des hier streitigen Zeitraumes noch nicht galt, auch nicht den Entschluß des Klägers zum Eintritt in den FAD beeinflußt haben (vgl. hierzu BSG-Urteil vom 31. Juli 1975 - 5 RJ 280/73 -). Da somit dem Kläger auch ohne den FAD keine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AVG wegen Ableistung des RAD gutgebracht werden könnte, bleibt für eine ungewollte Lücke in dieser Vorschrift, die durch die Rechtsprechung zu schließen wäre, hier kein Raum.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen