Leitsatz (amtlich)
Der in der Zeit vom 1935-04-01 bis zum 1935-09-30 geleistete freiwillige Arbeitsdienst eines 1914 geborenen Versicherten ist keine Ersatzzeit (Anschluß an BSG 1976-03-31 1 RA 59/75).
Normenkette
RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; BVG § 3 Abs. 1 Buchst. i Fassung: 1950-12-20
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 19. Januar 1976 aufgehoben, soweit es die Anrechnung der Zeit vom 1. April bis zum 30. September 1935 als Ersatzzeit betrifft.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 27. August 1975 wird auch insoweit zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Zeit der Zugehörigkeit des Klägers zum Freiwilligen Arbeitsdienst (FAD) vom 1. April bis zum 30. September 1935 als Ersatzzeit anzurechnen ist.
Der im Jahre 1914 geborene Kläger gehörte in der Zeit vom 25. November 1932 bis zum 4. Mai 1933 und vom 1. April 1935 bis zum 30. September 1935 dem FAD an. Vom 1. Oktober 1935 an leistete er Wehrdienst.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 15. März 1972 die Berücksichtigung dieser Zeiten ab, weil der Kläger nicht von der Arbeitsdienstpflicht betroffen gewesen sei. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit dem am 21. März 1974 zur Post gegebenen Bescheid vom 15. März 1974 stellte die Beklagte die Versicherungszeiten des Klägers fest. Die Beklagte lehnte den Neufeststellungsbescheid des Klägers vom 16. April 1974 mit Bescheid vom 26. April 1974 ab. Der Widerspruch des Klägers wurde mit Bescheid vom 21. November 1974 zurückgewiesen.
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 27. August 1975 abgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 19. Februar 1976 das Urteil des SG sowie die Bescheide der Beklagten vom 15. März 1972 und 26. April 1974 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom 24. April 1973 und vom 21. November 1974 geändert und die Beklagte verurteilt, die Zeit vom 1. April 1935 bis zum 30. September 1935 als Ersatzzeit in den Versicherungsverlauf aufzunehmen. Im übrigen hat es die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Das LSG ist davon ausgegangen, daß § 1300 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht nur auf Leistungsfeststellungsbescheide, sondern auch auf die Feststellung des Versicherungsverlaufs anzuwenden sei. Die geltend gemachten Zeiten des FAD seien keine Beitragszeiten. Die Zeit vom 25. November 1932 bis zum 4. Mai 1933 könne auch nicht als Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO angerechnet werden, weil sie nicht aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht geleistet worden sei. Dagegen müsse die Beklagte sich davon überzeugen, daß die Zeit vom 1. April 1935 bis zum 30. September 1935 als Ersatzzeit anzurechnen sei. Der Kläger gehöre zu den Jahrgängen, die von einer gesetzlichen Dienstpflicht erfaßt worden seien. Dem stehe nicht entgegen, daß die Dienstpflicht erst während der Zugehörigkeit des Klägers zum Arbeitsdienst durch das Reichsarbeitsdienstgesetz (RADG) vom 26. Juni 1935 (RGBl I, 769) gesetzlich begründet worden sei. Der Kläger gehöre zu den nach § 4 und § 8 Abs. 2 des Wehrgesetzes vom 21. Mai 1935 (RGBl I, 609) wehrpflichtigen Jahrgängen. Nach § 8 Abs. 3 des Wehrgesetzes sei die Ableistung des Arbeitsdienstes Voraussetzung für den aktiven Wehrdienst gewesen. § 1 Abs. 3 der Verordnung über die Musterung und Aushebung vom 29. Mai 1935 (RGBl I, 697) iVm Art. 7 Abs. 2 der 2. Durchführungsverordnung vom 1. Oktober 1935 rechtfertige keine andere Entscheidung. Diese Vorschriften seien erst in Kraft getreten, als der Kläger dem FAD bereits wieder angehört habe. Es sei auch nicht entscheidend, ob der vor dem 1. Oktober 1935 geleistete Arbeitsdienst die Voraussetzungen für seine Anrechnung nach Art. 2 Satz 1 der 2. Durchführungsverordnung vom 1. Oktober 1935 erfüllt habe.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, die Zeit vom 1. April bis zum 30. September 1935 könne nicht als Ersatzzeit angerechnet werden, weil der Kläger als Angehöriger des Geburtsjahrganges 1914 nicht zur Ableistung der Reichsarbeitsdienstpflicht aufgerufen gewesen sei, zumal er auch ohne den FAD nicht zum Reichsarbeitsdienst (RAD) herangezogen werden konnte, weil er seit dem 1. Oktober 1935 aktiven Wehrdienst geleistet habe. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger die Möglichkeit gehabt habe, sich dem FAD zu entziehen. Maßgebend sei, daß dieser Dienst nicht auf gesetzlicher Pflicht beruhte. Er habe im Falle des Klägers auch nicht den auf gesetzlichem Zwang beruhenden RAD ersetzt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Der Kläger ist in der Revisionsinstanz nicht vertreten.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten hat auch Erfolg, denn das LSG hat die Beklagte zu Unrecht verurteilt, die Zeit vom 1. April 1935 bis zum 30. September 1935 als Ersatzzeit in den Versicherungsverlauf aufzunehmen.
Es kann zweifelhaft sein, ob die Verpflichtung der Beklagten zur Rücknahme des bindend gewordenen Feststellungsbescheides vom 15. März 1972 sich nach § 1300 RVO oder nach den Grundsätzen des allgemeinen Verwaltungsrechts über die Rücknahme fehlerhafter Verwaltungsakte richtet. Keinesfalls ist die Beklagte verpflichtet, den bindend gewordenen Bescheid aufzuheben und eine Neufeststellung zu treffen, denn der bindend gewordene Bescheid und damit auch die Ablehnung der Neufeststellung sind materiell-rechtlich rechtmäßig.
Nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO werden für die Erfüllung der Wartezeit Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes i. S. der §§ 2 und 3 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist, als Ersatzzeiten angerechnet, wenn eine der in § 1251 Abs. 2 RVO genannten Voraussetzungen erfüllt ist. Der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat bereits entschieden, daß der vor Einführung der Reichsarbeitsdienstpflicht geleistete freiwillige Arbeitsdienst eines 1914 geborenen Versicherten keine Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO ist (vgl. Urteil vom 31. März 1976 - 1 RA 59/75 -). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Der in der Zeit vom 1. April 1935 bis zum 30. September 1935 geleistete FAD ist an keiner Stelle des § 3 BVG als militärähnlicher Dienst aufgeführt. Eine unmittelbare Anwendung des § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO kommt daher nicht in Betracht. Aber auch eine entsprechende Anwendung dieser Vorschrift scheidet aus, weil der Kläger auch ohne die im FAD zurückgelegte Zeit den RAD nicht hätte ableisten müssen. Die konkrete Pflicht zur Ableistung des RAD entstand nach Art. 7 Abs. 1 Satz 1 der 2. Durchführungsverordnung zum RADG erst und nur, wenn der Einberufungsbefehl erging. Dieser wiederum hing u. a. von der Einberufung eines bestimmten Geburtsjahrganges ab. Nach § 1 Abs. 2 und 3 der aufgrund des Wehrgesetzes erlassenen Verordnung über die Musterung und Aushebung vom 29. Mai 1935 wurde der Kläger als Angehöriger des Geburtsjahrgangs 1914 nur zur Erfüllung der aktiven Wehrdienstpflicht, nicht aber zum RAD herangezogen. Dessen erstmalige Ableistung blieb vielmehr den - allgemein - Dienstpflichtigen des Jahrgangs 1915 vorbehalten. Der Kläger wäre - auch wenn er keinen FAD geleistet hätte - nicht vor der Heranziehung zum aktiven Wehrdienst zur Ableistung des RAD verpflichtet worden. Da somit dem Kläger auch ohne FAD keine Ersatzzeit nach § 1251 Abs. 1 Nr. 1 RVO wegen Ableistung des RAD angerechnet werden könnte, bleibt für eine ungewollte Lücke in dieser Vorschrift, die durch die Rechtsprechung zu schließen wäre, kein Raum.
Der Senat hat auf die danach begründete Revision der Beklagten das angefochtene Urteil aufgehoben, soweit es die streitige Zeit betrifft und die Berufung des Klägers gegen das die Klage abweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen