Leitsatz (amtlich)

Der Dienst in einer Ausbildungseinheit der Waffen-SS ist dem Versicherten wie militärähnlicher Dienst nach RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 anzurechnen, wenn er nach Eintritt in die Waffen-SS weder während seiner Waffenausbildung noch während seines unmittelbar hieran anschließenden Kriegseinsatzes bis Kriegsende, bis zu einer Kriegsgefangenschaft oder bis zu einer eine weitere Kriegsverwendung hindernden Kriegsbeschädigung jemals wehrmachtsfremd - für Zwecke der SS oder der NSDAP - eingesetzt war.

 

Normenkette

RVO § 1251 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1957-02-23; BVG §§ 2-3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 07.11.1979; Aktenzeichen L 14/Ar 153/79)

SG München (Entscheidung vom 11.05.1978; Aktenzeichen S 8/Ar 1168/77)

 

Tatbestand

Streitig ist die Vormerkung einer Dienstzeit in der Waffen-SS als Ersatzzeit.

Der 1918 geborene, aus Serbien stammende Kläger, Inhaber der Vertriebenenausweises A, war am 12. Juli 1942 in die Waffen-SS eingetreten. Er gehörte bis 27. September 1942 einer SS- Ausbildungseinheit in München an und absolvierte anschließend bis 19. November 1942 einen Lehrgang an einer SS-Panzer-Ersatz- Abteilung in Weimar-Buchenwald. Ab 20. November 1942 leistete er Kriegsdienst in Rußland; im Juni 1946 wurde er in Deutschland aus der Kriegsgefangenschaft entlassen.

Mit Bescheid vom 31. Mai 1977 merkte die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) dem Kläger zwar den Kriegsdienst einschließlich der Kriegsgefangenschaft bei der Waffen-SS vom 20. November 1942 bis 31. Mai 1946 als Ersatzzeit vor, lehnte dies aber für die Zeit der Waffenausbildung vom 12. Juli bis 19. November 1942 in München und in Weimar-Buchenwald ab: Die Voraussetzungen des § 1251 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) lägen nicht vor.

Während das Sozialgericht (SG) nach erfolglosem Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 18. November 1977) der hiergegen erhobenen Klage stattgab (Urteil vom 11. Mai 1978), hat das Landessozialgericht (LSG) auf die Berufung der Beklagten das Ersturteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. In der Begründung des angefochtenen Urteils vom 7. November 1979 heißt es, der Dienst bei einer Ausbildungs- oder Ersatzeinheit der Waffen-SS im Reichsgebiet 1942 unter Befehlsgewalt nicht der Wehrmacht, sondern des Reichsführers SS sei kein militärischer Dienst im Sinne von § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO iVm § 2 Abs 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG). Daran ändere nichts, daß sich diesem Dienst ein Fronteinsatz unter einem Befehlshaber der Wehrmacht angeschlossen habe. Angehörige der Waffen-SS seien nach ihrer Grundausbildung nicht selten wehrmachtsfremd, zB bei der Bewachung von Konzentrationslagern (KZ) eingesetzt worden. Die Anerkennung einer solchen Zeit und die ihr vorangegangene Ausbildung als Ersatzzeit lasse sich mit dem Gesetz nicht vereinbaren.

Der Kläger bringt zur Begründung der vom LSG zugelassenen Revision vor: Nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 29. November 1979 - 4 RJ 95/78 - sei jeder Dienst als Angehöriger der Waffen-SS, der sonst von einem Soldaten hätte geleistet werden müssen, jedenfalls militärähnlicher Dienst. Unbegründete Unterscheidungen zwischen Soldaten und Angehörigen der Waffen-SS seien danach zu vermeiden. Deshalb müsse eine militärische Ausbildung eines Waffen-SS-Mannes auch militärähnlicher Dienst sein.

Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 11. Mai 1978 zurückzuweisen, hilfsweise, eine Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und die extensive Auslegung des Begriffs "militärähnlicher Dienst" in dem vom Kläger angezogenen Urteil des BSG für nicht überzeugend. Nicht nur die KZ-Wachmannschaften der Waffen-SS, sondern - nach der Ausbildung - auch Einsatz- und andere Gruppen dieser Parteiformation seien zu "Sonderaufgaben" und "Sonderbehandlungen" herangezogen worden. Es könne daher nicht angehen, den Dienst von Waffen-SS-Leuten in Ausbildungseinheiten großzügig als militärähnlichen Dienst zu klassifizieren.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz begründet.

Nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO werden dem Versicherten sowohl für die Erfüllung der Wartezeit wie für die Rentenhöhe (§ 1258 aa0) angerechnet Zeiten des militärischen oder militärähnlichen Dienstes iS der §§ 2, 3 BVG, der aufgrund gesetzlicher Dienst- oder Wehrpflicht oder während eines Krieges geleistet worden ist. Militärischen Dienst - Dienst eines Soldaten oder Beamten der Deutschen Wehrmacht (§ 2 Abs 1 Buchst a BVG) - hat der Kläger, worüber kein Streit besteht, als Angehöriger der Waffen-SS - einem bewaffneten Verband der Allgemeinen SS - nicht geleistet. Als militärähnlicher Dienst gilt nach § 3 Abs 1 Buchst b aa0 der auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht geleistete freiwillige oder unfreiwillige Dienst.

Nach dem vom Kläger zitierten Urteil des 4. Senats des BSG vom 29. November 1979 (BSGE 49, 170 = SozR 2200 § 1251 Nr 73), das die einschlägige bisherige Rechtsprechung des BSG zusammenfaßt und fortführt, ist der Dienst eines Angehörigen der bewaffneten Verbände der SS während des zweiten Weltkrieges "im Kriegseinsatz" (aa0 173) als im Sinne der letztgenannten Vorschrift auf Veranlassung eines militärischen Befehlshabers geleistet anzusehen. Unter "Kriegseinsatz" bewaffneter SS-Verbände wiederum ist der Dienst zu verstehen, der wie der Dienst eines Soldaten im zweiten Weltkrieg geleistet wurde. Angehörige der Waffen-SS haben deshalb nach Ansicht des 4. Senats des BSG während des zweiten Weltkriegs dann militärähnlichen Dienst nach § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO geleistet, wenn dieser "sonst, wenn es diese Verbände (der Waffen-SS) nicht gegeben hätte, von einem Soldaten der Wehrmacht geleistet worden wäre" (aa0 173). Dieser Rechtsprechung tritt der erkennende Senat bei. Dies gilt auch insoweit, als die Frage, ob der versicherte frühere Angehörige der Waffen-SS "typisch für die Verwendung eines Soldaten" im Krieg eingesetzt gewesen war, unter Würdigung der "Einzelumstände" des Falles zu beantworten ist, wobei "sachlich nicht begründete Unterscheidungen" zwischen Soldaten einerseits und Angehörigen der bewaffneten Verbände der SS andererseits zu vermeiden sind (aa0 175).

Die Zeit, in der ein Versicherter in einer Ausbildungseinheit der Waffen-SS Dienst geleistet hat, ist - wie das LSG richtig erkannt hat - grundsätzlich kein militärähnlicher Dienst iS von § 3 BVG. Er ist nicht auf - auch nur zu vermutender - Veranlassung eines militärischen Befehlshabers für Zwecke der Wehrmacht geleistet. Ausbildungseinheiten der Waffen-SS waren keinem militärischen Befehlshaber unterstellt, sondern standen ausschließlich unter dem Befehl der SS (Absolon, Sammlung wehrrechtlicher Gutachten und Vorschriften, Heft 15, 87). Hieraus erklärt sich, daß die SS bereits die Angehörigen von Ausbildungseinheiten ihrer bewaffneten Verbände neben der Waffenausbildung zu Aufgaben herangezogen hat, die nicht militärähnlich waren, sondern offenkundig speziell Zwecken der NSDAP dienten, deren Organisation die SS einschließlich ihrer bewaffneten Verbände war. So hat das LSG im angefochtenen Urteil unter Berufung auf Görlitz (Die Waffen-SS, 21) unangegriffen festgestellt, daß Rekruten der Waffen-SS schon nach ihrer Grundausbildung zB als Bewacher in Konzentrationslagern und zur Vernichtung des Warschauer Ghettos im Jahre 1943 eingesetzt worden waren. Im einzelnen führt Görlitz (aa0, 18) dazu aus, daß bei der Vernichtung des Ghettos ua das SS-Panzergrenadier- Ausbildungs- und Ersatzbataillon 3 in Warschau und die dort gleichfalls garnisonierte SS-Kavallerie-Ausbildungs- und Ersatzabteilung aufgeboten waren. Nach Reitlinger (Die SS, 262) waren volksdeutsche Rekruten der Waffen-SS, die in einer nahegelegenen Panzerlehrschule ausgebildet wurden, im April 1945 im Konzentrationslager Belsen als Wachen eingesetzt und dort an Erschießungen beteiligt (vgl hierzu auch BSG in SozR Nr 8 zu § 2 BVG; SozR 3100 § 2 Nr 6; vgl ferner BVerwGE 9, 193).

Auch ein an die Waffengrundausbildung anschließender Kriegseinsatz des Waffen-SS-Mannes ändert noch nichts daran, daß dessen Dienst in einer Ausbildungseinheit der SS grundsätzlich weder militärischer noch militärähnlicher Dienst iS von §§ 2, 3 BVG ist. Der 4. Senat des BSG hat auf die Anfrage des erkennenden Senats in seinem Beschluß vom 14. Januar 1982 - 4 S 2/81 - klargestellt, daß er solches in seinem unveröffentlichten Urteil vom 29. November 1979 - 4 RJ 113/78 - keineswegs habe zum Ausdruck bringen wollen; der 4. Senat betont, selbstverständlich sei die Ausbildungszeit eines Rekruten der Waffen-SS selbst bei unmittelbar anschließendem Kriegsdienst nicht immer als Ersatzzeit zu berücksichtigen; dem stünde ein wehrmachtsfremder Einsatz des Rekruten entgegen. Dem ist umso mehr beizutreten, als sich dem Dienst in einer Ausbildungseinheit der SS zwar ein "Kriegseinsatz" anschließen konnte, aber nicht anschließen mußte: Am 30. Juni 1944 gab es in 15 Waffen-SS- Divisionen 150.000 Waffenträger, wogegen die Waffen-SS insgesamt eine Stärke von 600.000 Mann hatte. Allein beim "SS-Hauptführungsamt" waren 39.415 Waffen-SS-Leute beschäftigt (vgl zu alledem Reitlinger, aa0, 195). Es ist hiernach davon auszugehen, daß Zehntausende von ehemaligen Angehörigen der Waffen-SS zwar wie der Kläger zunächst Dienst in einer SS-Ausbildungseinheit getan haben, anschließend aber keinen Kriegseinsatz geleistet haben, weil die Beteiligung am Kriegsdienst nur einer der zahlreichen Aufgabenbereiche war, die die SS an sich gezogen hatte. Auch an dieser Stelle wird deutlich, daß die Waffen-SS kein Wehrmachtsverband, sondern ein bewaffneter Verband der Allgemeinen SS unter dem Befehl des Reichsführers SS war. Hinzu kommt, daß Verbände der Waffen-SS abwechselnd für Zwecke der Wehrmacht und für wehrmachtsfremde Zwecke eingesetzt worden sind (vgl Görlitz aa0, 18).

Ist nach alledem der Dienst in einer Ausbildungseinheit der Waffen-SS grundsätzlich kein militärischer oder militärähnlicher Dienst iS von § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO, so ist andererseits nicht zu übersehen, daß dieses rechtliche Ergebnis nicht bei jeder Fallgestaltung befriedigt: Ist nämlich der Versicherte nach Eintritt in die Waffen-SS weder während seiner Waffenausbildung noch während seines unmittelbar hieran anschließenden Kriegseinsatzes bis zum Kriegsende, bis zu einer Kriegsgefangenschaft oder bis zu einer eine weitere Kriegsverwendung hindernde Kriegsbeschädigung jemals wehrmachtsfremd - für Zwecke der SS oder der NSDAP - eingesetzt gewesen, so besteht bei Vergleich mit einem Soldaten des zweiten Weltkriegs "kein ins Gewicht fallender Unterschied" (vgl BSG aa0, 173). Für diesen Fall erscheint § 1251 Abs 1 Nr 1 RVO unter Berücksichtigung seines Gesamtplans - Zubilligung eines Ausgleichs dafür, daß der Versicherte von hoher Hand durch staatlichen Zugriff zum Kriegsdienst herangezogen und dadurch gehindert war, rentenversicherungspflichtig tätig zu sein (vgl BVerfG in SozR 2200 § 1251 Nr 87) - lückenhaft. Nach dieser Bestimmung ist militärischer Dienst oder militärähnlicher Dienst schlechthin, also auch der in militärischer Ausbildung verbrachte Dienst als Ersatzzeit anrechnungsfähig; beim Angehörigen der Waffen-SS gilt dies, wie dargestellt, im Gegensatz dazu nur für den eigentlichen "Kriegseinsatz". Für die rechtsergänzende Ausfüllung dieser in bezug auf den Dienst in einer Ausbildungseinheit der Waffen-SS bestehende Lücke liefert das Verfassungsgebot der Gleichbehandlung gleichliegender Sachverhalte (Art 3 Abs 1 des Grundgesetzes) das Kriterium der Analogie (Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, Art 3 RdNr 401): Unter den soeben genannten tatsächlichen Gegebenheiten eines durchgängigen Kriegsdienstes ist daher der Rekrut der Waffen-SS in bezug auf seine Waffenausbildung wie ein Rekrut der Wehrmacht zu behandeln; liegen die genannten tatsächlichen Voraussetzungen allerdings nicht vor, können dem Angehörigen der Waffen-SS selbst bei an die Ausbildung anschließendem Kriegsdienst die Zeiten der Waffenausbildung nicht als Ersatzzeit gutgeschrieben werden.

Im vorliegenden Fall haben - in Unkenntnis der vom Senat vorstehend entwickelten Rechtsauffassung - weder die Beklagte noch die Vorinstanzen Ermittlungen zu der Frage angestellt, ob und während welcher Zeit der Kläger als Angehöriger der Waffen-SS wehrmachtsfremd eingesetzt war. Freilich dürfen die an die Tatsachenaufklärung zu stellenden Anforderungen angesichts des Zeitablaufs und der Vielschichtigkeit der zu berücksichtigenden tatsächlichen Gegebenheiten nicht überspannt werden. In der Regel wird es genügen, wenn die einschlägigen allgemeinen zeitgeschichtlichen Unterlagen herangezogen sowie Stellen und Personen mit anerkannt einschlägigem Wissen befragt werden. Ergeben sich hieraus keine Anhaltspunkte über eine wehrmachtsfremde Verwendung derjenigen Einheiten der Waffen-SS, denen der Versicherte angehört hat, so wird der Versicherungsträger oder das Sozialgericht davon ausgehen dürfen, daß der Versicherte wehrmachtsdienlich eingesetzt war.

Diese Prüfung hat das LSG nachzuholen; zu diesem Zweck war das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die Vorzinstanz zurückzuverweisen.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung in der Sache vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1659754

BSGE, 281

Breith. 1983, 47

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