Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 10.06.1959) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vor 10. Juni 1959 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Kläger, geboren am 14. August 1934, bezog bis Ende August 1952 Waisenrente aus der Angestelltenversicherung nach seinem im September 1944 gefallenen Vater. Seinen Antrag vom 7. November 1957, die Waisenrente wegen Fortdauer der Berufsausbildung wieder zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Januar 1958 ab, weil die Ausbildung nur in einer Abendschule erfolge und der Kläger auch noch einem Lohnerwerb nachgehe. Auf die Klage, mit der der Kläger Waisenrente ab 1. Januar 1957 begehrte, verurteilte das Sozialgericht (SG) Schleswig am 4. November 1958 die Beklagte zur Rentengewährung ab 1. November 1957; im übrigen wies es die Klage ab. Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) Schleswig am 10. Juni 1959 das Urteil des SG auf und wies die Klage in vollem Umfang ab: Der Kläger befinde sich nicht in Schul- oder Berufsausbildung i. S. von § 44 Abs. 1 Satz 2 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG); durch den Besuch der „Technischen Abendfachschule” in Hamburg würden Zeit und Arbeitskraft des Klägers nicht ausschließlich oder überwiegend beansprucht, die zeitliche Inanspruchnahme des Klägers durch den Schulbesuch sei erheblich geringer als die durch seine weiter ausgeübte Erwerbsarbeit als Maurer; diese berufliche Tätigkeit stehe im Vordergrund, der Schulbesuch erfolge nebenher. Das LSG ließ die Revision zu. Das Urteil des LSG wurde dem Kläger am 28. Juli 1959 zugestellt.
Am 13. August 1959 legte der Kläger Revision ein; er beantragte,
das Urteil des LSG Schleswig vom 10. Juni 1959 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Urteils des SG Schleswig vom 4. November 1958 zu verurteilen, dem Kläger Waisenrente ab 1. Januar 1957 bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres zu gewähren.
Der Kläger begründete die Revision am 5. September 1959: Das LSG habe § 44 AVG verletzt, es sei zu Unrecht zu dem Ergebnis gekommen, der Kläger befinde sich trotz Besuchs der „Technischen Abendfachschule” in Hamburg nicht in Schul- oder Berufsausbildung i. S. dieser Vorschrift. Sein Berufsziel, Bau-Ingenieur zu werden, könne der Kläger nur durch den Besuch einer Bauschule erreichen. Aus finanziellen Gründen sei er auf eine Abendfachschule angewiesen; auch bei dem Besuch dieser Schule handele es sich aber um Berufsausbildung. Es treffe nicht zu, daß der Schulbesuch nur nebenher erfolge und im Vordergrund die Erwerbstätigkeit als Maurer stehe; aus den eingereichten Arbeitsbescheinigungen ergebe sich, daß der Kläger seit dem 1. Januar 1957 durchschnittlich 28 1/2 bis 31 1/2 Stunden wöchentlich als Maurer gearbeitet habe, während der zeitliche Aufwand für den Schulbesuch und die häuslichen Arbeiten wöchentlich 36 Stunden betrage.
Die Beklagte beantragte,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–); sie ist jedoch nicht begründet.
Das LSG ist ohne Verstoß gegen § 44 AVG zu dem Ergebnis gekommen, daß dem Kläger ein Anspruch auf Waisenrente nicht zusteht. Da der Kläger zu Beginn des hier in Betracht kommenden Zeitraums (1. November 1957 – der Kläger hat zwar mit der Klage die Rente ab 1. Januar 1957 begehrt, im Berufungsverfahren ist aber nur noch die Rente ab 1. November 1957 streitig gewesen –) das 18. Lebensjahr bereits vollendet hatte, auch Gebrechlichkeit unstreitig nicht vorliegt, kommt als Anspruchsgrundlage nur die erste Alternative des § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG in Betracht, nach der Waisenrente über den Zeitpunkt der Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein unverheiratetes Kind dann gewährt wird, wenn es sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Auch die Voraussetzungen dieser Vorschrift sind hier jedoch nicht erfüllt. Der Kläger besucht zwar – seit März 1956 – die „Technische Abendfachschule” in Hamburg, wie das LSG richtig erkannt hat, handelt es sich dabei aber nicht um Schul- oder Berufsausbildung im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG.
Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß nicht jede Ausbildung, der sich ein Kind nach Vollendung des 18. Lebensjahres unterzieht, als Schul- oder Berufsausbildung im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG angesehen werden kann; es hat mit Recht ausgeführt, Schul- oder Berufsausbildung im Sinne dieser Vorschrift liege nur dann vor, wenn die Ausbildung Zeit und Arbeitskraft des Kindes ausschließlich oder überwiegend beansprucht. An diesem bereits von dem früheren Reichsversicherungsamt (RVA) aufgestellten Erfordernis der ausschließlichen oder überwiegenden Beanspruchung durch die Ausbildung für die Annahme von Schul- oder Berufsausbildung im Sinne der Vorschriften über den Anspruch auf die sog. „verlängerte” Waisenrente oder auf den „verlängerten” Kinderzuschuß (Kinderzulage) (vgl. RVA in AN 1926, 485, 1927, 434; 1928, 12 und 109; 1929, 159 1930, 25; EuM 23, 459), haben der 4. und der 12. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) für die dem § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG entsprechende Vorschrift des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO festgehalten (vgl. BSG 14, 285, 287 und Urteil vom 31. Oktober 1962 – 12 RJ 328/61 –); der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an. Dieses Erfordernis steht im Einklang mit der Auslegung vergleichbarer Vorschriften (vgl. z. B. die Verwaltungsvorschriften –VV– Nr. 11 und 12 zu den §§ 32 und 45 des Bundesversorgungsgesetzes –BVG– aF und die VV Nr. 12 zu den §§ 33 b und 45 BVG nF), es ist auch in dem vergleichbaren § 18 Abs. 2 des Bundesbesoldungsgesetzes vom 27. Juli 1957 – BGBl. I 1338 – gesetzlich erneuert; es rechtfertigt sich aus dem Sinn und Zweck der Waisenrentengewährung. Die Waisenrente hat – ebenso wie der Kinderzuschuß (§ 39 AVG) – die Punktion, dem Unterhalt des Kindes zu dienen. Bei der Regelung des Anspruchs auf Waisenrente bzw. auf den Kinderzuschuß ist der Gesetzgeber davon ausgegangen, daß das Kind bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres sich nicht selbst unterhalten kann; bis zu dieser Altersgrenze wird allgemein unterstellt, daß das Kind noch unterhaltsbedürftig ist. Das zeigt die Regelung in den §§ 44 Abs. 1 Satz 1, 39 Abs. 3 Satz 1 AVG, wo bestimmt ist, daß Waisenrente und Kinderzuschuß ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Verhältnisse bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres zu gewähren sind. Daraus ergibt sich umgekehrt, daß der Gesetzgeber davon ausgeht, mit der Vollendung des 18. Lebensjahres sei der Zeitpunkt eingetreten, von dem ab regelmäßig keine Unterhaltsbedürftigkeit mehr vorliege, weil dann im Regelfall der Eintritt in das Erwerbsleben vollzogen ist, der es dem Kind ermöglicht, sich seinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sinn und Zweck der in den §§ 44 Abs. 1 Satz 2 und 39 Abs. 3 Satz 2 getroffenen Regelungen über den „verlängerten” Anspruch auf Waisenrente bzw. Kinderzuschuß gehen dahin, die Fälle zu erfassen, in denen das Kind – entgegen dem angenommenen Regelfall – auch nach Vollendung des 18. Lebensjahres noch auf elterliche Unterhaltsleistungen angewiesen ist, weil es sich nicht selbst durch Erwerbstätigkeit unterhalten kann, sei es, daß entweder die Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist (1. Alternative) oder daß Gebrechlichkeit vorliegt (2. Alternative). Zwar stellt das Gesetz nur bei der 2. Alternative ausdrücklich darauf ab, daß das Kind „infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen außerstande ist, sich selbst zu unterhalten”, das gilt jedoch sinngemäß auch für die 1. Alternative; auch eine Schul- oder Berufsausbildung ist nur dann anspruchsbegründend und damit Schul- oder Berufsausbildung im Sinne der §§ 44 Abs. 1 Satz 2, 39 Abs. 3 Satz 2 AVG, wenn das Kind infolge dieser Ausbildung gehindert ist, sich selbst einen ausreichenden Lebensunterhalt zu verdienen. Das aber ist nur dann der Fall, wenn Zeit und Arbeitskraft des Kindes durch die Ausbildung ausschließlich oder überwiegend in Anspruch genommen werden, weil es nur dann dem Kind regelmäßig unmöglich sein wird, sich durch eine Erwerbstätigkeit außerhalb der für die Ausbildung erforderlichen Zeit selbst zu unterhalten.
Wenn das LSG zu der Auffassung gelangt ist, an diesem Erfordernis fehle es hier, durch den Besuch der „Technischen Abendfachschule” in Hamburg würden Zeit und Arbeitskraft des Klägers nicht ausschließlich oder überwiegend beansprucht, so ist das im Ergebnis nicht zu beanstanden. Zwar ist die Feststellung des LSG, die zeitliche Inanspruchnahme des Klägers durch den Schulbesuch sei erheblich geringer als die durch seine weiter ausgeübte Erwerbstätigkeit als Maurer, von der Revision angegriffen; es kann jedoch dahingestellt bleiben, ob die insoweit erhobene Rüge der Revision durchgreift, denn die Frage, ob hier Schul- oder Berufsausbildung im Sinne von § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG vorliegt, ist auch dann zu verneinen, wenn der Kläger – entgegen der angegriffenen Feststellung des LSG – für die Ausbildung mehr Zeit als für die Erwerbstätigkeit auf gewendet hat. Das tatsächliche Verhältnis zwischen dem Zeitaufwand für die Ausbildung und dem für die Erwerbstätigkeit ist als Kriterium für die hier zu entscheidende Frage nur bedingt geeignet, weil es jede Waise bis zu einem gewissen Grad selbst in der Hand hat, wie sie es gestaltet. Es kann zwar der Umstand, daß mehr Zeit für die Erwerbstätigkeit auf gewendet wird, ein Indiz dafür sein, daß keine Schulausbildung im Sinne des § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG vorliegt; entscheidend aber ist nicht, ob und inwieweit die Waise tatsächlich (weiter) erwerbstätig ist, sondern ob und wieweit es der Waise möglich ist, trotz der Ausbildung (weiter) erwerbstätig zu sein und dadurch den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, inwieweit die Waise durch die Ausbildung beansprucht wird. Im vorliegenden Falle ergeben die insoweit unangegriffenen Feststellungen des LSG über Art und Umfang der Ausbildung, der sich der Kläger unterzieht, daß er durch den Besuch der Abendfachschule nicht gehindert ist, sich durch eine Erwerbstätigkeit selbst zu unterhalten. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die sich aus der Bezugnahme auf die schriftliche Auskunft der „Technischen Abendfachschule” vom 21. Januar 1959 und das von dieser Schule eingereichte Auskunftsblatt vom 1. November 1956 ergeben, besucht der Kläger diese Schule seit März 1956, um nach einem 10-semestrigen Studium das Bau-Ingenieurzeugnis zu erlangen. Die Abendfachschule hat die Aufgabe, den im Bauberuf stehenden Handwerkern und Angestellten eine systematische schulmäßige Ausbildung in den theoretischen Fächern des Baufachs zu vermitteln, damit sie entweder – nach 8 Semestern – durch eine Abschlußprüfung das staatliche Fachschulzeugnis erlangen oder – wie im Falle des Klägers – nach 10 Semestern die staatliche Ingenieurprüfung ablegen – Voraussetzung für die Aufnahme in das 1. Semester ist eine abgeschlossene Ausbildung in einem Bau-Hauptgewerbe, der Nachweis einer Beschäftigung im Bauberuf und das Bestehen einer Aufnahmeprüfung. Der Unterricht erfolgt semesterweise mit wöchentlich 16 Unterrichtsstunden, die sich auf vier Tage in der Woche mit je vier Unterrichtsstunden von 17.45 Uhr bis 21.00 Uhr verteilen; für häusliche Studien sind – nach Angabe der Schule – wöchentlich etwa 20 Stunden aufzuwenden. Die Studienhalbjahre (Semester) dauern im Sommer- und Winterhalbjahr je 20 Wochen und beginnen jeweils Anfang März und Anfang Oktober. Diese Feststellungen rechtfertigen die Auffassung des LSG, daß Zeit und Arbeitskraft des Kindes weder ausschließlich noch überwiegend durch die Ausbildung beansprucht werden. Dem Zweck der Abendfachschule entsprechend, gerade den im Bauberuf stehenden Handwerkern und Angestellten eine Weiterbildung mit anerkannten Abschlußzeugnisses zu ermöglichen, ist die gesamte Ausbildung durch diese Schule so gestaltet, daß die Schüler – wie es auch von der Schule verlangt wird – weiter ihren Beruf ausüben können. Der Unterricht, der hier im Unterschied zu den Tagesbauschulen mit 6-semestriger Ausbildung auf insgesamt 10 Semester verteilt ist, umfaßt mit wöchentlich 16 Unterrichtsstunden nur 13 volle Wochenstunden, er erfolgt erst nach dem allgemeinen Arbeitszeitschluß abends ab 17.45 Uhr und auch nur an vier Abenden in der Woche. Zwar sind, wie das LSG festgestellt hat, auch noch etwa 20 Stunden wöchentlich für häusliche Studien aufzuwenden, aber auch diese können so auf das Wochenende und den unterrichtsfreien Tag verteilt werden, daß die übliche Arbeitszeit dadurch ebenfalls nicht beansprucht zu werden braucht. Im übrigen wäre selbst dann, wenn es dem Kläger infolge der Beanspruchung durch den Besuch dieser Abendschule nicht möglich sein sollte, voll erwerbstätig zu sein, der Anspruch auf Waisenrente nach § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG noch nicht begründet; denn von einer überwiegenden Beanspruchung durch die Ausbildung, die für die Annahme von Schul- oder Berufsausbildung im Sinne dieser Vorschrift erforderlich ist, kann erst dann gesprochen werden, wenn auch die Ausübung einer Halbtagstätigkeit unmöglich ist. Davon kann aber hier keine Rede sein; nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG besteht kein Zweifel darüber, daß der Kläger – wie er es auch getan hat – jedenfalls halbtags seinen erlernten Beruf als Maurer ausüben kann; er hat nach seinem eigenen Vorbringen seit dem 1. Juli 1957 durchschnittlich wöchentlich 28,5 bis 31,5 Stunden als Maurer gearbeitet. Ist es aber dem Kläger – trotz der Ausbildung – möglich, jedenfalls halbtags einem Lohnerwerb nachzugehen, dann sind die Voraussetzungen für den Anspruch auf Waisenrente nach § 44 Abs. 1 Satz 2 AVG nicht erfüllt. Im übrigen gilt der Kläger auch bei einer solchen Beschränkung der Arbeitszeit auf Halbtagsbeschäftigungen als für den Arbeitseinsatz verfügbar nach dem Gesetz über die Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung –AVAVG– (vgl. BSG 19, 226) und genießt daher auch den Schutz dieses Gesetzes gegen Arbeitslosigkeit.
Das LSG hat somit zu Recht das Urteil des SG aufgehoben und die Klage des Klägers in vollem Umfang abgewiesen. Die Revision des Klägers ist unbegründet; sie ist daher zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Dr. Haueisen, Dr. Buss, Sonnenberg
Fundstellen