Leitsatz (redaktionell)
Ein vollstreckbarer Unterhaltstitel (hier: Prozeßvergleich) ist ein "sonstiger Grund" iS des RVO § 1265 S 1. Ausnahmsweise ist er es nicht mehr, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen des Titels nach den Grundsätzen der ZPO §§ 323, 767 hätte beseitigen können (vergleiche BSG 1963-06-27 GS 5/61 = BSGE 20, 1).
Normenkette
RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; ZPO § 323 Fassung: 1950-09-12, § 767 Fassung: 1950-09-12
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. Februar 1964 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin und der Beigeladenen die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Klägerin Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes, des Versicherten R J, beanspruchen kann.
Der Versicherte, von Beruf Schneider, ist am 8. November 1960 gestorben. Seine Ehe mit der Klägerin war im Januar 1948 rechtskräftig aus seinem Verschulden geschieden worden. Der Versicherte hatte sich in einem während des Scheidungsverfahrens zwischen den Ehegatten vor dem Landgericht für den Fall der Scheidung aus Alleinschuld des Versicherten geschlossenen Unterhaltsvergleich verpflichtet, der Klägerin monatlich 90,- RM und dem 1947 geborenen Kind monatlich 60,- RM an Unterhalt zu zahlen. Die Klägerin erhielt eine vollstreckbare Ausfertigung des Vergleichs. Die Unterhaltsbeträge wurden 1957 vom Gericht auf DM (1:1) umgestellt.
Der Anspruch des Versicherten auf Invalidenrente war seit Februar 1948 anerkannt; die Rente wurde nach Wegfall ihres Ruhens wegen Bezugs einer Kriegsbeschädigtenrente gezahlt. Sie betrug einschließlich des Kinderzuschusses im Jahre 1959 monatlich 192,70 DM und im Jahre 1960 204,20 DM. Die Grundrente des Versicherten nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit um 80 v. H. (Hirnverletzung mit Begleiterscheinungen) betrug seit 1957 monatlich 100,- DM. Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) hatte der Versicherte im Versorgungsverfahren für 1948 und 1949 ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit von monatlich ca 100,- bis 123,- DM angegeben. Im Dezember 1957 leistete er nach fruchtloser Zwangsvollstreckung aus dem Unterhaltsvergleich den Offenbarungseid.
Der Versicherte war nach der Ehe mit der Klägerin wiederum verheiratet und geschieden. Danach ist er eine dritte Ehe mit der Beigeladenen eingegangen. Die häusliche Gemeinschaft mit dieser war seit Mai 1960 aufgehoben. Die Beigeladene bezog seit März 1958 Versichertenrente in Höhe von monatlich 114,30 DM und 1960 von monatlich 125,90 DM.
Die Klägerin bezog seit vielen Jahren bis Juni 1960 Sozialhilfe. Von Juli 1960 bis März 1961 hatte sie während einer Notstandsbeschäftigung einen monatlichen Arbeitsverdienst von etwa 370,- DM.
Die Klägerin begehrt Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes. Sie meint, der Versicherte sei auf Grund eherechtlicher Vorschriften und des Unterhaltsvergleichs verpflichtet gewesen, ihr Unterhalt zu gewähren.
Die Beklagte lehnte die Gewährung von Hinterbliebenenrente mit der Begründung ab, der Versicherte habe nicht über genügend Einkommen verfügt; da er eine versicherungspflichtige Tätigkeit nicht mehr ausgeübt habe, sei bis zum Tode eine wesentliche Änderung der bei Vergleichsabschluß vorliegenden Umstände eingetreten (Bescheid vom 20. Juni 1961).
Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage durch Urteil vom 14. Dezember 1962 abgewiesen. Das LSG Berlin hat mit Urteil vom 28. Februar 1964 die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab 1. Dezember 1960 Hinterbliebenenrente zu gewähren. Es hat im wesentlichen ausgeführt, der Versicherte habe der Klägerin während des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes vor seinem Tode Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes (EheG) gewähren müssen. Die Versichertenrente und die Grundrente seien als sein Einkommen zu berücksichtigen. Bei der Klägerin sei bei der Bestimmung des letzten wirtschaftlichen Dauerzustandes der Verdienst aus der Notstandsbeschäftigung außer Betracht zu lassen, weil diese Einkommensänderung keine Dauerwirkung gehabt habe, sondern von vornherein zeitlich begrenzt gewesen sei. Die Klägerin sei während des maßgeblichen Zeitraumes unterhaltsbedürftig gewesen (§ 58 Abs. 1 EheG). Es sei nur von einem sehr geringen Bedarf der Klägerin auszugehen; denn die Lebensstellung der ehemaligen Ehegatten sei dadurch gekennzeichnet, daß der Versicherte zur Zeit der Scheidung nur in geringem Umfang als Schneider tätig gewesen sei. Der Versicherte hätte durch Gewährung von Unterhalt an die Klägerin nach § 58 EheG seinen eigenen angemessenen Unterhalt gefährdet. Er sei aber nach § 59 Abs. 1 EheG zu Leistungen an die Klägerin verpflichtet gewesen. Unterhaltsansprüche der Beigeladenen seien wegen deren Versichertenrente im Rahmen der Billigkeitserwägungen nur in ganz geringem Umfang zu berücksichtigen. Dem Versicherten seien monatlich etwa 150,- DM zu belassen. Für die Klägerin und das Kind wären zusammen etwa 130,- oder 120,- DM verblieben. Auf jeden Fall wäre für die Klägerin ein Unterhaltsanspruch von etwa 30,- DM verblieben. Dies reiche für die erste Alternative des § 1265 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aus. Die Revision hat das LSG zugelassen.
Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie beantragt, das Urteil des LSG Berlin vom 28. Februar 1964 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Berlin vom 14. Dezember 1962 zurückzuweisen. Sie rügt unrichtige Anwendung des Begriffes der Unterhaltsverpflichtung nach den Vorschriften des EheG in § 1265 RVO.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Nach § 1265 Satz 1 RVO wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten geschieden ist, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des EheG (erste Alternative) oder aus sonstigen Gründen (zweite Alternative) zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat (dritte Alternative).
Die letzte Alternative scheidet nach den nicht angegriffenen Feststellungen des LSG aus. Ob die erste Alternative erfüllt ist, wie das LSG angenommen hat, kann dahingestellt bleiben; denn die Beklagte ist auf Grund der zweiten Alternative des § 1265 Satz 1 RVO zur Gewährung von Hinterbliebenenrente verpflichtet.
Ein vollstreckbarer Unterhaltstitel ist ein "sonstiger Grund" im Sinne des § 1265 Satz 1 RVO (BSG 20, 1; SozR Nr. 27 zu § 1265 RVO). Der vor Rechtskraft der Scheidung vor dem Landgericht abgeschlossene Unterhaltsvergleich ist ein Prozeßvergleich und Vollstreckungstitel (§ 794 Abs. 1 Nr. 1 der Zivilprozeßordnung - ZPO -; vgl. SozR Nr. 27 zu § 1265 RVO). Zwar ist ein vollstreckbarer Unterhaltstitel ausnahmsweise kein "sonstiger Grund" mehr, wenn der Versicherte zur Zeit seines Todes die Wirkungen des Titels nach den Grundsätzen der §§ 323, 767 ZPO hätte beseitigen können (BSG 20, 1). Hier ist indessen nicht festzustellen, daß der Versicherte den Vollstreckungstitel hätte beseitigen können.
Die Beurteilung dieser Frage ist auf die "Zeit seines Todes", d. h. auf den letzten wirtschaftlichen Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten abzustellen. Dieser umfaßt jedenfalls die Zeit, in der der Versicherte kein Erwerbseinkommen mehr erzielte, sondern nur die Erwerbsunfähigkeitsrente und die Grundrente nach dem BVG bezog. Dieser Zustand bestand schon Ende 1957, als der Versicherte den Offenbarungseid leistete, und auch Ende 1958, als die Fürsorgebehörde Köln die Einkommensverhältnisse des Versicherten überprüfte, nachdem die Fürsorgebehörde Berlin, die die Klägerin unterstützte, vergeblich versucht hatte, vom Versicherten Unterhaltsleistungen zu erlangen.
Auf Seiten der seit langem aus der Sozialhilfe unterstützten Klägerin ist kein neuer wirtschaftlicher Dauerzustand eingetreten, als sie vom 1. Juli 1960 an im Notstandsprogramm für 9 Monate eine Beschäftigung erhielt und die Sozialhilfe eingestellt wurde; denn diese Arbeit ist ihr nur als vorübergehende Tätigkeit zugeteilt worden (vgl. Urteil des 11. Senats des Bundessozialgerichts - 11 RA 227/66 - vom 31. Juli 1968). Es kann nicht rückschauend berücksichtigt werden, wie sich die Beschäftigung der Klägerin später entwickelt hat.
Der letzte wirtschaftliche Dauerzustand vor dem Tode des Versicherten ist somit dadurch gekennzeichnet, daß der Versicherte ein Renteneinkommen von zusammen 264,20 DM (ohne Kinderzuschuß) hatte und die Klägerin aus der Sozialhilfe unterstützt wurde.
Ein Unterhaltsvergleich ist nur dann nicht als "sonstiger Grund" zu berücksichtigen, wenn der Versicherte Einwendungen aus Gründen hätte erheben können, die nach Abschluß des Vergleichs entstanden sind. Solche Umstände sind hier nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt nicht zu erkennen und zwar auch dann nicht, wenn man annimmt, daß der Unterhaltsvergleich lediglich die nach dem EheG für den schuldigen Teil allgemein bestehenden Unterhaltsverpflichtungen zum Inhalt haben sollte. In den Vermögens- und Einkommensverhältnissen des Versicherten zur Zeit des Unterhaltsvergleichs und zur Zeit des Todes hat sich nichts Wesentliches geändert. Der Versicherte hatte seinerzeit, als das Scheidungsverfahren lief nach den Feststellungen des LSG nur ein ganz geringes Einkommen. Sein Renteneinkommen von 264,- DM (ohne Kinderzuschuß) war nach den Feststellungen des LSG, auch unter Berücksichtigung der Kaufkraftveränderungen, nicht niedriger als das Arbeitseinkommen zur Zeit des Scheidungsverfahrens- die Zahlung der Renten begann erst nach der Scheidung -.
Auch sind keine erhöhten eigenen Bedürfnisse des Versicherten in der Zwischenzeit festgestellt, die eine andere Beurteilung seines Eigenbedarfs begründen könnten; denn die Kriegsbeschädigung bestand schon zur Zeit des Scheidungsverfahrens und auch die Invalidität beruhte auf der Kriegsbeschädigung. Durch die neue Ehe sind dem Versicherten keine wesentlichen neuen Verpflichtungen entstanden; denn die Ehefrau - die Beigeladene - bezog eine eigene Versichertenrente für ihren Unterhalt.
Der Unterhaltsvergleich kann auch nicht als von Anfang an unwirksam angesehen werden, etwa deshalb, weil der Versicherte damals nach den Feststellungen des LSG nur ein ganz geringes Einkommen hatte und somit Zweifel bestehen, ob er überhaupt imstande war, 150,- RM Unterhalt für die Klägerin und das Kind zu zahlen; denn es würde sich dabei nicht um eine - objektive - Unmöglichkeit der Leistung, sondern um das - subjektive - Unvermögen des Versicherten handeln, der möglicherweise nicht genügend Geldmittel zur Erfüllung des Vergleichs besaß. Dieses Unvermögen hatte er aber zu vertreten; es berechtigte ihn nicht, nachträglich gegen den Vollstreckungstitel vorzugehen (§§ 279, 306 BGB).
Auf Seiten der Klägerin ist keine im Rahmen von §§ 323, 767 ZPO rechtserhebliche Änderung eingetreten. Die Aufnahme der Arbeit im Notstandsprogramm hätte vom Versicherten nicht mit Erfolg geltend gemacht werden können, da sie nur als vorübergehende Tätigkeit zugeteilt war. Eine Änderung der Verhältnisse kann auch nicht insofern angenommen werden, als der Versicherte die Klägerin nunmehr, nachdem das 1947 geborene Kind herangewachsen war, billigerweise, besonders im Hinblick auf seine schwere Kriegsbeschädigung, auf Erwerbsarbeit hätte verweisen können; denn die Bemühungen der Sozialbehörde und die Zuteilung nur einer zeitlich begrenzten Notstandsarbeit zeigen, daß für die Klägerin bis zum Tode des Versicherten keine reale Möglichkeit bestanden hat, eine Dauerbeschäftigung aufzunehmen.
Da somit nicht festzustellen ist, daß der Versicherte den Vollstreckungstitel hätte beseitigen können, ist der Anspruch der Klägerin auf Grund der zweiten Alternative des § 1265 Satz 1 RVO begründet.
Die Revision der Beklagten ist deshalb nicht begründet und zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen