Entscheidungsstichwort (Thema)
Aus den Gründen
Leitsatz (redaktionell)
Wartezeiterfüllung (RVO §§ 1249, 1251 Abs 1 Nr 3).
Das Inkrafttreten des WGSVG bedeutet nicht, daß die durch dieses Gesetz neu gefaßte Vorschrift des RVO § 1251 Abs 1 Nr 4 - erstmals und entgegen der bisherigen ständigen Rechtsprechung des BSG - auf vor dem 1957-01-01 eingetretene Versicherungsfälle anwendbar sein soll.
Das LSG hat daher zu Recht die Berücksichtigung einer Ersatzzeit nach NVG § 3 Abs 1 abgelehnt, weil der verstorbene Ehemann der Klägerin bei Beginn der Verfolgung nicht mehr als Versicherter iS des NVG § 1 angesehen werden konnte.
Normenkette
RVO § 1249 Fassung: 1965-06-09, § 1251 Abs. 1 Nr. 3 Fassung: 1965-06-09, Nr. 4 Fassung: 1970-12-22; NVG § 1 Fassung: 1949-08-22, § 3 Abs. 1 Fassung: 1949-08-22
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 6. Mai 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Wartezeit für die von der Klägerin begehrte Hinterbliebenenrente erfüllt ist.
Die in den USA lebende Klägerin ist die Witwe des im November 1948 verstorbenen S L. Für ihn liegt eine im Jahre 1904 aufgerechnete Quittungskarte Nr. 1 vor, in welcher 52 Wochenbeiträge entrichtet sind. Der Versicherte war von 1919 bis März 1936 selbständiger Kaufmann und danach ohne Erwerb gewesen. Aus rassischen Gründen war er vom 12. November bis 10. Dezember 1938 inhaftiert. Im Juli 1939 wanderte er aus Deutschland aus. Die Klägerin hält den Rentenanspruch im Hinblick auf die nach ihrer Meinung anrechenbaren Ersatzzeiten (Wehrdienstzeiten im 1. Weltkrieg und Verfolgungszeiten seit 1936) für begründet.
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag ab, weil die gesetzliche Wartezeit nicht erfüllt sei. Die in der Quittungskarte Nr. 1 ausgewiesene Beitragszeit ergebe zusammen mit den Zeiten der Haft und des verfolgungsbedingten Auslandsaufenthalts selbst dann eine Gesamtversicherungszeit von weniger als 180 Monaten, wenn die bisher noch nicht nachgewiesene Kriegsdienstzeit des 1. Weltkrieges berücksichtigt werde (Bescheid vom 1. April 1968).
Klage und Berufung der Klägerin hatten keinen Erfolg.
Gegen das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) hat die Klägerin die zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung der §§ 1, 3 des Gesetzes über die Behandlung der Verfolgten des Nationalsozialismus in der Sozialversicherung (VerfolgtenG aF) vom 22. August 1949 (WiGBl S. 263) und des § 1252 Nr. 4 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Die Klägerin beantragt, das Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 6. Mai 1970 und das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 26. September 1969 sowie den Bescheid der Beklagten vom 1. April 1968 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin eine Witwenrente zu gewähren.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie stimmt der Entscheidung des Berufungsgerichts zu. Diese müsse auch unter Beachtung des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung der Vorschriften über die Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WG SVG) vom 22. Dezember 1970 (BGBl I 1846) aufrecht erhalten bleiben.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist nicht begründet.
Die Wartezeit für die von der Klägerin begehrte Witwenrente aus dem im Jahre 1948 eingetretenen Versicherungsfall ist - wie das LSG zu Recht festgestellt hat - nicht erfüllt (Art. 2 §§ 8, 17 Abs. 1 Satz 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG - i.V.m. §§ 1249, 1263 Abs. 2 RVO).
Da für den Versicherten nach den von der Revision nicht angegriffenen und daher für das Revisionsgericht gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG nach dem Jahre 1904 keine Beiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter oder der Angestellten mehr entrichtet worden sind, wäre eine Gesamtversicherungszeit von 180 Monaten i.S. von § 1249 Satz 2 Buchst. b RVO nur unter Berücksichtigung der geltend gemachten Verfolgungszeiten (i.V.m. den Wehrdienstzeiten im 1. Weltkrieg) als Ersatzzeiten zu erreichen.
Das LSG ist zutreffend - und von der Revision unangefochten - davon ausgegangen, daß im Hinblick auf den vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfall die Zeit vom März 1936 bis November 1948 nicht nach § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO als Ersatzzeit für die Erfüllung der Wartezeit gutzubringen ist (vgl. BSG 9, 92; 10, 152 und die Urteile des erkennenden Senats vom 25.2.1971 - 12 RJ 214/70 - und 20.10.1971 - 12 RJ 506/70). Eine Anrechnung von Verfolgten-Ersatzzeiten ist hier - mangels einer entsprechenden Regelung in § 1263 RVO aF - nur nach den Vorschriften des VerfolgtenG aF möglich.
Dieses Gesetz ist zwar durch Art. 4 § 5 Abs. 2 Buchst. b WG SVG außer Kraft getreten. Außerdem gilt dieses Gesetz - mit Ausnahme der Art. 1 § 13 Abs. 2 und § 14 Abs. 1 - auch für Versicherungsfälle vor seinem Inkrafttreten (§ 1 Satz 2 WG SVÄndG). Dies bedeutet indes nicht, daß mit dem Inkrafttreten des WG SVG auch die durch dieses Gesetz neu gefaßte Vorschrift des § 1251 Abs. 1 Nr. 4 RVO - erstmals und entgegen der bisherigen ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) - auf vor dem 1. Januar 1957 eingetretene Versicherungsfälle anwendbar sein soll. Vielmehr ist bereits in der Begründung des Regierungsentwurfs zu Art. 4 § 1 des WG SVG ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß es bei der bisherigen zeitlich beschränkten Geltung der neuen Ersatzzeitenregelung auf die nach dem 31. Dezember 1956 eingetretenen Versicherungsfälle entsprechend der Entscheidung in BSG 9, 92 verbleiben soll (vgl. BT-Drucksache VI/715 S. 12; ebenso BR-Drucksache 73/70, S. 8; vgl. auch von Borries in BABl 1971, 153, 157 und Ludwig in SozVers 1971, 151, 156). Damit im Einklang hat der erkennende Senat bereits entschieden, daß trotz der §§ 1 und 5 WG SVÄndG die Vorschriften des VerfolgtenG aF auf Versicherungsfälle vor dem 1. Januar 1957 nach wie vor anzuwenden sind (vgl. Urteil vom 21.9.1971 - 12/11 RA 212/70).
Das LSG hat zu Recht die Berücksichtigung einer Ersatzzeit nach § 3 Abs. 1 VerfolgtenG aF abgelehnt, weil der verstorbene Ehemann der Klägerin bei Beginn der Verfolgung nicht mehr als Versicherter i.S. des § 1 VerfolgtenG aF angesehen werden konnte. Nach der Entscheidung des 1. Senats des BSG vom 27. Juni 1967 (SozR Nr. 10 zu VerfolgtenG Allg) sind für Verfolgte des Nationalsozialismus - mit Ausnahme der hier nicht in Betracht kommenden Regelung in § 4 Abs. 6 VerfolgtenG aF - Ersatzzeiten nach § 3 Abs. 1 VerfolgtenG aF nur dann anzurechnen, wenn zu deren Beginn die Anwartschaft aus vorher wirksam entrichteten Versicherungsbeiträgen erhalten war. Diese Voraussetzung ist hier - wie das LSG im Hinblick auf die bereits im Jahre 1904 beendete Beitragsleistung zutreffend und von der Revision ebenfalls unangefochten festgestellt hat - nicht erfüllt.
Der erkennende Senat sieht keine Veranlassung, von der Entscheidung des 1. Senats aaO abzuweichen. Auch nach der allgemeinen Regelung in § 1263 RVO aF konnten nur bereits Versicherte eine Ersatzzeit zurückgelegt haben. Entsprechend dem Wesen der Ersatzzeit mußte also bei deren Beginn ein noch wirksames Versicherungsverhältnis bestanden haben. Unter Berücksichtigung der nach altem Recht geltenden Anwartschaftsbestimmungen bedeutete dies, daß Ersatzzeiten nur dann angerechnet werden konnten, wenn rückschauend gesehen bei Eintritt des Versicherungsfalles und damit auch bei Beginn der Ersatzzeit aus den vorher entrichteten Beiträgen die Anwartschaft erhalten war oder als erhalten galt (vgl. Verbandskommentar zur RVO, 5. Aufl., Anm. 5 zu § 1263 RVO aF mit weiteren Nachweisen). Da aber nach der Legaldefinition des § 1 Abs. 1 VerfolgtenG aF die Vorschriften dieses Gesetzes ebenfalls nur auf Versicherte und deren Hinterbliebene Anwendung finden, kann für die Ersatzzeitenregelung des § 3 Abs. 1 VerfolgtenG aF insoweit nichts anderes gelten als für die - bei Erlaß des VerfolgtenG aF bereits gültige - allgemeine Ersatzzeitenvorschrift des § 1263 RVO aF. An der im Urteil des 1. Senats vom 27. Juni 1967 aaO vertretenen Rechtsauffassung ist um so mehr festzuhalten, als das WG SVG für Versicherungsfälle, die vor dem 1. Januar 1957 eingetreten sind, keine neue Ersatzzeitenregelung enthält. Daraus darf geschlossen werden, daß der Gesetzgeber für "Altfälle" die Auslegung des § 3 Abs. 1 VerfolgtenG aF durch das BSG in der genannten Entscheidung gebilligt hat. Das Argument der Revision, die Auslegung der §§ 1, 3 VerfolgtenG aF unter Zugrundelegung des früheren Anwartschaftsrechts sei nicht zulässig, weil das VerfolgtenG keine abschließende Regelung getroffen habe, erweist sich damit rückblickend - nach Erlaß des WG SVG - als nicht rechtserheblich.
Da somit die Anrechnung einer Ersatzzeit nach § 3 Abs. 1 VerfolgtenG aF überhaupt ausscheidet, kann unerörtert bleiben, ob die für einen Teil der geltend gemachten Gesamtzeit behauptete verfolgungsbedingte Arbeitslosigkeit auch deswegen nicht als Ersatzzeit im Sinne der Vorschrift anzusehen ist, weil der Ehemann der Klägerin bis März 1936 als selbständiger Kaufmann tätig war, § 3 Abs. 1 VerfolgtenG aF aber insoweit nur die durch die erzwungene Aufgabe eines (abhängigen) Arbeitsverhältnisses hervorgerufene Arbeitslosigkeit als Ersatzzeit vorsieht.
Da zur Zeit des Todes des Versicherten (November 1948) nach den zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften die Anwartschaft weder erhalten war noch als erhalten galt, hat das LSG zutreffend auch einen Hinterbliebenenrentenanspruch der Klägerin nach Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 2 ArVNG abgelehnt. Aus den gleichen Gründen ist dem LSG darin beizupflichten, daß dem Verstorbenen zur Zeit seines Todes keine Versichertenrente zustand und demnach auch ein Witwenrentenanspruch nach Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1263 Abs. 2 RVO idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) nicht besteht.
Schließlich hat das LSG auch die Voraussetzungen der Wartezeitfiktion des § 1252 Nr. 4 RVO i.V.m. Art. 2 §§ 10 Abs. 1, 17 Abs. 1 ArVNG, § 1263 Abs. 2 RVO zu Recht verneint. Die Revision rügt zwar auch eine Verletzung des § 1252 Nr. 4 RVO durch das Berufungsgericht, gibt dafür aber keine nähere Begründung. Eine Anwendung dieser Vorschrift scheidet schon deswegen aus, weil weder im Klage- noch im Berufungsverfahren vorgetragen worden ist, daß der Verfolgte infolge von Maßnahmen i.S. des § 2 des Bundesentschädigungsgesetzes berufsunfähig geworden oder gestorben ist. In der Revisionsbegründung wird sogar im Gegenteil betont, daß der Verfolgte nach seiner Auswanderung im Juli 1939 wieder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt hat. Im übrigen hat das LSG richtig erkannt, daß § 1252 RVO die Fiktion der Wartezeiterfüllung ebenfalls nur bei Versicherten zuläßt. Der zum Erwerb der Versicherteneigenschaft mindestens erforderliche eine Beitrag muß aber auch noch zur Zeit des Versicherungsfalles anrechenbar sein. Auch nach § 1249 RVO idF des RVÄndG würde es aber daran im Hinblick auf die letzte Beitragsentrichtung im Jahre 1904 selbst dann fehlen, wenn man - ohne entsprechende konkrete Anhaltspunkte - hier annehmen wollte, der Versicherungsfall sei als Spätfolge der bis zur Auswanderung im Juli 1939 stattgefundenen nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen eingetreten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen