Leitsatz (amtlich)
Auch bei Hinterbliebenenrenten, die auf Grund vor dem 1957-01-01 eingetretener Versicherungsfälle beansprucht werden, gilt die Ersatzzeitenregelung des RVO § 1251 nicht (Fortführung von BSG 1959-01-28 1 RA 139/58 = BSGE 9, 92; BSG 1959-07-08 4 RJ 47/58 = BSGE 10, 151; Anschluß an BSG 1971-02-25 12 RJ 214/70 = SozR Nr 9 zu § 1249 RVO).
Leitsatz (redaktionell)
Die Anrechnung einer Kriegsdienstzeit als Ersatzzeit setzt auch bei Hinterbliebenenrente für einen vor dem 1.1.1957 eingetretenen Versicherungsfall voraus, daß der Ersatzzeit eine Versicherungszeit vorausgegangen ist.
Normenkette
ArVNG Art. 2 § 17 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1263 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1251 Abs. 2 Fassung: 1965-06-09, § 1249 S. 2 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 29. Oktober 1970 aufgehoben.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 28. Januar 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Wartezeit für die von der Klägerin begehrte Witwenrente aus der Versicherung ihres 1949 verstorbenen Ehemannes erfüllt ist (Art. 2 §§ 8, 17 Abs. 1 Satz 1 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes - ArVNG -, §§ 1249, 1263 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).
Die Beklagte lehnte den Rentenantrag der Klägerin ab, weil nur eine Versicherungszeit von 33 Monaten, und zwar für die Zeit vom November 1946 bis Juli 1949 nachgewiesen sei. Die Kriegsdienstzeit vom September bis November 1939 und vom Juni 1941 bis Oktober 1944 könne nicht angerechnet werden, weil eine Versicherung vor diesen Zeiträumen nicht bestanden habe (Bescheid vom 25. November 1968).
Mit der Klage machte die Klägerin geltend, ihr Ehemann habe 1920 und 1921 auf dem Rangierbahnhof C in Oberschlesien, anschließend in der Landwirtschaft seiner Eltern und - dazwischen - 1926 bis 1927 in B gearbeitet; von 1930 bis zum Zusammenbruch habe er in B ein Lebensmittelgeschäft betrieben und dort bis zu seiner Ausweisung im Juli 1946 gewohnt.
Das Sozialgericht (SG) wies die Klage nach der Vernehmung eines Zeugen ab. Das Landessozialgericht (LSG) gab der Berufung der Klägerin nach zusätzlicher Beweisaufnahme statt.
Zwar hält das LSG - ebenso wie das SG - eine Beitragsentrichtung des Versicherten vor dessen Einberufung zum Wehrdienst aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme weder für nachgewiesen noch für glaubhaft gemacht. Mit der nachgewiesenen Beitragszeit von 33 Monaten und der ebenfalls nachgewiesenen Ersatzzeit des Kriegsdienstes von 44 Monaten sei jedoch die Wartezeit für die Rente wegen Berufsunfähigkeit vom Versicherten erfüllt worden (§ 1263 Abs. 2 RVO nF).
Die Ersatzzeit sei nach § 1251 Abs. 2 RVO nF auf die Wartezeit anrechenbar, weil der Versicherte innerhalb von drei Jahren nach Beendigung der Ersatzzeit eine rentenversicherungspflichtige Beschäftigung aufgenommen habe. Zwar sei der Versicherungsfall des Todes bereits im November 1949, also vor Inkrafttreten des ArVNG, eingetreten. Aus Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 1 ArVNG, § 1263 Abs. 2 RVO nF und Art. 2 § 8 ArVNG ergebe sich aber, daß Hinterbliebenenrenten aus Versicherungsfällen, die in der Zeit vom 1. 4. 1945 bis 31. 12. 1956 eingetreten sind, nach neuem Recht zu beurteilen seien. Das Übergangsrecht schränke die Anwendbarkeit des § 1251 Abs. 2 RVO nF nicht ein.
Die Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Januar und 8. Juli 1959 (BSG 9, 92 und 10, 151), daß für Versicherungsfälle aus der Zeit vor Inkrafttreten des ArVNG die Vorschrift des § 1251 RVO auch nicht über Art. 2 § 8 Satz 1 ArVNG anwendbar sei, bezögen sich lediglich auf Versicherten-, nicht aber auf Hinterbliebenenrenten. Sie könnten auf den vorliegenden Fall auch nicht analog übertragen werden, weil die Übergangsvorschriften des ArVNG für Versichertenrenten aus Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 grundsätzlich das alte Recht weitergelten ließen, während sie für Hinterbliebenenrenten aus Versicherungsfällen zwischen 1945 und 1957 nach Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 1 ArVNG die Anwendung neuen Rechts vorschrieben (Urteil vom 29. Oktober 1970).
Die Beklagte hat die zugelassene Revision eingelegt; sie rügt eine unrichtige Anwendung des Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 1 ArVNG durch das Berufungsgericht.
Das LSG habe die Bedeutung der Hinterbliebenenrente als eines prozentualen Betrags der auf den Zeitpunkt des Todes des Versicherten berechneten Versichertenrente verkannt. Außerdem übersehe die Rechtsauffassung des LSG, daß Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 1 ArVNG ausdrücklich die Anwendung des § 1263 RVO nF und des Art. 2 § 8 ArVNG vorschreibe. Dieser Art. 2 § 8 ArVNG idF des 1. Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) lasse § 1249 RVO nF auch für Versicherungsfälle gelten, die zwischen dem 1. April 1945 und dem 30. Juni 1965 eingetreten seien. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG lasse die Verweisungskette über Art. 2 § 8 ArVNG auf § 1249 RVO aber nicht den Schluß zu, daß sich diese Kette weiter auf § 1250 RVO und damit letzten Endes auch auf § 1251 RVO erstrecke.
Das LSG habe auch nicht den allgemeinen Rechtssatz berücksichtigt, daß neues Recht für vor seinem Inkrafttreten eingetretene Versicherungsfälle nur dann gelte, wenn dies ausdrücklich bestimmt worden sei. Es wären daher nicht - wie das LSG es getan habe - Einschränkungen hinsichtlich der Anwendbarkeit des § 1251 Abs. 2 RVO, sondern eine ausdehnende Vorschrift über dessen Anwendbarkeit in den Übergangsregelungen zu fordern gewesen. Art. 2 § 5 ArVNG lasse eine solche Ausnahme beim Ersatzzeitenrecht aber lediglich in dem hier nicht interessierenden Art. 2 § 9 ArVNG zu. Weitere Ausnahmevorschriften gebe es nicht, insbesondere nicht in Art. 2 § 17 Abs. 1 Satz 1 ArVNG.
Die Beklagte beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Hildesheim vom 28. Januar 1970 zurückzuweisen.
Die Klägerin hat keinen Antrag durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten gestellt.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist begründet.
Der erkennende Senat hat bereits im Urteil vom 25.Februar 1971 (SozR Nr. 9 zu § 1249 RVO) entschieden, daß auch bei Hinterbliebenenrenten, die aus Versicherungsfällen vor dem 1. Januar 1957 hergeleitet werden, die Ersatzzeitenregelung des § 1251 RVO nicht anwendbar ist. An dieser Rechtsauffassung hält der Senat nach nochmaliger Prüfung der Rechtslage fest.
Der Senat vermag nicht einzusehen, weshalb bei einer Versichertenrente, die auf einem alten, d.h. vor dem 1. Januar 1957 eingetretenen Versicherungsfall beruht, für die Anrechenbarkeit der Ersatzzeit nach der vom LSG zitierten ständigen Rechtsprechung des BSG eine Versicherung vor Beginn des Ersatzzeittatbestandes erforderlich ist (§ 1263 RVO aF), hingegen bei einer ebenfalls aus einem alten Versicherungsfall hergeleiteten Hinterbliebenenrente diese Voraussetzung entbehrlich sein soll. Die vom LSG für diese Rechtsansicht angeführten Gründe vermögen nicht zu überzeugen.
Das LSG übersieht - worauf die Revision zu Recht hinweist -, daß Art. 2 § 17 Satz 1 ArVNG für den hier im Jahre 1949 eingetretenen Versicherungsfall des Todes lediglich auch die Geltung des § 8 dieses Artikels und des § 1263 Abs. 2 RVO bestimmt. Dies besagt, daß es für die Erfüllung der Wartezeit genügt, wenn eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt ist (§ 1263 Abs. 2 iVm § 1246 Abs. 3 RVO) und daß bei der Prüfung dieser Frage über Art. 2 § 8 ArVNG auch § 1249 RVO anzuwenden ist. Es stellt sich somit hier - ebenso wie bei den Versichertenrenten - die Frage, ob im Hinblick auf den Klammerzusatz in § 1249 Satz 1 RVO über § 1250 RVO bei alten Versicherungsfällen auch die Ersatzzeitenregelung des § 1251 RVO gilt. Dies hat das BSG für Ansprüche auf Versichertenrenten in BSG 9, 92 und 10, 151 verneint. Der Senat hat sich mithin im Urteil vom 25. Februar 1971 aaO dieser ständigen Rechtsprechung auch für Hinterbliebenenrentenansprüche aufgrund der insoweit gleichen Rechts- und Interessenlage angeschlossen.
Die vom LSG genannte Auffassung im Kommentar von Eicher/Haase, Die Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, 3. Aufl., Anm. 8 zu Art. 2 § 17 ArVNG rechtfertigt kein anderes Ergebnis. Dort wird nur gesagt, daß für die aus alten Versicherungsfällen hergeleiteten Hinterbliebenenrentenansprüche sich die Frage der Wartezeiterfüllung nach neuem Recht richtet. Es wird also im Einklang mit dem Wortlaut des Art. 2 § 17 Satz 1 ArVNG über § 8 dieses Artikels lediglich auf die Anwendung des § 1249 RVO, nicht aber des § 1251 RVO hingewiesen. Das LSG verkennt, daß diese Vorschrift gegenüber § 1249 RVO durchaus selbständige Bedeutung hat (vgl. BSG 10, 151, 155). Etwas anderes ist auch in der vom LSG zitierten Kommentarstelle nicht gemeint. Dies folgt einmal daraus, daß auch von Eicher/Haase aaO in Anm. 3 zu § 1251 RVO aus Art. 2 § 5 ArVNG der Schluß gezogen wird, daß die Ersatzzeitenregelung des § 1251 RVO nur für Versicherungsfälle des neuen Rechts gilt. Zum anderen halten Eicher/Haase in Anm.5 zu Art. 2 § 8 ArVNG die bisherige Rechtsprechung des BSG über die Nichtanwendbarkeit des § 1251 RVO auf alte Versicherungsfälle nur dann für überholt, wenn insgesamt eine Versicherungszeit von 180 Monaten zurückgelegt ist. Dies ist jedoch hier auch unter Einbeziehung der Ersatzzeit nicht der Fall.
Im übrigen waren dem Gesetzgeber bei den Beratungen zum Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 die Entscheidungen in BSG 9, 92 und 10, 151 bekannt. Er hat in der Beschränkung der Ersatzzeitenregelung neuen Rechts auf neue Versicherungsfälle durch das BSG aber offenbar keine besondere Härte gesehen, weil auch Art. 5 § 4 Abs. 2 Buchstabe a RVÄndG die Änderung des § 1251 RVO durch Art. 1 § 1 Nr. 15 RVÄndG nur für Versicherungsfälle gelten läßt, die nach dem 31. Dezember 1956 eingetreten sind.
Für den hier vor diesem Zeitpunkt eingetretenen Versicherungsfall des Todes ist somit weiterhin anstelle des § 1251 Abs. 2 RVO das bis zum 31. Dezember 1956 geltende Ersatzzeitenrecht anzuwenden. Nach der danach maßgebenden Vorschrift des § 1263 RVO aF wird die dort ua aufgeführte Kriegsdienstzeit für die Erfüllung der Wartezeit nur angerechnet, wenn die Versicherung vorher bestanden hat. Dies ist jedoch nach den Feststellungen des LSG nicht der Fall. Mit den somit allein zu berücksichtigenden 33 Beitragsmonaten ist die Wartezeit i.S. der §§ 1246 Abs. 3, 1263 Abs. 2 RVO nicht erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen