Leitsatz (redaktionell)
1. Bei der Prüfung, ob ein Witwer den überwiegenden Unterhalt der Familie nicht bestritten hat, ist auch das der Verstorbenen gewährte Pflegegeld nach BSHG § 69 Abs 3 zu berücksichtigen. Die uneigennützige nachbarschaftliche und karitative Hilfe Dritter im Haushalt stellt dagegen keinen Beitrag zum Lebensunterhalt dar. Es handelt sich dabei nicht um Zuwendungen, durch die die Vermögenslage im rechtlichen Sinne verbessert worden ist.
2. Das an eine verheiratete Versicherte zur Auszahlung gelangte Pflegegeld ist bei der Geltendmachung eines Witwerrentenanspruchs als Beitrag zum Unterhalt der Familie anzusehen und muß demzufolge bei der Prüfung der Frage des überwiegenden Unterhalts Beachtung finden.
Normenkette
RVO § 1266 Fassung: 1957-02-23; BSHG §§ 68, 69 Abs. 3
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 10. Mai 1972 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
I
Der Rechtsstreit betrifft die Gewährung einer Witwerrente.
Der 1894 geborene Kläger war seit 1934 mit der 1892 geborenen Versicherten verheiratet. Beide Eheleute bezogen seit Vollendung des 65. Lebensjahres Altersruhegeld. Die Rente des Klägers belief sich ab 1. Januar 1970 auf 305,20 DM, die der Versicherten auf 311,30 DM monatlich. Ab 1964 erhielt der Kläger für sich und die Versicherte vom Sozialamt Wedel Hilfe zur Pflege in Höhe von 100,-- DM monatlich; ab 1969 wurde statt dessen der Versicherten Pflegegeld in Höhe von monatlich 120,-- DM gewährt. Ferner wurde ein Wohngeld in Höhe, von 8,-- DM monatlich gezahlt. Die Versicherte war seit Jahren bettlägerig; der Kläger konnte sich nur noch mühsam auf Krücken fortbewegen und litt an einer Versteifung der Finger. Die mit der Führung des Haushalts verbundenen Arbeiten wurden in vollem Umfange von Nachbarn und von der Gemeindeschwester verrichtet.
Die Versicherte ist am 13. Mai 1970 verstorben. Den Antrag des Klägers auf Gewährung von Witwerrente lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 29. September 1970 mit der Begründung ab, daß die Versicherte den Unterhalt der Familie nicht überwiegend bestritten habe. Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage hatte in den beiden ersten Rechtszügen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Itzehoe vom 24. März 1971, Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts -LSG- vom 10. Mai 1972).
Das LSG ist in seinem Urteil davon ausgegangen, daß das Altersruhegeld der Versicherten höher war als das des Klägers. Die sich daraus ergebende Folgerung, daß die Versicherte den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten habe, werde durch die weiteren Leistungen, die die Eheleute erhalten hätten, nicht zum Nachteil des Klägers beeinflußt. Das Wohngeld sei allenfalls beiden Eheleuten je zur Hälfte zuzurechnen. Die der Versicherten gewährte Hilfe zur Pflege sei kein den Anteil der Versicherten am Familienunterhalt mindernder Drittbeitrag.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die - zugelassene - Revision eingelegt. Sie meint, daß das Wohngeld, die Hilfe zur Pflege und die von Nachbarn und von der Gemeindeschwester unentgeltlich erbrachten Haushaltsarbeiten als Unterhaltsbeiträge Außenstehender angesehen werden müßten und damit die Annahme einer überwiegenden Bestreitung des Unterhalts der Familie durch die Versicherte ausschlössen. Das LSG habe es auch unterlassen, von seinem Standpunkt aus gebotene Ermittlungen durchzuführen. So hätte ermittelt werden müssen, wer das Wohngeld beantragt habe und wem es gewährt und ausgezahlt worden sei. Ferner hätte es einer Prüfung bedurft, ob das Pflegegeld ausschließlich zur Pflege der Versicherten oder ganz oder zum Teil zum Unterhalt der Familie verwandt worden sei. Schließlich hätte noch insbesondere im Wege einer Anhörung des Klägers aufgeklärt werden müssen, ob dieser nicht doch gewisse, wenn auch nur geringfügige, Arbeiten im Haushalt erbracht habe.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 10. Mai 1972 und des SG Itzehoe vom 24. März 1971 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger ein Anspruch auf Witwerrente zusteht, weil die Versicherte den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat (§ 1266 der Reichsversicherungsordnung -RVO-).
Der Unterhaltsbeitrag der Versicherten setzt sich aus ihrer Versichertenrente und aus der ihr gewährten Hilfe zur Pflege zusammen. Er ist damit wesentlich höher als der Unterhaltsbeitrag des Klägers. Dabei kann offen bleiben, ob das Wohngeld ganz oder zum Teil dem Unterhaltsbeitrag des Klägers oder dem der Versicherten zuzurechnen oder als ein Unterhaltsbeitrag eines Außenstehenden aufzufassen ist. Die für den Kläger und die Versicherte von Nachbarn uneigennützig geleistete Haushaltshilfe stellt keinen Drittbeitrag dar, der die Annahme überwiegenden Unterhalts durch die Versicherte ausschließen würde.
In der Frage, ob und in welcher Weise Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) bei Anwendung von § 1266 RVO zu berücksichtigen sind, hat der 11. Senat zwischen der Hilfe zum Lebensunterhalt (§§ 11 ff BSHG) und der Hilfe in besonderen Lebenslagen (§§ 27 ff BSHG), insbesondere der auch hier allein in Betracht kommenden Hilfe zur Pflege (§§ 68, 69 BSHG), unterschieden (SozR Nr. 7 zu § 1266 RVO). Die Hilfe zum Lebensunterhalt sei kein Unterhaltsbeitrag eines Familienangehörigen, sondern ein solcher eines Außenstehenden. Dagegen ist nach Ansicht des 11. Senats das Pflegegeld insoweit als ein Unterhaltsbeitrag des Empfängers anzusehen, als es von diesem für den Unterhaltsaufwand der Familie zur Verfügung gestellt worden ist.
Dieser Auffassung tritt der erkennende Senat entgegen den Bedenken der Revision bei. Die Hilfe zum Lebensunterhalt ist hinsichtlich ihrer Höhe dem wesentlich durch die Zahl der Haushaltsangehörigen bestimmten Unterhaltsbedarf angepaßt (vgl. § 2 der Regelsatzverordnung). Vermindert sich dieser Bedarf durch den Wegfall des bisherigen Haushaltsvorstandes oder eines Haushaltsangehörigen, so wird dem durch eine anderweitige Festsetzung der Hilfe zum Lebensunterhalt Rechnung getragen. Sie fällt jedenfalls mit dem Tod eines Haushaltsangehörigen nicht in vollem Umfang weg, sondern wird bei Bedürftigkeit der Hinterbliebenen, wenn auch in anderer Höhe, weitergewährt. Es ist nicht Sinn der Witwerrente, scheinbare Einbußen dieser Art auszugleichen; wenn die Hilfe der Allgemeinheit bisher Quelle des Unterhalts der Familie war, so ist sie es auch weiterhin nach Maßgabe des nunmehr veränderten Bedarfs. Demgegenüber dient die Hilfe in besonderen Lebenslagen grundsätzlich nicht der Gewährleistung eines sonst nicht gesicherten allgemeinen Lebensunterhalts. Sie wird dem Hilfesuchenden im Hinblick auf seine ganz speziellen Bedürfnisse gewährt (vgl. § 28 BSHG) und fällt mit seinem Tod insgesamt fort. Hat die Hilfe zur Pflege auch für den Unterhaltsaufwand der Familie gedient, so hat der Tod des Empfängers eine Verschlechterung der Unterhaltssituation der Familie zur Folge, die ggf. im Hahnen von § 1266 RVO auszugleichen ist, wie das der Unterhaltsersatzfunktion der Witwerrente entspricht. Ein derartiger Fall ist hier gegeben. Zwar hat das LSG nicht im einzelnen festgestellt, wozu die Versicherte die Hilfe zur Pflege verwandt hat. Hier kommt es darauf aber nicht entscheidend an. Die Versicherte war seit Jahren bettlägerig und außerstande, die ihr zur Verfügung stehenden Mittel anders als für den Lebensunterhalt der Familie zu verwenden; die ihr nach § 1360 BGB obliegende Haushaltstätigkeit konnte sie nicht verrichten.
Die uneigennützige nachbarschaftliche und karitative Hilfe Dritter im Haushalt der Versicherten und des Klägers stellt entgegen der Auffassung der Revision keinen Beitrag zum Lebensunterhalt dar, der im Rahmen von § 1266 RVO zu berücksichtigen wäre. Nach den unangegriffenen Feststellungen des LSG handelt es sich hier um Gefälligkeiten des täglichen Lebens, wenn auch möglicherweise in einem nicht unbedeutenden Umfang, die über den Bereich rein tatsächlicher Vorgänge nicht hinausgehen und damit Rechtswirkungen rechtsgeschäftlicher Art nicht auslösen (vgl. BGHZ 21, 102, 107). Sie sind Ausdruck eines mitmenschlichen Verantwortungsbewußtseins. Sie sind nicht Zuwendungen, durch die im rechtlichen Sinne die Vermögenslage des Empfängers verbessert worden ist. Sie sind deshalb nicht mit Geldbeträgen zu bewerten und dann in bestimmter Höhe als Unterhaltsbeitrag anzusetzen.
Damit überwiegt der Unterhaltsbeitrag der Versicherten, der sich aus ihrer Rente und ihrem Pflegegeld zusammensetzt, den Beitrag des Klägers, der aus seiner Rente besteht. Bei dieser Sach- und Rechtslage kann offen bleiben, ob das Wohngeld als ein Unterhaltsbeitrag eines oder beider Ehegatten zur Hälfte oder als Beitrag eines Außenstehenden anzusehen ist; jedenfalls könnte seine Berücksichtigung nichts daran ändern, daß die Versicherte den Unterhalt der Familie überwiegend bestritten hat. Dies gilt auch für etwaige Haushaltsarbeiten des Klägers, die auch nach Ansicht der Beklagten nur in einem solchen Umfang verrichtet sein können, daß sie gegenüber dem Unterhaltsbeitrag der Versicherten nicht entscheidend ins Gewicht fielen.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen