Leitsatz (amtlich)

Betrifft der Klageanspruch die Gewährung einer zeitlich unbegrenzten Heilbehandlung, so ist die Berufung nicht nach § 144 Abs 1 Nr 2 SGG ausgeschlossen (Bestätigung von BSG 1966-11-11 10 RV 415/63 = BSGE 25, 257; Abgrenzung zu BSG 1972-02-29 4 RJ 237/71 = SozR Nr 29 zu § 144 SGG).

 

Normenkette

SGG § 144 Abs 1 Nr 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1237

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 26.03.1982; Aktenzeichen L 4 J 1628/81)

SG Heilbronn (Entscheidung vom 16.07.1981; Aktenzeichen S 9 J 92/81)

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt medizinische Leistungen zur Rehabilitation.

Der Kläger, der schon mehrmals vierwöchige Heilverfahren erhalten hatte, beantragte im Mai 1980 erneut die Gewährung eines Heilverfahrens. Die Beklagte lehnte ab, weil nach den ärztlichen Stellungnahmen medizinische Leistungen zur Rehabilitation nicht notwendig seien, vielmehr eine ambulante Behandlung ausreichend erscheine (Bescheid vom 30. Juni 1980; Widerspruchsbescheid vom 4. Dezember 1980). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 16. Juli 1981). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit Urteil vom 26. März 1982 als unzulässig verworfen und ausgeführt: Da ein Heilverfahren in der Regel für vier Wochen gewährt werde, wie dies auch beim Kläger schon bisher der Fall gewesen sei, handele es sich um eine Leistung, die die Dauer von dreizehn Wochen nicht übersteige. Die Berufung sei damit unzulässig (§ 144 Abs 1 Nr 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 144 SGG. Er ist der Ansicht, daß die in den §§ 1236 ff Reichsversicherungsordnung (RVO) beschriebenen "Leistungen zur Rehabilitation" keineswegs notwendigerweise auf dreizehn Wochen beschränkt seien. Auch er habe eine entsprechende Beschränkung seines Klagebegehrens nicht vorgenommen. Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 16. Juli 1981 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 30. Juni 1980 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Dezember 1980 zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts dem Kläger wegen seines Antrages auf Durchführung von medizinischen Leistungen zur Rehabilitation einen neuen Bescheid zu erteilen; hilfweise beantragt er, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt, Die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zur abschließenden Entscheidung nicht aus.

Zu Unrecht hat das LSG die Berufung als unzulässig verworfen. Da der Kläger die geltend gemachten Leistungen zur medizinischen Rehabilitation nach §§ 1236, 1237 RVO zeitlich nicht beschränkt hat, betrifft seine Berufung gegen das Urteil des SG keinen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum bis zu dreizehn Wochen iS des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG.

Um einen "Anspruch" gemäß dieser Vorschrift handelt es sich, obwohl der Kläger lediglich eine Leistung begehrt, deren Gewährung im Ermessen der Beklagten liegt. Der Ausdruck "Anspruch" ist an dieser Gesetzesstelle prozessual zu verstehen: Als das auf Feststellung einer Rechtsfolge gerichtete Begehren (BSGE 2, 135, 136; 18, 266 = SozR Nr 22 zu § 144 SGG; SozR Nr 29 zu § 144 SGG). Der einem Träger zur Rentenversicherung obliegenden Leistung zur Rehabilitation haftet auch nicht das Wesen der Einmaligkeit an. Sie ist weder nach ihrer natürlichen Beschaffenheit zeitlich fixiert noch begriffsnotwendig von kurzer Dauer. Vielmehr handelt es sich um eine vielgestaltige Leistung, welche über eine gewisse Zeit hinweg medizinische Versorgung sowie, wenn die Umstände es gebieten, Unterkunft und Verpflegung umfaßt und dabei wechselnden therapeutischen Anforderungen angepaßt werden muß (BSG SozR Nr 29 zu § 144 SGG).

Das Heilverfahren, das der Kläger von der Beklagten begehrt, ist zwar "wiederkehrend" im Sinne des § 144 Abs 1 Nr 2 SGG, es ist jedoch nicht allgemein und von vornherein auf dreizehn Wochen beschränkt. Handelt es sich um wiederkehrende Leistungen, deren Dauer von den Umständen des Falles abhängt und auch über dreizehn Wochen hinausgehen können, so ist von einem Regel-Ausnahmeverhältnis auszugehen. Die Berufung ist immer gegeben, solange über die Leistungsdauer noch keine Gewißheit besteht. Das Rechtsmittel ist nur dann nicht eröffnet, wenn zu dem für seine Zulässigkeit maßgeblichen Zeitpunkt feststeht, daß die Leistung bloß für eine Zeitspanne von dreizehn Wochen gefordert wird (BSG SozR Nr 2 zu § 144 SGG; BSGE 25, 257; SozR Nr 29 zu § 144 SGG).

Der im angefochtenen Urteil maßgebenden Überlegung, daß "in der Regel" die Versicherungsträger nur Maßnahmen von vier Wochen Dauer gewähren und daß bei der Prüfung der Zulässigkeit der Berufung von diesem "Regelfall" auszugehen sei, kann nicht gefolgt werden. Das LSG hat diese Rechtsauffassung zu Unrecht auf die Entscheidung des BSG vom 29. Februar 1972 (SozR Nr 29 zu § 144 SGG) gestützt, weil im dortigen Fall das Klagebegehren - anders als hier - ausdrücklich auf einen Zeitraum von weniger als dreizehn Wochen beschränkt war und deswegen die vom BSG des weiteren angestellten Erwägungen zum "Regelfall" der Gewährung einer zeitlich begrenzten Heilbehandlung für die dortige Bejahung des Berufungsausschlusses nicht rechtserheblich sind.

Richtig ist, daß der Kläger sein Begehren auf einen Zeitraum unter dreizehn Wochen beschränken kann, dies aber nicht muß. Er kann sogar ausdrücklich seinen prozessualen Anspruch erweitern, also von vornherein die Meinung vertreten, daß ihm nur mit einer Maßnahme von über dreizehn Wochen zu helfen sei. Im letzteren Fall ist gewiß, daß der Streitgegenstand einen Zeitraum von mehr als dreizehn Wochen umfaßt. Äußert sich der Kläger - wie im vorliegenden Fall - nicht zur Dauer der Maßnahme, so begehrt er die Maßnahme, die bei ihm notwendig ist. Das hängt von Ermittlungen und von der Entscheidung des Versicherungsträgers oder des Gerichtes ab. Von der "normalen Dauer" der Maßnahme läßt sich nur ausgehen, wenn unter den Beteiligten nicht streitig ist, daß in dem betreffenden Fall allenfalls diese in Betracht kommt. Sobald auch über diesen Punkt unter den Beteiligten keine Einigkeit besteht, ist das ganze Begehren im Streit, das die §§ 1236, 1237 ff RVO ermöglichen.

Zu einer abschließenden Entscheidung ist der Senat nicht in der Lage, da das LSG von seinem Rechtsstandpunkt ausgehend keine tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, die eine Beurteilung des Anspruchs des Klägers gestatten.

Das LSG wird auch über die Kosten des Rechtsstreits zu befinden haben.

 

Fundstellen

Breith. 1984, 917

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