Leitsatz (redaktionell)
Ein Beschädigter, der infolge Verlustes eines Armes sich die infolge einer Zuckerkrankheit täglich zweimal notwendigen Insulinspritzen nicht selbst verabreichen kann, ist nicht "hilflos" iS des BVG § 35.
Normenkette
BVG § 35 Fassung: 1960-06-27
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 18. Juni 1964 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Der Kläger bezieht ua wegen Verlust des linken Armes im Schultergelenk mit empfindlicher Narbenbildung Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v. H. Seit 1955 leidet er an Zuckerkrankheit, die ihn zu zwei täglichen Insulin spritzen zwingt. Da er sich diese Spritzen nicht selbst verabreichen könne, beantragte er am 12. Dezember 1961, ihm Pflegezulage zu gewähren. Das Versorgungsamt H lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17. Juli 1962 ab, weil einzelne Hilfeleistungen noch nicht Hilflosigkeit begründeten. Der Widerspruch des Klägers hatte keinen Erfolg (Widerspruchsentscheidung vom 5. Dezember 1962). Auf die Klage des Beschädigten hat das Sozialgericht (SG) Hannover mit Urteil vom 19. Februar 1964 den Beklagten verurteilt, Pflegezulage nach Stufe I ab 1. Dezember 1962 zu leisten. Es hat sich hierbei auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 24. April 1963 (BVBl 1963, 95) berufen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen mit Urteil vom 18. Juni 1964 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Nach der Rechtsprechung (BSG 8, 99; 12, 24) bedürfe ein einseitig Armamputierter für die gewöhnlichen und regelmäßigen Verrichtungen des täglichen Lebens nicht dauernd in erheblichem Umfange fremder Hilfe. Die Verabreichung von zwei Spritzen täglich würde die erforderlichen Hilfeleistungen nicht so wesentlich erhöhen, daß dem Kläger nicht zuzumuten wäre, die Hilfe von Familienangehörigen, eines Arztes oder einer Gemeindeschwester in Anspruch zu nehmen. Die Voraussetzung des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei daher nicht gegeben.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger rechtzeitig Revision mit dem Antrag eingelegt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.
Er rügt mit der zugelassenen Revision, daß die Berufung nach § 148 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen gewesen sei, das LSG also kein Sachurteil hätte fällen dürfen. Das LSG habe ferner den Begriff der Hilflosigkeit im § 35 verkannt. Der Kläger sei durch die Zuckerkrankheit deshalb hilflos geworden, weil das zweimalige Spritzen täglich zeitlich fest einzuhalten sei, um tödliche Gefahr zu vermeiden. Die fremde Hilfe dürfe nicht zeitlich, sondern müsse nach der Dringlichkeit und Lebensnotwendigkeit bemessen werden. Eine Hilfskraft müsse daher ständig in Bereitschaft stehen, um das tägliche Spritzen sicherzustellen und um Komplikationen zu vermeiden.
Der Beklagte beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Revision des Klägers ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist jedoch nicht begründet.
Die nicht zugelassene Berufung zum LSG war nach § 148 Nr. 3 SGG nicht ausgeschlossen, weil unter dem Gesichtspunkt des BVG erstmals über die Pflegezulage entschieden wird. In einem solchen Falle ist der Instanzenzug über den Anspruch auf Pflegezulage (§ 35 BVG) nicht beschränkt (SozR § 148 Nr. 17; Urteil des BSG vom 28. Oktober 1965 - 8 RV 865/63 -).
Sachlich hängt die Entscheidung von der Auslegung des § 35 BVG ab. Da der Kläger am 12. Dezember 1961 Antrag auf Pflegezulage wegen Änderung der Verhältnisse gestellt hat, ist § 35 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) maßgebend; denn dieses Gesetz ist am 1. Juni 1960, also noch vor Antragstellung (12. Dezember 1961) in Kraft getreten. Nach § 35 BVG in dieser hier maßgebenden Fassung ist Pflegezulage zu gewähren, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er für die gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Laufe des täglichen Lebens in erheblichem Umfange fremder Hilfe dauernd bedarf. Zur Hilflosigkeit genügt es dabei zwar, wenn die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSG 12, 22). Hilflosigkeit liegt auch dann vor, wenn der Beschädigte wegen der besonderen Art seines Leidenszustandes in ständiger Lebensgefahr schwebt, so daß fremde Hilfe jederzeit bereitstehen muß, um im Bedarfsfalle eingreifen zu können. So hat das BSG in seiner Entscheidung vom 24. April 1963 (BVBl 1963 95) Hilflosigkeit anerkannt, wenn die Hilfe häufig und unvorhergesehen zu leisten ist. Diese Entscheidungen, besonders die vom 24. April 1963 betrafen jedoch einen anderen Sachverhalt. Denn die für den Kläger täglich zweimal notwendigen Insulinspritzen sind nicht unvorhergesehen, sondern zu regelmäßig wiederkehrenden Zeitpunkten am Tage zu reichen. Auch kann der Ansicht der Klägers nicht gefolgt werden, daß er deshalb als hilflos angesehen werden müsse, weil er sich ohne fremde Hilfe nicht mehr beruflich betätigen könne. Die Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG setzt voraus, daß die fremde Hilfe zur Erhaltung der bloßen Existenz dient; es kommt dabei nicht darauf an, ob eine Berufsausübung durch sie unmöglich gemacht wird oder nicht (RVG 4, 74; 6, 461). Für den Begriff der Hilflosigkeit hat der Kläger selbst (mit Recht) die Verrichtungen des täglichen Lebens wie das Lösen des Schuhriemens und das Waschen außer Betracht gelassen; er hat sich damit der Rechtsprechung angepaßt, welche wegen der zum täglichen Leben notwendigen Verrichtungen Hilflosigkeit im Sinne des Gesetzes erst dann einräumt, wenn die fremde Hilfe für eine Reihe von Verrichtungen des täglichen Lebens notwendig ist (ständige Rechtsprechung des BVG, so auch BSG 12, 20). Im vorliegenden Fall bedarf der Kläger nicht dauernd und nicht in erheblichem Umfange fremder Hilfe, sondern nur zweimal täglich und nur vorübergehend für kurze Zeiten in vorhersehbarer Weise, nämlich dann, wenn ihm Spritzen verabreicht werden.
Im übrigen aber ist er in der Ausführung der Verrichtungen des täglichen Lebens nicht beschränkt. Das LSG hat mithin ohne Rechtsirrtum verneint, daß der Kläger im Sinne des § 35 BVG hilflos sei. Bei dieser Sach- und Rechtslage mußte der Senat die Revision des Klägers als unbegründet zurückweisen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nach § 193 Abs. 1 SGG nicht zu erstatten.
Fundstellen