Entscheidungsstichwort (Thema)
Geisteskrankheit und Tbc
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Kontinuität der medizinisch-anstaltsmäßigen Betreuung erfordert die Kontinuität der finanziellen Lastenverteilung. Ein geringer Eigenbeitrag des Versicherten beeinflußt nicht die Anwendbarkeit der sich aus RVO § 1244a Abs 7 ergebenden Regelung und verändert demgemäß nicht die grundsätzliche Kostentragungspflicht des Unterbringungsträgers.
2. Der Anspruch auf stationäre Tuberkulose-Heilbehandlung gegen den Rentenversicherungsträger entfällt nach RVO § 1244a Abs 7 (AVG § 21a Abs 7), wenn der Tuberkulosekranke wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder wegen einer Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege untergebracht ist. Erfolgt die Unterbringung auf Kosten des Sozialhilfeträgers, so ist er auch für die Gewährung der stationären Tuberkulose-Heilbehandlung zuständig.
3. Eine Anstaltsunterbringung auf öffentliche Kosten liegt auch dann vor, wenn der Versicherte einen Teil der Unterbringungskosten selbst trägt.
Normenkette
RVO § 1244a Abs. 7 Fassung: 1959-07-23; AVG § 21a Abs. 7 Fassung: 1959-07-23; BSHG § 130
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beigeladenen wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 9. September 1976 insoweit aufgehoben, als die Beigeladene verurteilt worden ist.
Die Klage gegen die Beigeladene wird in vollem Umfang abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger (das Land N) fordert von der beklagten Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) - hilfsweise von der beigeladenen B ( ) - Ersatz von Aufwendungen, die er seit dem 1. Januar 1963 für die Behandlung eines an Tbc leidenden geisteskranken Mitglieds der Beklagten gemacht hat.
Der 1910 geborene Adolf S. befindet sich wegen Schizophrenie seit 1947 auf Kosten des Klägers in Anstaltspflege. 1954 wurde er wegen aktiver Lungen-Tbc in die geschlossene Tbc-Abteilung des Niedersächsischen Landeskrankenhauses L. verlegt, in der er seither laufend behandelt wird. Er erhält von der Beigeladenen seit 1943 Versichertenrente und ist bei der Beklagten als Rentner krankenversichert. Seine Rente wird in vollem Umfang für seine Unterbringung verwendet. Sie betrug im Januar 1963 103,30 DM, im März 1969 162,70 DM, im Januar 1973 244,- DM und im September 1976 429,80 DM. Der Unterbringungssatz für Geisteskranke belief sich damals in dem Landeskrankenhaus monatlich auf 288,- DM, 517,- DM, 765,70 DM und 1.305,- DM. Der Kläger forderte von der Beklagten die Übernahme seiner ab 1. Januar 1963 für S. gemachten Aufwendungen. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. Januar 1972). Im zweiten Rechtszug hat der Kläger beantragt, die Beklagte, hilfsweise die vom Landessozialgericht (LSG) beigeladene BfA zu verurteilen, seine ab 1. Januar 1963 für die Tbc-Hilfe des S. gemachten Aufwendungen im gesetzlichen Umfang zu erstatten. Das LSG hat mit Urteil vom 9. September 1976 die Berufung des Klägers zurückgewiesen und die Beigeladene dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger die seit dem 17. März 1969 für S. gemachten Tbc-Hilfeaufwendungen zu erstatten. Im übrigen hat es die Klage gegen die Beigeladene abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Der Erstattungsanspruch gegen die Beklagte scheitere daran, daß sie nicht "die verpflichtete Stelle" iS des § 59 Abs 2 Satz 2 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) sei. Zuständig für die Tbc-Hilfe sei die Beigeladene; denn S. habe in der streitigen Zeit einen wesentlichen Beitrag zu seinen Unterbringungskosten geleistet. Seine Rente habe mehr als 25 vH dieser Kosten gedeckt. Er sei deshalb nicht "auf öffentliche Kosten" iS des § 130 BSHG untergebracht gewesen. Für die Zeit vor dem 17. März 1969 sei der Anspruch gegen die Beigeladene jedoch verjährt.
Mit der - zugelassenen - Revision rügt die Beigeladene Verletzung des § 21 a des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) und des § 130 BSHG. Sie hält sich nicht für verpflichtet, für die Tbc-Behandlung des S. aufzukommen, weil dieser entgegen der Auffassung des LSG auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege untergebracht sei.
Die Beigeladene beantragt (sinngemäß),
das angefochtene Urteil zu ändern und die gegen sie gerichtete Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger und die Beklagte beantragen,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beigeladenen ist begründet. Dem Kläger steht kein Erstattungsanspruch zu. Weder die beklagte AOK noch die beigeladene BfA haben ihm die für die stationäre Tbc-Behandlung des S. aufgewandten Kosten zu erstatten.
Der im Zuge der Neuordnung der Tbc-Bekämpfung 1959 in das AVG eingefügte § 21 a (= § 1244 a der Reichsversicherungsordnung - RVO -; vgl. § 31 Nr. 1 Buchst. a des Gesetzes über die Tbc-Hilfe - THG - vom 23. Juli 1959; BGBl I 513) enthält in seinem 3. Absatz eine Zuständigkeitsregelung im Sinne einer Arbeitsteilung zwischen den Sozialversicherungsträgern dergestalt, daß - falls der Tbc-Kranke sowohl kranken- als auch rentenversichert ist - der Träger der sozialen Krankenversicherung die ambulante, der Rentenversicherungsträger dagegen die stationäre Tbc-Heilbehandlung zu gewähren hat (BSGE 29, 87, 89 = SozR Nr. 11 zu § 1244 a RVO; BSGE 31, 122, 124; BSG Urteil vom 29. September 1976 - 3 RK 76/74 -). Ein nach dieser Zuständigkeitsregelung gegen den Rentenversicherungsträger gegebener Anspruch auf Gewährung der stationären Heilbehandlung entfällt jedoch nach § 21 a Abs. 7 Satz 3 AVG iVm § 130 BSHG, wenn der Tbc-Kranke wegen Geisteskrankheit, Geistesschwäche, Epilepsie oder wegen einer Suchtkrankheit auf öffentliche Kosten in Anstaltspflege untergebracht ist (BSGE 27, 280 = SozR Nr. 8 zu § 1244 a RVO; BSG SozR Nrn. 14, 34, 36 zu § 1244 a RVO). Diese Ausnahmeregelung ändert die grundlegende Zuständigkeitsregelung aber nicht zu Lasten der Krankenversicherung (BSG Urteil vom 29. September 1976 - 3 RK 25/75 -). Der Rentenversicherungsträger wird vielmehr von seiner Verpflichtung zur Tbc-Bekämpfung lediglich zu Lasten des für die Anstaltsunterbringung zuständigen öffentlichen Kostenträgers befreit. Diese Folge rechtfertigt sich einmal daraus, daß im Rahmen der Tbc-Bekämpfung die Betreuung des Kranken stets in einer Hand liegen soll, weshalb zur Vermeidung von Kostenstreitigkeiten auch nur ein Kostenträger für sie in Betracht kommen kann (vgl. Begründung zu § 24 des Regierungsentwurfs eines THG, BT-Drucks. III 349, S. 19). Zum anderen handelt es sich bei den für die Tbc-Bekämpfung insgesamt aufzuwendenden Kosten letztlich immer um Gelder, deren Aufbringung an sich nicht zu den eigentlichen Aufgaben der sozialen Rentenversicherung gehört, die vielmehr im Rahmen der Volksseuchenbekämpfung von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt werden müssen.
Diese Regelung für die Fälle der Unterbringung Tbc-Kranker in Anstaltspflege gilt nicht nur, wenn der Kranke ausschließlich auf öffentliche Kosten untergebracht ist. Wendet der Versicherte Eigenmittel auf, erfordert seine Unterbringung jedoch zusätzlich den Einsatz öffentlicher Mittel, so müssen dieselben Grundsätze gelten. Es kann dahinstehen, ob die Aufgaben- und Kostenverteilung nach § 21 a Abs. 7 Satz 3 AVG dann keine Anwendung findet, wenn der Untergebrachte die Kosten der Anstaltspflege in vollem Umfang selbst trägt (vgl. BSG SozR Nr. 8 zu § 1244 a RVO); ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Der Eigenanteil des Versicherten - zunächst 103,30 DM und schließlich 429,80 DM - an den Unterbringungskosten von monatlich 288,- DM bzw. 1.305,- DM war zu gering, als daß S. einem Selbstzahler gleichzustellen wäre. Dieser Eigenbeitrag vermag deshalb nichts an der Anwendbarkeit der Regelung, die § 21 a Abs. 7 Satz 3 AVG vorschreibt, zu ändern. Bereits die Anstaltsunterbringung - vor der Tbc-Behandlung - hatte im Verantwortungsbereich des Sozialhilfeträgers gelegen und war von ihm im wesentlichen auf öffentliche Kosten durchgeführt worden. Auch nach dem Hinzutreten der Tbc-Erkrankung hat die weitere Betreuung dem Sozialhilfeträger obgelegen. Für diese - kombinierte - Unterbringung und Tbc-Behandlung müssen schon nach den Grundsätzen, wie sie der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) in einem Urteil vom 30. Juli 1975 (BSGE 40, 115, 116) entwickelt hat, dieselben Finanzierungsgrundsätze gelten wie zuvor für die Unterbringung. Der 4. Senat hat darauf hingewiesen, daß der Wegfall des Heilbehandlungsanspruchs eines Tbc-Kranken gegen den Rentenversicherungsträger in den Fällen des § 1244 a Abs. 7 Satz 3 RVO (= § 21 a Abs. 7 Satz 3 AVG) dadurch begründet ist, daß der Rentenversicherungsträger bei Unterbringung in Anstaltspflege sein Recht und seine Pflicht nach Abs. 5 des § 1244 a RVO, über Art und Maß seiner Leistungen nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, nicht ausüben kann. Da jeder Träger regelmäßig für die Kosten der von ihm eingeleiteten und durchgeführten Maßnahmen einstehen soll, besteht keine Veranlassung, die Finanzierung einer kombinierten Unterbringung und Behandlung nach anderen Grundsätzen zu gestalten.
Wie der erkennende Senat bereits in zwei Urteilen vom 14. Dezember 1976 (3 RK 30/76 und 3 RK 74/75) dargelegt hat, besteht bei einer derartigen kombinierten Unterbringung und Behandlung kein rechtlicher Grund dafür, daß der Rentenversicherungsträger die nicht differenzierten und auch nicht differenzierbaren Kosten der Kombinationsbehandlung übernimmt, obwohl er auf die Betreuung des an Tbc leidenden Geisteskranken weiterhin keinen Einfluß hat. Der Sozialhilfeträger würde andernfalls für die gesamte Betreuung (auch die medizinische) des Geisteskranken verantwortlich bleiben, er wäre aber von der Kostenpflicht freigestellt. Der Versicherte seinerseits, der zu den Kosten der Unterbringung bisher seine Rente beigesteuert hat, würde diesen Betrag ausgezahlt erhalten, obwohl seine Unterbringung fortbesteht. Eine solche völlige Veränderung der wirtschaftlichen Position aller Beteiligten entspräche nicht den vom 4. Senat aaO entwickelten Grundsätzen, denen auch der erkennende Senat nach eigener Prüfung folgt. - Der Hinweis des 4. Senats in seinem Urteil vom 27. Januar 1972 (vgl. SozR Nr. 25 zu § 1244 a RVO) verliert demgegenüber seine Bedeutung, zumal dieser Senat in einem gleichgelagerten Fall in demselben Sinn wie der erkennende Senat entschieden hat (vgl. SozR Nr. 12 zu § 1244 a RVO). - Sie ließe sich auch nicht aus den sachlichen Gegebenheiten begründen. Vielmehr erfordert die Kontinuität der medizinisch-anstaltsmäßigen Betreuung gleicherweise die Kontinuität der finanziellen Lastenverteilung. Demgemäß beeinflußt der verhältnismäßig geringe Eigenbeitrag des Versicherten nicht die Anwendbarkeit der sich aus § 21 a Abs. 7 Satz 3 AVG ergebenden Regelung; er verändert nicht die grundsätzliche Kostentragungspflicht des Unterbringungsträgers, hier also des Klägers.
Nach alledem ist der Kläger der für diese Unterbringung zuständige Kostenträger. Er war deshalb verpflichtet, dem an einer Geisteskrankheit leidenden S. die Tbc-Heilbehandlung auf seine Kosten zu gewähren und kann daher weder von der beklagten A noch von der beigeladenen B Ersatz fordern. Auf die Revision der Beigeladenen muß deshalb das angefochtene Urteil insoweit aufgehoben werden, als die Beigeladene verurteilt worden ist, und die Klage gegen die Beigeladene ist in vollem Umfang abzuweisen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen