Leitsatz (amtlich)

Für die Befreiung eines Rentenbewerbers von der Formalmitgliedschaft in der KV reichen Leistungen eines Krankenversicherungsunternehmens aus, die ihrer Art nach - nicht auch ihrer Höhe nach - der Krankenhilfe entsprechen.

 

Leitsatz (redaktionell)

Befreiung nach RVO § 173a:

1. Für die Befreiung eines Rentenbewerbers von der Formalmitgliedschaft in der KVdR ist nach RVO § 173a Abs 1 S 1 nicht erforderlich, daß der Rentenbewerber bei einem privaten Versicherungsunternehmen selbst als Versicherungsnehmer versichert sein und eine Vollversicherung bestehen muß. Ist ein Versicherungsvertrag der Art nach eine Vollversicherung, obwohl die Krankheitsaufwendungen tarifmäßig nur zu 40 vH erstattet werden, weil der Rentenbewerber als öffentlich-rechtlich Bediensteter eine Beihilfe in Anspruch nimmt, so ist davon auszugehen, daß diesen eigenen Leistungsanspruch gegenüber dem Krankenversicherungsunternehmen auch der Familienangehörige des Versicherungsnehmers hat, so daß die Voraussetzungen nach RVO § 173a Abs 1 S 1 erfüllt sind.

2. Unentschieden bleibt, welche rechtliche Bedeutung die nachträgliche rückwirkende Vertragstrennung hat, wonach nunmehr der Rentenantragsteller selbst Versicherungsnehmer ist.

3. Dem Erfordernis des "bestimmten Antrags" in SGG § 164 Abs 2 S 3 genügt es, wenn die Revisionsbegründung erkennen läßt, welches prozessuale Ziel der Revisionskläger erreichen will (Anschluß an BSG 1977-04-26 8 RU 14/77, BVerwG 1954-11-08 1.54/V C 61/54 = BVerwGE 1, 222).

 

Normenkette

RVO § 173a Abs. 1 S. 1 Fassung: 1967-12-21, § 315a Abs. 1 Fassung: 1967-12-21; SGG § 164 Abs. 2 S. 3

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Entscheidung vom 14.01.1976; Aktenzeichen L 4 Kr 60/74)

SG Bayreuth (Entscheidung vom 27.06.1974; Aktenzeichen S 2 Kr 20/73)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 14. Januar 1976 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin auch deren außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, die Klägerin von der Formalmitgliedschaft eines Rentenbewerbers nach §§ 315 a Abs. 1, 173 a der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu befreien.

Die Klägerin, Ehefrau eines pensionierten Beamten, beantragte am 25. Februar 1972 bei der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), ihr Rente zu gewähren. Die BfA lehnte den Rentenantrag der Klägerin ab; die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil im Rentenstreit nahm die Klägerin am 11. Oktober 1974 zurück. Am 20. März 1972 beantragte die Klägerin bei der Beklagten, deren Mitglied sie als Pflichtversicherte bis 30. Juni 1963 gewesen war, sie von der Formalversicherung eines Rentenbewerbers zu befreien, da sie und die minderjährigen Kinder Michael und Georg durch den Ehemann als Versicherungsnehmer bei der von der Bayerischen Versicherungskammer verwalteten Bayerischen Beamten-Krankenkasse (BKK) gegen Krankheit versichert seien. Die Klägerin hatte ebenso wie die Familienangehörigen einen eigenen vertragsmäßigen Leistungsanspruch nach Tarif 40 (Krankenkostenversicherung mit Prozentvergütung) und nach Zusatztarif 32 (Krankenhaus- und Operationskosten-Zusatzversicherung). Die BKK erstattet nach Tarif 40 40 v.H. der anfallenden Rechnungen; wegen der weiteren 60 v.H. wurde Beihilfe in Anspruch genommen.

Die Beklagte lehnte es ab, die Klägerin von der Formalversicherung eines Rentenbewerbers zu befreien, weil sie zur Zeit des Rentenantrags nicht selbst, sondern nur als Familienangehörige bei einem privaten Versicherungsunternehmen mitversichert sei und bei einem Tarif mit einer Kostenerstattung von 40 v.H. und einer Zusatzversicherung keine Vollversicherung bestehe (Bescheid vom 30. November 1972).

Während des Widerspruchsverfahrens schloß die Klägerin am 7. Februar 1973 für sich und die beiden Kinder mit der BKK zu den bisherigen Bedingungen rückwirkend ab 1. Januar 1972 einen Versicherungsvertrag. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 1973). Das Sozialgericht (SG) Bayreuth verpflichtete die Beklagte, die Klägerin von der Versicherungspflicht in der Krankenversicherung der Rentner zu befreien (Urteil vom 27. Juni 1974). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 14. Januar 1976).

Die Beklagte hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Sie rügt eine Verletzung des § 173 a RVO.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist unbegründet. Sie ist zurückzuweisen.

Wenn auch weder die Revisionsschrift noch die Revisionsbegründungsschrift einen förmlichen Antrag enthalten, wird damit gleichwohl dem Erfordernis des § 164 Abs. 2 Satz 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) genügt, wonach die Begründung u.a. einen bestimmten Antrag enthalten muß. Der 8. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) läßt es im Urteil vom 26. April 1977 - 8 RU 14/77 - (zur Veröffentlichung bestimmt) für den "bestimmten Antrag" genügen, wenn die Revisionsbegründung erkennen läßt, welches prozessuale Ziel der Revisionskläger erreichen will. Damit folgt der 8. Senat des BSG dem inhaltsgleichen Beschluß des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts vom 8. November 1954 - Gr. Sen. 1.54/V C 61/54 - (BVerwGE 1, 222,), mit dem unter Hinweis auf RGZ 125, 33 einer inhaltslosen Förmlichkeit beim bestimmten Antrag eine Absage erteilt wurde. Der erkennende Senat schließt sich der erwähnten Rechtsprechung des 8. Senats des BSG nach eigener Prüfung an.

Im hier zu entscheidenden Fall hat die Beklagte mit hinreichender Deutlichkeit in der Revisionsbegründung dargetan, daß sie die Aufhebung des angefochtenen Berufungsurteils erstrebt. Sie widerspricht nämlich in ihrer Revisionsbegründung dem Ergebnis und der Begründung des Urteils des LSG; sie vertritt nach wie vor die von den beiden Vorinstanzen abgelehnte Auffassung, daß die Klägerin nicht von der Formalmitgliedschaft eines Rentenbewerbers zu befreien ist. Damit hat sie einen bestimmten Antrag nach § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG gestellt.

Die Beklagte war verpflichtet, die Klägerin als Rentenbewerberin antragsgemäß nach §§ 315 a Abs. 1 Satz 2, 173 a RVO von der Mitgliedschaft bei der Beklagten während des Rentenverfahrens zu befreien. Die Klägerin war Formalversicherte geworden, als sie bei der BfA Rente beantragt hatte; sie blieb es bis zur endgültigen Ablehnung der Rente (§ 315 a Abs. 2 RVO). Als Rentenbewerberin war sie berechtigt, bei der Beklagten zu beantragen, sie von der Mitgliedschaft bei der Beklagten unter den Voraussetzungen des § 173 a RVO zu befreien (§ 315 a Abs. 1 Satz 2 RVO). Der entsprechend anzuwendende § 173 a Abs. 1 Satz 1 RVO räumt demjenigen auf Antrag die Befreiung von der Mitgliedschaft als Formalversicherter ein, der "bei einem Krankenversicherungsunternehmen versichert ist und für sich und seine Angehörigen, für die ihm Familienkrankenpflege zusteht, Vertragsleistungen erhält, die der Art nach den Leistungen der Krankenhilfe entsprechen". Diese Voraussetzungen waren erfüllt, als die Klägerin am 25. Februar 1972 Rente bei der BfA beantragte. Wie die Beklagte nunmehr selbst zugibt, reicht es für den Befreiungsantrag aus, wenn der Rentenbewerber gegen das Krankenversicherungsunternehmen einen eigenen Anspruch auf Leistungen hat (BSG SozR Nr. 27 zu § 381 RVO; 12. Senat, Urteil vom 23. Februar 1977 - 12 RK 26/76 -, zur Veröffentlichung bestimmt). Einen solchen der Klägerin zustehenden Anspruch hat das LSG bindend (§ 163 SGG) festgestellt. Dabei hat sich das LSG auf das Schreiben der Bayerischen Versicherungskammer/BKK vom 7. Juni 1974 bezogen. Darin ist bestätigt worden, daß zwar der Ehemann der Klägerin nur aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung förmlich Versicherungsnehmer war, die Klägerin jedoch selbst Anspruch auf Leistungen hatte. Bei dieser eindeutigen Sach- und Rechtslage kann es weiterhin unentschieden bleiben, welche rechtliche Bedeutung die nachträgliche rückwirkende Vertragstrennung hat, wonach nunmehr die Klägerin selbst Versicherungsnehmerin ist.

Die Beklagte sieht sich gehindert, dem Befreiungsanspruch zu entsprechen, weil sie bei dem mit der BKK geschlossenen Versicherungsvertrag eine Vollversicherung mit annähernd voller Kostendeckung vermißt. Damit vermag die Beklagte nicht durchzudringen.

Das LSG hat festgestellt, daß die Klägerin von der BKK Vertragsleistungen erhielt, die der Art nach den Leistungen der Krankenhilfe entsprechen. Im Tarif 40 werden Versicherungsleistungen für ambulante ärztliche und zahnärztliche Behandlung, stationäre Behandlung, Versorgung mit Arzneien und Hilfsmitteln gewährt. Ferner hatte die Klägerin nach Zusatztarif 32 Anspruch auf Krankenhausund Operationskosten. Wenn auch auf Grund des Tarifs nur eine Kostendeckung von 40 v.H. der anfallenden Aufwendungen besteht, reicht das doch entgegen der Auffassung der Beklagten aus, um die Befreiungsvoraussetzungen zu erfüllen. Der 3. Senat des BSG hat bereits zum Anspruch auf den Beitragszuschuß für versicherte Rentner nach § 381 Abs. 4 RVO ausgesprochen, daß Versicherte bei einem privaten Versicherungsunternehmen etwa den gleichen Versicherungsschutz haben müssen wie in der gesetzlichen Krankenversicherung freiwillig versicherte Rentner; das soll durch eine sog. Vollversicherung mit Versicherungsschutz für ambulante und stationäre Behandlung geschehen, wobei hinzunehmen ist, daß in der Regel in der privaten Krankenversicherung keine volle Kostendeckung besteht (BSGE 23, 42, 43 = SozR, aaO, Nr. 6 zu § 381 RVO; BSGE 27, 129, 131 = SozR, aaO, Nr. 15 zu § 381 RVO; vgl. ferner BSGE 35, 15, 18 = SozR, aaO, Nr. 32). Der erkennende Senat hat keine Bedenken, diese Grundsätze auch auf Befreiungsanträge nach § 173 a RVO anzuwenden. Demnach reicht es aus, daß die Leistungen der privaten Krankenversicherung ihrer Art, nicht aber auch ihrer Höhe nach, wie dies die Beklagte meint, der Krankenhilfe entsprechen (Peters, Handbuch der Krankenversicherung, § 173 a, Anm. 3; Krauskopf, Soziale Krankenversicherung, 2. Aufl. 1976, § 173 a, Anm. 1; Jantz, KVdR, 2. Aufl., § 173 a Anm. 3; Jünehmann, Beiträge, 1968, 113, 135, 137). Damit ist zugleich festgestellt, daß Teilversicherungen bei privaten Versicherungsunternehmen, z.B. Krankenhauskosten- oder Krankenhaustagegeldversicherungen, allein keinen Befreiungsantrag begründen können (vgl. für den Beitragszuschuß nach § 381 Abs. 4 RVO: BSGE 23, 42 = SozR, aaO, Nr. 6 zu § 381 RVO).

Der Senat sieht sich insbesondere auch noch auf Grund folgender Erwägung außerstande, der Auslegung der Beklagten zu folgen, die bei einer Erstattung der Krankheitsaufwendungen durch ein Krankenversicherungsunternehmen bis mindestens 50 v.H. noch Vertragsleistungen annehmen will, "die der Art nach den Leistungen der Krankenhilfe entsprechen" (§ 173 a Abs. 1 Satz 1 RVO), eine unter diesem Vomhundertsatz liegende Erstattung aber, weil in der Höhe der Erstattung unzureichend, nicht mehr als Grundlage für eine Befreiung von der Formalversicherung eines Rentenbewerbers gelten lassen möchte. Eine solche Auslegung findet schon im Wortlaut des § 173 a Abs. 1 Satz 1 RVO keine Stütze. In dieser Vorschrift ist lediglich von der Art der Vertragsleistungen die Rede. Zur Höhe der Vertragsleistungen sagt § 173 a Abs. 1 Satz 1 RVO nichts. Entscheidend aber ist, daß es nach Sinn und Zweck dieser Vorschrift als Befreiungsvoraussetzung genügen soll, daß der Rentenbewerber vom Krankenversicherungsunternehmen solche Vertragsleistungen erhält, die der Art nach den Leistungen der Krankenhilfe entsprechen. Das Gesetz verlangt also von dem jeweiligen Krankenversicherungsträger bei einem Befreiungsantrag eine Prüfung dahin, ob eine sog. Vollversicherung i.S. der oben genannten Rechtsprechung des BSG besteht. Es wird ihm aber nicht die weitere Prüfung auferlegt, in welcher Höhe die jeweiligen Krankheitsaufwendungen von dem Krankenversicherungsunternehmen erstattet werden. Im vorliegenden Fall könnte zwar eine solche Prüfung ohne weiteres vorgenommen werden, weil das Tarifwerk der BKK die Erstattung allein in Vomhundertsätzen der Krankheitsaufwendungen vorsieht. Diese Erstattungsberechnung gilt aber nicht in allen Tarifen, die von der privaten Krankenversicherung angeboten und angewendet zu werden pflegen. Dort werden nämlich unterschiedliche Erstattungen vorgenommen, z.B. durch feste Sätze für bestimmte ärztliche Leistungen, jährliche Höchstbeträge für Sonderleistungen sowie Selbstbeteiligungen. Würde man dem Gedanken der Beklagten nach einer festen Grenze durch einen Vomhundertsatz von 50 folgen, wäre der Krankenversicherungsträger bei einem Befreiungsantrag gehalten, die unterschiedlichen Tarifwerke der privaten Krankenversicherung durch Vergleichsberechnungen auf Vomhundertsätze umzurechnen. Das würde notwendigerweise schwierige und zeitraubende Verwaltungsarbeit verursachen, die in Streitfällen ohne die Heranziehung besonderer Sachverständiger nicht zu bewältigen wäre. All dies wird durch § 173 a Abs. 1 Satz 1 RVO vermieden. Die Krankenversicherungsträger haben also bei Befreiungsanträgen nach § 173 a Abs. 1 Satz 1 RVO ihr Augenmerk nur darauf zu richten, ob der private Krankenversicherungsvertrag eine Vollversicherung bietet. Dabei haben sie solche Vertragsgestaltungen hinzunehmen, wie sie von der privaten Krankenversicherung auf Grund der Tarifwerke allgemein angeboten werden.

Soweit die Beklagte geltend macht, die BKK gewähre der Klägerin vertragsgemäß keine Rehabilitationsmaßnahmen, während solche nach dem Inkrafttreten des Rehabilitationsangleichungsgesetzes in der gesetzlichen Krankenversicherung zu den Regelleistungen gehören, kann die Beklagte damit nicht gehört werden. Als die Klägerin am 20. März 1972 ihren Befreiungsantrag stellte, war das Rehabilitationsangleichungsgesetz noch nicht in Kraft; es ist erst am 1. Oktober 1974 in Kraft getreten (§ 45 Abs. 1 Rehabilitationsangleichungsgesetz).

Unerheblich ist schließlich, daß im vorliegenden Fall der von der BKK nicht erstattete Teil der Krankheitsaufwendungen durch die dem Ehemann der Klägerin gewährte Beihilfe gedeckt wurde. Abgesehen davon, daß hier die Klägerin keinen eigenen Beihilfeanspruch hat, sondern nur ihr Ehemann, sind Beihilfeleistungen keine Vertragsleistungen eines privaten Krankenversicherungsunternehmens. Sie bieten also keine tragfähige Grundlage für einen Befreiungsantrag. Etwas anderes gilt nur bei einer umfassenden und uneingeschränkten Heilfürsorge (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 2. September 1977 - 12/3 RK 58/75 -, zur Veröffentlichung bestimmt).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650340

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