Entscheidungsstichwort (Thema)
Rentenbewerber
Leitsatz (amtlich)
Auch der Rentenbewerber, der als Polizeibeamter des Landes Baden-Württemberg Anspruch auf Heilfürsorge in vollem Umfang hat, ist von der Formalmitgliedschaft in der KV zu befreien.
Leitsatz (redaktionell)
Der Gesetzgeber hat ersichtlich den Fall der vollen Absicherung von Krankheitsaufwendungen durch staatliche Heilfürsorge (hier: für Polizeibeamte) nicht gesehen und daher nicht geregelt. Insoweit ist die Vorschrift des RVO § 173a Abs 1 ungewollt und planwidrig lückenhaft. Die Rechtsprechung ist daher befugt, diese Lücke in RVO § 173a Abs 1 S 1 im Wege der Analogie dahin zu schließen, daß auch dann ein Rentenbewerber (Rentner) berechtigt ist, die Befreiung zu beantragen, wenn ihm die Heilfürsorge im vollen Umfang gewährleistet wird.
Normenkette
RVO § 315a Abs. 1 S. 1 Fassung: 1967-12-21, § 173a Abs. 1 Fassung: 1967-12-21; BG BW Fassung: 1971-05-27
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 23. Mai 1975 und des Sozialgerichts Stuttgart vom 4. April 1974 sowie der Bescheid der Beklagten vom 8. August 1972 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 1972 aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten der drei Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger von der Formalmitgliedschaft eines Rentenbewerbers nach §§ 315a Abs. 1, 173a der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu befreien ist.
Der Kläger ist Polizeibeamter des Landes Baden-Württemberg. Am 21. Januar 1972 beantragte er Witwerrente aus der Angestelltenversicherung seiner Ehefrau. Bei der Beklagten beantragte er am 24. Januar 1972, ihn von der Formalmitgliedschaft eines Rentenbewerbers zu befreien; als Polizeibeamter des Landes Baden-Württemberg habe er Anspruch auf freie Heilfürsorge. Die Beklagte lehnte dies ab, da der Anspruch auf freie Heilfürsorge nicht einem privaten Krankenversicherungsvertrag gleichzusetzen sei (Bescheid vom 8. August 1972). Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 16. Oktober 1972). Während des Klageverfahrens lehnte die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) mit Bescheid vom 26. Juni 1973 den Witwerrentenantrag des Klägers ab. Die gegen den die Befreiung ablehnenden Bescheid erhobene Klage wies das Sozialgericht (SG) Stuttgart ab (Urteil vom 4. April 1974). Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat die Revision zugelassen (Urteil vom 23. Mai 1975).
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung der §§ 165 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 6, 173a, 315a, 381 Abs. 3 Satz 1 RVO.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Urteile des LSG und des SG sowie den Bescheid der Beklagten vom 8. August 1972 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 1972 aufzuheben und festzustellen, daß er vom 21. Januar 1972 bis zum Ende des Monats, in dem der Ablehnungsbescheid der BfA vom 26. Juni 1973 endgültig geworden ist, versicherungsfrei, zumindest aber beitragsfrei in der Krankenversicherung der Rentner gewesen ist.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil gemäß § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) entscheidet.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist begründet. Die Urteile des LSG und des SG sowie der Bescheid der Beklagten in der Gestalt des Widerspruchsbescheids sind aufzuheben.
Das LSG hat den Kläger deshalb nicht von der Formalmitgliedschaft eines Rentenbewerbers in der gesetzlichen Krankenversicherung nach §§ 315a Abs. 1, 173a RVO befreit, weil es für das Befreiungsbegehren des Klägers keine Rechtsgrundlage gesehen hat. Der Kläger hat seinen Befreiungsantrag im wesentlichen damit begründet, als Polizeibeamter des Landes Baden-Württemberg erhalte er nach § 197 des Landesbeamtengesetzes des Landes Baden-Württemberg idF vom 27. Mai 1971 (GBl S. 225) iVm der Verordnung des Innenministeriums über Art, Umfang und Trägerschaft der Heilfürsorge für Polizeibeamte (Heilfürsorge-Verordnung) vom 10. März 1960 (GBl S. 101), der Verordnung des Innenministeriums zur Änderung der Verordnung über Art, Umfang und Trägerschaft der Heilfürsorge für Polizeibeamte (Heilfürsorge-Verordnung) vom 22. März 1971 (GBl S. 153) und der Zweiten Verordnung zur Änderung der Verordnung über Art, Umfang und Trägerschaft der Heilfürsorge für Polizeibeamte (Heilfürsorge-Verordnung) vom 6. Februar 1973 (GBl S. 46) Heilfürsorge, solange ihm Dienstbezüge oder Unterhaltszuschuß zustünden. Die ihm gewährte freie Heilfürsorge, der er sich nicht entziehen könne, umfasse in vollem Umfang ärztliche und fachärztliche Beratung und Behandlung, zahnärztliche Behandlung, Krankenhausbehandlung, Versorgung mit Arzneimitteln, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, Kuren und vorbeugende ärztliche Maßnahmen. Diese umfassende staatliche Heilfürsorge sei zwar keine Versicherung eines privaten Krankenversicherungsunternehmens, müsse aber dieser Sicherungsform gleichgeachtet werden.
In der Tat läßt sich der Befreiungsantrag des Klägers aus den entsprechenden gesetzlichen Vorschriften der §§ 315a Abs. 1, 173a RVO nicht rechtfertigen. Nach § 173a RVO, der nach Satz 2 des § 315a Abs. 1 RVO entsprechend gilt, wird "auf Antrag von der Versicherungspflicht nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 befreit", "wer bei einem Krankenversicherungsunternehmen versichert ist und für sich und seine Angehörigen, für die ihm Familienkrankenpflege zusteht, Vertragsleistungen erhält, die der Art nach den Leistungen der Krankenhilfe entsprechen" (Abs. 1 Satz 1 aaO). Die Heilfürsorge ist, wie auch der Kläger einräumt, keine Versicherung bei einem Krankenversicherungsunternehmen. Indes ist die Lösung des Falles nicht über eine Auslegung des § 173a Abs. 1 Satz 1 RVO zu gewinnen. Sie läßt sich nur auf folgendem Wege finden:
In § 173a Abs. 1 RVO ist nicht der Fall geregelt, daß der Rentenbewerber (Rentner) sich deshalb auf Antrag von der Versicherungspflicht befreien lassen kann, weil ihm Heilfürsorge in voller Höhe seiner Krankheitsaufwendungen zusteht. Sinn und Zweck der Befreiungsregelung ist es, eine Doppelsicherung für solche Rentenbewerber (Rentner) zu vermeiden, die bereits durch eine sog. Vollversicherung in der privaten Krankenversicherung (vgl. BSGE 23, 42, 43 = SozR Nr. 6 zu § 381 RVO; BSGE 35, 15, 18 = SozR aaO Nr. 32; Urteil des erkennenden Senats vom 2. September 1977 - 12 RK 10/76 -, zur Veröffentlichung bestimmt) einen ausreichenden Versicherungsschutz haben (vgl. Peters, Handbuch der Krankenversicherung, Bd. II 1, § 173a, Anm. 1). Derselbe Sinn und Zweck der Vermeidung einer Doppelsicherung ist aber auch dann zu berücksichtigen, wenn die staatliche Heilfürsorge regelmäßig die vollen Krankheitsaufwendungen - nicht aber, um dies klarzustellen, lediglich Teile davon durch Beihilfen - abdeckt. Der Gesetzgeber hat ersichtlich den Fall der vollen Absicherung von Krankheitsaufwendungen durch staatliche Heilfürsorge nicht gesehen und daher nicht geregelt. Insoweit ist die Vorschrift des § 173a Abs. 1 RVO ungewollt und planwidrig lückenhaft. Der Senat ist daher befugt, diese Lücke in § 173a Abs. 1 Satz 1 RVO im Wege der Analogie dahin zu schließen, daß auch dann ein Rentenbewerber (Rentner) berechtigt ist, die Befreiung zu beantragen, wenn ihm die Heilfürsorge in vollem Umfang gewährleistet ist.
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze hätte die Beklagte den Kläger auf seinen Antrag hin von der Formalmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung befreien müssen. Der Bescheid der Beklagten vom 8. August 1972 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Oktober 1972 ist daher rechtswidrig und aufzuheben. Die Beklagte wird die Befreiung nachträglich für die Dauer des Rentenverfahrens (21. Februar 1972 bis zur endgültigen Ablehnung der Witwerrente auf Grund des Bescheids der BfA vom 26. Juni 1973) auszusprechen haben.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen