Beteiligte
Verwaltungs-Berufsgenossenschaft |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. September 1998 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten wegen der Gewährung von Verletztenrente; umstritten ist insbesondere, ob die durch die Unfallfolgen bedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers wegen einer besonderen beruflichen Betroffenheit gemäß § 581 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zu erhöhen ist.
Der im Jahre 1960 geborene Kläger ist ausgebildeter Tänzer und Sänger. Er trat seit dem Jahre 1978 als Solotänzer in klassischen Ballett-, teilweise auch in Musicalproduktionen auf. Von Oktober 1987 bis Oktober 1989 und seit März 1991 arbeitete er bei der S. GmbH als Schauspieler, Tänzer und Sänger in dem Musical „ ”. Dabei erzielte er zuletzt in der Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 30. April 1992 einen Bruttoverdienst von 35.474,00 DM, also ca 8.868,50 DM monatlich. Am 30. April 1992 erlitt der Kläger einen Arbeitsunfall, bei dem er sich eine – zunächst unzutreffend als Distorsion diagnostizierte – Außenbandruptur am linken Sprunggelenk zuzog. In der Folgezeit war er fortlaufend arbeitsunfähig krankgeschrieben. Nachdem schließlich der leitende Arzt des Reha-Zentrums C. Dr. L. in seinem Bericht vom 2. Oktober 1992 prognostiziert hatte, durch eine weitere Therapie werde sich keine durchgreifende Besserung des funktionellen Befundes erreichen lassen und der Kläger werde nicht mehr als Ballettänzer arbeiten können, leitete die Beklagte ein Berufshilfeverfahren ein. Hierbei äußerte der Kläger, dessen Ehefrau eine Ballettschule leitet, den Wunsch nach einer Umschulung zum Tanz- bzw Ballettpädagogen oder zum Sport- bzw Tanztherapeuten, weil er seit seinem 6. Lebensjahr tanze und seine Zukunft in diesem Berufszweig sehe. Daraufhin gewährte ihm die Beklagte eine Ausbildung zum Ballettpädagogen, die der Kläger im Dezember 1994 erfolgreich abschloß. Danach war er zunächst als Ballettdozent an verschiedenen Tanzschulen tätig, wobei sich seine Einkünfte auf monatlich zwischen 1.440,00 DM und 1.920,00 DM brutto beliefen. Seit dem Jahre 1996 arbeitete er auch als Trainingsleiter für die Balletttruppe des Stadttheaters L., woraus er neben dem Verdienst aus der Tätigkeit bei der „S. ” ein Bruttoentgelt von insgesamt 6.992,00 DM erzielte. In der ersten Hälfte des Jahres 1997 schließlich betrugen seine Einkünfte 450,00 DM als Entgelt für Trainingsstunden, 6.992,00 DM aus der Tätigkeit für das Stadttheater L. und 4.280,00 DM aus der Arbeit für die „S. ”.
Nach Einholung eines Rentengutachtens des Arztes für Orthopädie Dr. V. vom 9. Februar 1995 lehnte die Beklagte die Gewährung von Verletztenrente durch Bescheid vom 21. März 1995 ab, weil die MdE für die Unfallfolgen nach dem Wegfall der Arbeitsunfähigkeit nur 10 vH betrage. Eine unbillige Härte bei der Bemessung der MdE liege nicht vor, da der Kläger aufgrund der erfolgreich abgeschlossenen beruflichen Rehabilitation seine spezielle Fähigkeit des Tanzens weiterhin im Rahmen einer beruflichen Tätigkeit ausüben könne. Widerspruch, Klage und Berufung waren erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 27. Juli 1995, Urteile des Sozialgerichts Lüneburg vom 17. September 1996 und des Landessozialgerichts Niedersachsen ≪LSG≫ vom 17. September 1998).
Das LSG hat seine Entscheidung im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt: Die Unfallfolgen hätten keine MdE in rentenberechtigendem Grade hinterlassen. Es könne dahinstehen, ob die im Bescheid vom 21. März 1995 anerkannten Verletzungsfolgen heute noch in diesem Ausmaß vorlägen, woran im Hinblick auf die gutachterlichen Feststellungen des Chirurgen Dr. H. vom 12. September 1996 Zweifel bestünden. Entscheidend sei, daß bereits der von dem Chirurgen M. Ende August 1992 erhobene Befund nicht zur Bewilligung von Verletztenrente habe führen können. Die von Dr. V. trotz sogar geringfügig ungünstigerer Funktionsbefunde vorgeschlagene MdE von 10 vH sei nicht zu beanstanden. Sie entspreche den allgemeinen unfallmedizinischen Erfahrungssätzen, die von einem MdE-Wert um 20 vH erst bei einer – hier nicht gegebenen – Versteifung des oberen und des unteren Sprunggelenks ausgingen.
Die Voraussetzungen für eine Erhöhung der MdE nach der Härteregelung des § 581 Abs 2 RVO seien nicht gegeben. Zwar verfüge der Kläger in seinem Beruf als Tänzer über besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen, die er sich nicht allein durch die Ballettausbildung, sondern auch durch seine angeborene Begabung angeeignet habe und die er wegen der Unfallfolgen nicht mehr verwerten könne. Diese hätten ihm auch eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistet, da sein Bruttoverdienst in der Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 30. April 1992 deutlich über den durchschnittlichen Bruttoentgelten aller Versicherten gelegen habe. Zwar habe sein letzter Zeitvertrag am 11. Oktober 1992 geendet, doch sei die Befristung von Beschäftigungen im Theaterbereich weitgehend üblich und habe die damalige Arbeitgeberin des Klägers offenbar keinen Grund zu der Annahme gesehen, ihn für den Beruf des Musical-Tänzers nicht mehr für geeignet zu halten. Nach einer bereits mehr als dreijährigen Tätigkeit in der erfolgreichen Bühnenproduktion „ ” wäre ein weiteres Engagement über Oktober 1992 hinaus mithin durchaus wahrscheinlich gewesen.
Eine unbillige Härte liege gleichwohl im Ergebnis nicht vor, weil der Kläger über sonstige Fähigkeiten verfüge, die er durch die von der Beklagten finanzierte Umschulung zum Tanzpädagogen erlangt habe und deren Nutzung ihm zugemutet werden könne, weil dieser neu erlernte Beruf seiner früheren Tätigkeit als Tänzer zumindest gleichwertig sei. Durch die Rehabilitation sei er in die Lage versetzt worden, seine künstlerische Qualifikation sowie seine Tanzerfahrungen dadurch zu verwerten, daß er sie zur Ausbildung von Nachwuchstänzern und -darstellern nutze. Eine Verletzung der Betreuungspflichten seitens der Beklagten, die eine Verweisung auf den Umschulungsberuf ausschließen könnte, sei nicht festzustellen. Aus dem pflichtwidrigen Unterlassen der Beklagten, die Bundesanstalt für Arbeit einzuschalten, könne der Kläger keine Rechte herleiten, zumal er selbst nachdrücklich den Wunsch geäußert habe, auch künftig eine Tätigkeit auszuüben, die das Tanzen zum Gegenstand habe, und er selbst seine spätere Ausbildungsstätte benannt habe. Der Beklagten habe es daher naheliegen müssen, seinem Wunsch zu entsprechen. Dies habe sie zwar nicht von der Verpflichtung entbunden, mit der Arbeitsverwaltung die Aussichten seiner Eingliederung in den gewünschten Beruf zu erörtern, jedoch wäre die Aussagekraft einer entsprechenden Beurteilung zweifelhaft gewesen, da die Mehrzahl der Tanzpädagogen freiberuflich tätig sei und auch die Arbeitsverwaltung diesen Bereich nicht vollständig überblicken könne. Im übrigen habe die berufliche Rehabilitation insoweit zu einer Integration in den Arbeitsmarkt geführt, als der Kläger seit August 1996 Trainingsleiter der Balletttruppe des Stadttheaters L. und damit im Umschulungsberuf tätig sei.
Auch der Minderverdienst gegenüber dem früheren Einkommen als Tänzer spreche nicht gegen die Verweisbarkeit. Zwar sei es dem Kläger bisher nicht gelungen, aus einer Lehrtätigkeit ein Einkommen zu erzielen, das annähernd demjenigen aus seiner bis April 1992 ausgeübten Beschäftigung als Tänzer und Darsteller im Musical „ ” entspreche. Dies und die vom Arbeitsamt L. bestätigten schlechten Vermittlungsaussichten für den Beruf des Tanzpädagogen führten wegen des Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Maßgebend sei, daß der durch die Unfallfolgen in seinem Beruf besonders schwer betroffene Kläger einen Ausgleich durch die im Wege der Rehabilitation erworbenen zusätzlichen Kenntnisse erlangt habe.
Mit seiner – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 581 Abs 2 RVO. Im Hinblick auf sein Alter, die Dauer seiner Ausbildung und den Umstand, daß ihm seine bis zum Unfall verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistet habe, sei die MdE gemäß § 581 Abs 2 RVO höher zu bewerten. Bis zu dem Unfall habe sich seine Karriere im Beruf des Tänzers, dem er sich bereits in seiner Kindheit zugewandt habe, stetig fortgesetzt. Er hätte seine Solokarriere – wie viele namhafte Tänzer vor ihm – bis jenseits des 50. Lebensjahres fortführen können, wenn er seinen Lebensberuf nicht wegen der Unfallfolgen hätte aufgeben müssen. Seine Kenntnisse und Fähigkeiten hätten nicht nur auf seiner Ausbildung, sondern in erheblichem Umfang auf angeborenem Talent beruht. Ein solches Spezialtalent könne niemals durch das Erlernen einer anderen – wenn auch im weitesten Sinne mit dem bisherigen Beruf zusammenhängenden – Tätigkeit ersetzt werden. Entgegen der Ansicht des LSG könne er daher sein besonderes Talent nicht mehr zur Geltung bringen, sondern seine ihm verbliebenen Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten.
Der Kläger beantragt (sinngemäß),
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. September 1998 und des Sozialgerichts Lüneburg vom 17. September 1996 aufzuheben, den Bescheid vom 21. März 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Juli 1995 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm vom 1. Januar 1995 an Verletztenrente nach einer MdE von mindestens 20 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Er hat keinen Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente, wie die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben.
Der Anspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften der RVO, weil er sich auf einen Arbeitsunfall bezieht, der vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) am 1. Januar 1997 eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes, § 212 SGB VII).
Nach § 581 Abs 1 Nr 1 RVO wird dem Verletzten als Verletztenrente der Teil der Vollrente (§ 581 Abs 1 Nr 1 RVO) gewährt, der dem Grade der MdE entspricht, solange seine Erwerbsfähigkeit infolge des Arbeitsunfalls um wenigstens ein Fünftel (20 vH) gemindert ist. Die Beklagte hat spätestens mit dem insoweit vom Kläger nicht angefochtenen Bescheid vom 21. März 1995 als Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. April 1992 „Funktionsschwäche des Außenknöchelbandapparats links, geringe rückwärtige Einschränkung der Streckfähigkeit im Bereich des linken oberen Sprunggelenkes sowie geringe Einschränkung der Einwärtsdrehung bei leicht vermehrter Fähigkeit zur Auswärtsdrehung des linken unteren Sprunggelenkes nach Distorsion des linken oberen Sprunggelenkes mit fibularer Bandverletzung” bindend anerkannt. Streitig ist allein noch, ob diese Unfallfolgen die Erwerbsfähigkeit des Klägers im rentenberechtigenden Grade mindern.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG, die mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffen und daher für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), liegt bei dem Kläger aufgrund der Unfallfolgen nach der aufgrund § 581 Abs 1 RVO vorzunehmenden Schätzung (vgl BSGE 31, 185, 186 = SozR Nr 7 zu § 581 RVO), bei der es sich um eine Tatfrage handelt (vgl Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, 1998, § 162 RdNr 3a), eine MdE von lediglich 10 vH vor, wird der rentenberechtigende Grad von 20 vH mithin nicht erreicht. Entgegen der Auffassung der Revision ist hier auch unter dem Gesichtspunkt einer besonderen beruflichen Betroffenheit nach § 581 Abs 2 RVO keine Erhöhung der – einheitlich festzustellenden – MdE und damit kein Anspruch auf Verletztenrente herzuleiten.
Es entsprach bereits vor Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) vom 30. April 1963 (BGBl I, 241) der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), zur Vermeidung unbilliger Härten bei der Bemessung der MdE auch die Auswirkungen der Unfallfolgen auf den Lebensberuf des Verletzten im Einzelfall angemessen, nicht etwa ausschlaggebend, zu berücksichtigen (vgl BSGE 1, 174, 178; BSGE 4, 294, 298). Die durch das UVNG eingeführte Vorschrift des § 581 Abs 2 RVO normiert im wesentlichen die bis dahin entwickelten Grundsätze der Rechtsprechung (vgl BSGE 23, 253, 254 = SozR Nr 2 zu § 581 RVO; BSGE 28, 227, 229 = SozR Nr 4 zu § 581 RVO; BSGE 39, 31, 32 = SozR 2200 § 581 Nr 3). Danach sind bei der Bemessung der MdE Nachteile zu berücksichtigen, die der Verletzte dadurch erleidet, daß er bestimmte, von ihm erworbene besondere berufliche Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr oder nur noch in vermindertem Umfang nutzen kann, soweit sie nicht durch sonstige Fähigkeiten ausgeglichen werden, deren Nutzung ihm zugemutet werden kann.
Allerdings läßt diese unfallversicherungsrechtliche Regelung, bei der regelmäßig Erhöhungen von 10 bis 20 vH in Betracht kommen (BSGE 70, 47, 51 = SozR 3-2200 § 581 Nr 1) keine allgemeine Berücksichtigung der besonderen beruflichen Betroffenheit – etwa entsprechend den Grundsätzen des § 30 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes – zu. Eine derartige Auslegung widerspräche der Systematik des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung, das für die Bemessung der Verletztenrente anders als das Versorgungsrecht (für Beschädigtengrundrenten) nicht lediglich ohne Rücksicht auf Alter oder Einkommen des Beschädigten allein nach der Höhe der MdE zu gewährende Pauschalsätze, sondern (auch) den individuelleren Maßstab des vom Verletzten während des letzten Jahres vor dem Unfall verdienten Arbeitsentgelts vorsieht. Eine allgemeine Berücksichtigung des „besonderen beruflichen Betroffenseins” würde daher in der gesetzlichen Unfallversicherung regelmäßig zu einer doppelten Berücksichtigung des Berufs führen (vgl BSGE 70, 47, 48 = SozR 3 aaO; Brackmann/Burchardt, Handbuch der Sozialversicherung, SGB VII, 12. Aufl, § 56 RdNr 100).
Die eine Höherbewertung der MdE rechtfertigenden Nachteile liegen im Rahmen des § 581 Abs 2 RVO aber dann vor, wenn unter Wahrung des in der Unfallversicherung geltenden Grundsatzes der abstrakten Schadensberechnung, der durch § 581 Abs 2 RVO nicht eingeschränkt wird (BSGE 23, 253, 254 = SozR aaO), die Nichtberücksichtigung von Ausbildung und Beruf bei der Bewertung der MdE im Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde (stRspr seit BSGE 23, 253, 255 = SozR aaO; vgl auch BSGE 31, 185, 188 = SozR aaO; BSGE 38, 118, 119 = SozR 2200 § 581 Nr 2; BSGE 39, 31, 32 = SozR aaO; BSG SozR Nrn 10 und 12 zu § 581 RVO; BSG SozR 2200 § 581 Nrn 18 und 27). Selbst wenn der Verletzte seinen erlernten Beruf infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr ausüben kann, muß dies daher nicht zwangsläufig zur Erhöhung der MdE führen (vgl BSGE 39, 31, 32 = SozR aaO mwN). Auch daß erst bei einer Erhöhung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO ein Verletztenrentenanspruch begründet werden kann, stellt für sich noch keine derartige unbillige Härte dar (vgl BSG SozR 2200 § 581 Nr 18 mwN).
Als wesentliche Merkmale für die Beurteilung der Frage, ob eine höhere Bewertung der MdE zur Vermeidung unbilliger Härten gerechtfertigt ist, hat das BSG vielmehr insbesondere das Alter des Verletzten (BSGE 4, 294, 299), die Dauer der Ausbildung (BSG SozR Nr 10 zu § 581 RVO) sowie vor allem die Dauer der Ausübung der speziellen beruflichen Tätigkeit (BSGE 4, 294, 298; BSG SozR Nrn 9 und 10 zu § 581 RVO) und auch den Umstand bezeichnet, daß die bisher verrichtete Tätigkeit eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistete (BSG SozR Nrn 10 und 12 zu § 581 RVO). Aus diesen Merkmalen und den außerdem zu beachtenden sonstigen besonderen Umständen des Einzelfalles kann sich eine höhere Bewertung der MdE nach § 581 Abs 2 RVO ergeben, wenn der Verletzte die ihm verbliebenen Kenntnisse und Fähigkeiten nur noch unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens verwerten kann (BSGE 70, 47, 49 = SozR 3-2200 § 581 Nr 1). Die einzelnen Umstände des jeweiligen Falles sind dabei nicht isoliert, sondern in ihrer Gesamtheit zu beurteilen (BSG aaO). Eine allgemeine Regel, wie dies jeweils mit welchem Ergebnis zu geschehen hat, läßt sich hierfür nicht aufstellen (BSGE 23, 253, 255 = SozR aaO). Verfügt der Verletzte indes über sonstige Fähigkeiten, die geeignet sind, die unfallbedingt nicht mehr oder nicht mehr in vollem Umfang nutzbaren besonderen beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen auszugleichen, kommt eine Erhöhung der MdE gemäß § 581 Abs 2 RVO nicht in Betracht, sofern dem Verletzten die Nutzung dieser Fähigkeiten zugemutet werden kann; dies schließt die zumutbare Aneignung solcher Fähigkeiten durch eine Umschulung ein (vgl BSG Urteil vom 31. Oktober 1972 - 2 RU 169/70 -).
Bei Anwendung dieser von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt sich, daß hier – wie das LSG rechtlich zutreffend ausgeführt hat – das Vorliegen einer unbilligen Härte iS des § 581 Abs 2 RVO zu verneinen ist. Zwar liegen verschiedene Merkmale vor, die für eine Anwendung des Härteausgleichs gemäß § 581 Abs 2 RVO sprechen. Der Kläger verfügt nach den bindenden Feststellungen des LSG in seinem seit vielen Jahren ausgeübten Lebensberuf als Tänzer über gewisse Fertigkeiten, die sich nicht in beruflichem Fachwissen erschöpfen, sondern die er sich durch seine vorhandene Begabung und jahrelange Übung (vgl BSGE 38, 118, 120 = SozR 2200 § 581 Nr 2) angeeignet hat, und die er infolge des Unfalls nicht mehr wie früher wirtschaftlich verwerten kann. Diese haben ihm auch zuletzt eine günstige Stellung im Erwerbsleben gewährleistet, da sein Bruttoverdienst in der Zeit vom 1. Januar 1992 bis zum 30. April 1992 – auf ein Jahr hochgerechnet 106.422,00 DM – deutlich über den damaligen durchschnittlichen Bruttoentgelten aller Versicherten (46.480,00 DM) lag und seine Weiterbeschäftigung aufgrund der Gesamtsituation trotz des Auslaufens seines letzten (branchentypischen) Zeitvertrages im Oktober 1992 wahrscheinlich gewesen wäre.
Eine Erhöhung der MdE gemäß § 581 Abs 2 RVO kommt hier dennoch nicht in Betracht, da der Kläger über sonstige Fähigkeiten iS des § 581 Abs 2 Halbs 2 RVO verfügt, welche die infolge des Arbeitsunfalls nicht mehr in vollem Umfang nutzbaren besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten als Tänzer ausgleichen und deren Nutzung ihm auch zuzumuten ist. Nach den bindenden Feststellungen des LSG ist der Kläger auf Kosten der Beklagten erfolgreich zum Tanzpädagogen umgeschult und dadurch in die Lage versetzt worden, seine künstlerische Qualifikation sowie seine Tanzerfahrungen dadurch weiterhin zu verwerten, daß er sie zur Ausbildung von Nachwuchstänzern und -darstellern nutzt. Der Beruf des Tanzpädagogen, den der Kläger aufgrund dieser sonstigen Fähigkeiten zu verrichten vermag, ist nach den Feststellungen des LSG seiner früheren Tätigkeit zumindest qualitativ gleichwertig und daher grundsätzlich geeignet, die durch den Verlust der besonderen beruflichen Kenntnisse und Fähigkeiten bedingten wirtschaftlichen und sozialen Nachteile auszugleichen. Ein Ausgleich – nicht der umfassende Ersatz dieser Fertigkeiten, wie der Kläger meint – ist Voraussetzung für das Vorliegen dieses Tatbestandsmerkmals.
Dem Kläger ist es schon deshalb zuzumuten, diese „sonstigen Fähigkeiten” zu nutzen, weil er sie durch eine aufgrund der Unfallfolgen vom Unfallversicherungsträger gewährte, erfolgreich abgeschlossene Maßnahme der beruflichen Rehabilitation erworben hat (vgl Ruppelt in Schulin, HS-UV, § 48 RdNr 48; Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 5. Aufl, § 56 SGB VII RdNr 12.4; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 569b). Da eine solche Maßnahme nur mit Zustimmung des Verletzten (vgl § 4 Abs 1 Satz 1 des Gesetzes über die Angleichung der Leistungen zur Rehabilitation ≪RehaAnglG≫) durchgeführt werden darf und darauf ausgerichtet sein muß, ihn auf Dauer in Arbeit, Beruf und Gesellschaft einzugliedern (§ 1 Abs 1 RehaAnglG), ist jedenfalls bei erfolgreichem Abschluß einer solchen Maßnahme davon auszugehen, daß sich der Verletzte hierbei zur Erreichung dieser Ziele geeignete Fähigkeiten angeeignet hat. Aus dem auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben ist er dann auch gehalten, diese Fähigkeiten entsprechend einzusetzen, ohne sich etwa auf deren soziale oder wirtschaftliche Unzumutbarkeit berufen zu können. Dies gilt insbesondere dann, wenn die betreffende Maßnahme – wie im Falle des Klägers – auf seinen eigenen Wunsch hin durchgeführt worden ist.
Für diese Auffassung kann eine normative Regelung aus dem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ihrem Rechtsgedanken nach herangezogen werden. Im Rahmen der Voraussetzungen für die Gewährung von Rente wegen Berufsunfähigkeit hinsichtlich der Zumutbarkeit von Verweisungstätigkeiten für leistungsgeminderte Versicherte ist in § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO (bzw nunmehr § 43 Abs 2 Satz 3 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch) ausdrücklich angeordnet, daß die Verweisung des Versicherten auf eine Tätigkeit, für die er durch (von einem öffentlichen Träger gewährte) Rehabilitationsmaßnahmen mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden ist, stets zumutbar ist. Diese Sachlage ist der im vorliegenden Fall gegebenen Situation insoweit vergleichbar und rechtfertigt daher eine entsprechende Anwendung des darin liegenden Rechtsgedankens, als es in beiden Fällen um die eine Sozialleistung ausschließende soziale und wirtschaftliche Zumutbarkeit der Verrichtung von Tätigkeiten geht, zu denen der Betroffene erst aufgrund von nicht aus privaten Mitteln gewährten Rehabilitationsmaßnahmen befähigt worden ist. Dabei ist es bei erfolgreichem Abschluß der Maßnahme für die Frage der Zumutbarkeit unbeachtlich, ob möglicherweise die Umschulung zu einem anderen Beruf dem Be-troffenen eine aussichtsreichere Position verschafft hätte.
Nicht erheblich ist auch für die rechtliche Beurteilung, ob die konkrete Einkommenssituation des Verletzten im neuen Beruf ungünstiger ist als in der vor dem Unfall ausgeübten Tätigkeit. Die Entschädigung in der gesetzlichen Unfallversicherung wird von dem Grundsatz der abstrakten Schadensberechnung beherrscht. Das bedeutet in diesem Zusammenhang, daß die in Form einer Verletztenrente zu gewährende Entschädigung nicht den tatsächlichen Minderverdienst ausgleichen soll, sondern nach dem Unterschied der auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bestehenden Erwerbsmöglichkeiten des Verletzten vor und nach dem Arbeitsunfall zu bemessen ist (vgl BSG SozR 2200 § 581 Nr 27 mwN; Brackmann/Burchardt, Handbuch der Sozialversicherung, SGB VII, 12. Aufl, § 56 RdNr 44). Der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung, der für den Verletzten überwiegend einen Vorteil bedeutet (BSGE 39, 31, 33 = SozR 2200 § 581 Nr 3), wird durch § 581 Abs 2 RVO nicht eingeschränkt, was schon daran deutlich wird, daß auch hier nur eine angemessene Erhöhung der MdE, nicht jedoch ein rechnerischer Ausgleich des tatsächlichen – konkreten – Schadens erfolgen kann (vgl BSGE 23, 253, 254 = SozR Nr 2 zu § 581 RVO; BSGE 38, 118, 120 = SozR 2200 § 581 Nr 2). Dementsprechend können auch die individuellen Verhältnisse, die nicht die abstrakte Erwerbsfähigkeit, sondern die konkrete Einkommenssituation des Verletzten betreffen, nicht zur Erhöhung der MdE im Rahmen des § 581 Abs 2 RVO führen. Dies gilt insbesondere auch für die Erlangung eines den durch die Umschulung erworbenen Fähigkeiten angepaßten Arbeitsplatzes (vgl BSG SozR 2200 § 1246 Nr 32 zu § 1246 Abs 2 Satz 3 RVO).
Die Kostenentscheidung ergeht nach § 193 SGG.
Fundstellen
NZS 2000, 312 |
SozSi 2000, 106 |