Leitsatz (amtlich)
Zu den Begriffen "Unterbrechung" und "Lösung" des Zusammenhangs bei Wegen von und nach der Arbeitsstätte.
Leitsatz (redaktionell)
Eine nach Beendigung der Arbeit und vor Antritt des Heimwegs veranstaltete zweistündige private Geburtstagsfeier in unmittelbarer Nähe des Betriebs, an der fast alle Belegschaftsmitglieder einer Betriebsabteilung und für kurze Zeit auch der Betriebsleiter teilnehmen, steht zwar nicht unter Versicherungsschutz. Als Ausdruck der Betriebsverbundenheit der Arbeitskameraden untereinander wird sie jedoch von der Beschäftigung im Betrieb nicht unwesentlich beeinflußt. Der ursächliche Zusammenhang zwischen Betrieb und Weg von der Arbeitsstätte nach Hause, der im Anschluß an die Geburtstagsfeier angetreten wird, ist daher nicht als endgültig gelöst anzusehen.
Ob der Versicherte auf der Heimfahrt unvernünftig oder leichtfertig gehandelt hat, ist für die Zuerkennung des Versicherungsschutzes unbeachtlich.
Eine ordnungsmäßige Verfahrensrüge setzt voraus, daß in der Revisionsbegründung die Tatsachen und Beweismittel bezeichnet werden, die den Mangel des Verfahrens ergeben (SSG § 164 Abs 2 S 2).
Normenkette
RVO § 543; SGG § 164 Abs. 2 S. 2
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 30. Oktober 1956 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Ehemann der Klägerin, der Steinbruchsarbeiter Theodor T... war bei der Firma W. A.G. in Beilstein/Dillkreis beschäftigt. Am 19. Juli 1951 nahm er an einer Geburtstagsfeier teil, zu der zwei Arbeitskameraden eingeladen hatten. Die gesellige Zusammenkunft fand im Anschluß an die um 15,30 Uhr beendete Arbeitszeit in unmittelbarer Nähe des Betriebsgeländes im Freien statte Beteiligt waren die Belegschaftsmitglieder der Bruchsohle (etwa 15 bis 20 Mann), der auch Thomas angehörte. Das Zusammensein dauerte zwei Stunden beim Genuß von zwei Flaschen Bier für jeden Teilnehmer, zum Schluß fand sich auch noch der Betriebsleiter B... ein und trank eine für ihn aufgehobene Flasche Bier mit. Thomas ging mit ihm um 17,30 Uhr weg. Er holte sich zunächst auf dem Betriebsgelände aus der Kipperbude noch Rock und Rucksack, sodann aus der Schmiede sein Fahrrad und trat von dort aus die Heimfahrt an. Unterwegs stürzte er auf der in steilen Kurven abwärts führenden Straße und wurde am Straßenrand mit gebrochenem Halswirbel sterbend gefunden. Das Fahrrad wies eine schadhafte Stelle am luftleeren Vorderreifen auf.
Die Beklagte hat durch Bescheid vom 29. August 1951 den Entschädigungsanspruch der Klägerin mit der Begründung abgelehnt, daß durch die zweistündige Teilnahme ihres Ehemannes an der privaten Geburtstagsfeier der ursächliche Zusammenhang des Heimwegs mit der Betriebstätigkeit gelöst worden sei.
Die hiergegen beim Oberversicherungsamt Wiesbaden eingelegte Berufung ist mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gemäß § 215 Abs. 2 dieses Gesetzes als Klage auf das Sozialgericht (SG.) Gießen übergegangen. Dieses hat nach Vernehmung des Betriebsleiters ... sowie der Steinrichter N... und ... als Zeugen die Klage durch Urteil vom 10. Februar 1955 abgewiesen. Es hat sich dem Rechtsstandpunkt der Beklagten angeschlossen und die Auffassung vertreten, daß es sich bei der Geburtstagsfeier nicht um eine versicherte Betriebsgemeinschaftsveranstaltung gehandelt habe.
Hiergegen hat sich die Klägerin mit der form- und fristgerecht eingelegten Berufung gewandt und im übrigen vorgebracht, ihr Ehemann habe nach Beendigung der Feier seine Arbeitsstelle aufgeräumt und Werkzeug zum Schärfen bereitgestellt. Das Hessische Landessozialgericht (LSG.) hat durch Urteil vom 30. Oktober 1956 die Entscheidung des SG. und den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Es hat den Unfall des T... als Arbeitsunfall im Sinne des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) beurteilt und die Beklagte für verpflichtet erklärt, der Klägerin Hinterbliebenenentschädigung gemäß §§ 586 ff. RVO zu gewähren. In den Urteilsgründen ist ausgeführt: Der Zusammenhang des Heimwegs des Ehemannes der Klägerin mit seiner Betriebstätigkeit sei durch seine Teilnahme an der Feier unterbrochen worden, da es sich hierbei nicht um eine Betriebsveranstaltung gehandelt habe. Eine endgültige Lösung dieses Zusammenhangs sei aber nicht eingetreten, da nach Art und Dauer der Unterbrechung der Heimweg nach Auffassung der beteiligten Volkskreise noch als Weg von der Arbeitsstätte und nicht als die Heimkehr von einer privaten Veranstaltung anzusehen sei. Thomas habe an der Geburtstagsfeier wegen seiner Zugehörigkeit zum Betrieb teilgenommen. Eine Verpflichtung dazu habe zwar nicht bestanden; aber gerade wegen der betrieblichen Verbundenheit der Arbeitskameraden untereinander, die auch durch die Anwesenheit des Betriebsleiters betont worden sei, hätte er sich der Beteiligung nur schwer entziehen können. Unter diesen Umständen rechtfertige auch eine zweistündige Dauer der Feier unter Berücksichtigung eines nur mäßigen Alkoholgenusses nicht die Annahme einer Lösung des Zusammenhangs zwischen Heimweg und Betriebstätigkeit.
Das LSG. hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 9. November 1956 zugestellt worden. Am 1. Dezember 1956 hat sie Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet.
Die Revision rügt Verletzung des § 543 Abs. 1 RVO. Sie meint, im vorliegenden Fall fehle es an dem erforderlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem von der privaten Geburtstagsfeier aus angetretenen Heimweg und der zwei Stunden vorher beendeten versicherten Betriebsarbeit des T.... Dazu führt die Beklagte aus: Das LSG. schließe irrtümlicherweise aus den Umständen, unter denen Thomas mit seinen Arbeitskameraden zu der Geburtstagsfeier zusammen gewesen sei, daß seine Teilnahme an der geselligen Veranstaltung den versicherungsrechtlichen Zusammenhang seines Heimwegs mit der Betriebstätigkeit gewahrt habe. Daß er sich der Einladung nur schwer habe entziehen können, rechtfertige die Annahme dieses Zusammenhangs jedenfalls nicht. Das gleiche gelte von der Tatsache, daß der Betriebsleiter anwesend war, zumal da dieser als Zeuge erklärt habe, daß Geburtstagsfeiern im Betrieb allgemein untersagt gewesen wären. Auf derart genaue Erwägungen komme es für die Entscheidung aber nicht an; denn nach der Rechtsprechung des Reichsversicherungamts sei die endgültige Lösung des ursächlichen Zusammenhangs immer dann anzunehmen, wenn der Unterbrechungsvorgang länger als eine bis höchstens anderthalb Stunde dauere. Bei längerer Dauer sei ohne Rücksicht auf die Art der Unterbrechung nach der Anschauung der beteiligten Volkskreise ein später angetretener Heimweg mit der vorangegangenen Betriebsarbeit schlechthin nicht mehr als Weg von der Arbeitsstätte anzusehen.
Die Beklagte macht außerdem geltend, das Verfahren leide an einem wesentlichen Mangel, da das LSG. den Sachverhalt hinsichtlich der Beschaffenheit des Fahrrades und der Fahrweise des T... nicht ausreichend aufgeklärt habe.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG. Gießen zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
In rechtlicher Hinsicht bezieht sie sich im wesentlichen auf die Begründung des angefochtenen Urteils. Eine weitere Sachaufklärung ist nach ihrer Ansicht nicht mehr möglich; bei dem Unfallgeschehen habe für die Vorinstanzen auch keine Veranlassung bestanden, weitere Ermittlungen anzustellen.
II
Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.
Das LSG. ist zutreffend davon ausgegangen, daß die Geburtstagsfeier, an welcher der Ehemann der Klägerin vor Antritt der unfallbringenden Heimfahrt am 19. Juli 1951 teilgenommen hatte, nicht unter Versicherungsschutz stand. Sie fand zwar im Anschluß an die Betriebsarbeit in unmittelbarer Nähe des Betriebsgeländes unter Beteiligung fast der gesamten Belegschaft einer sogenannten Bruchsohle (Betriebsabteilung) statt; für eine kurze Zeit wenigstens war auch der Betriebsleiter anwesend. Aber bei dem Anlaß und der Gestaltung des geselligen Zusammenseins, zu dem die beiden Geburtstag feiernden Arbeitskameraden eingeladen hatten, kann keine Rede davon sein, daß die Veranstaltung von der Autorität des Betriebsleiters getragen war. Schon aus diesem Grunde entsprach die Geburtstagsfeier am 19. Juli 1951 nicht den Voraussetzungen einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung (vgl. BSG. 1 S. 179). Die Teilnahme an ihr stand daher nicht unter Versicherungsschutz. Demzufolge war die versicherte Betriebstätigkeit des Ehemannes der Klägerin am Unfalltag bereits gegen 15,30 Uhr beendet.
Gleichwohl hat das LSG. den etwa zwei Stunden später angetretenen Heimweg ohne Rechtsirrtum als Weg von der Arbeitsstätte im Sinne des § 543 Abs. 1 RVO angesehen. Die zwischen der Beendigung der Arbeit und dem Antritt des Heimwegs liegende Zeit ist versicherungsrechtlich nicht anders zu beurteilen, als wenn der bereits begonnene Heimweg unterbrochen worden wäre. Die Beurteilung der Frage, ob der Zusammenhang der Heimfahrt des T... am Unfalltag mit der vorangegangenen Betriebsarbeit durch seine Teilnahme an der Geburtstagsfeier lediglich unterbrochen worden war, so daß der Versicherungsschutz für den Weg nach Hause fortbestanden hätte oder ob dieser Zusammenhang durch die dazwischen liegende private Veranstaltung endgültig gelöst worden war, so daß auch der Heimweg unversichert geblieben wäre, hat das LSG. zutreffend nicht allein auf die Dauer der Unterbrechung abgestellte. Es hat dabei vielmehr mit Recht die näheren Umstände berücksichtigt, welche die Art der Unterbrechung im vorliegenden Streitfalle kennzeichnen und von denen die Dauer der Unterbrechung nur eines ihrer mehreren Wesenselemente ist. In dieser Hinsicht ist die Auffassung des LSG., daß die Teilnahme des T... an der Geburtstagsfeier zwar nicht so stark wie bei einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung, aber immerhin doch nicht ganz unwesentlich von seiner Beschäftigung im Steinbruchsbetrieb beeinflußt worden ist, nicht zu beanstanden; denn nach den einwandfreien tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils ergaben sich Anlaß und Zweck des geselligen Zusammenseins aus der Betriebsverbundenheit der Arbeitskameraden untereinander. Sie wären ohne das Bedürfnis, ihren betrieblichen Zusammenhalt auch durch derartige private Veranstaltungen zu pflegen, nicht in der geschehenen Weise am 19. Juli 1951 zusammengekommen. Dafür spricht besonders auch der Umstand, daß der Betriebsleiter selbst noch hinzu gekommen war. Bei diesem Sachverhalt konnte das LSG. ohne Bedenken annehmen, daß die Teilnahme an der Geburtstagsfeier zwar - im Unterschied zu einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung - als solche nicht unter Versicherungsschutz stand, daß ihre Beziehung zur versicherten Tätigkeit jedoch anderseits nicht so entfernt war, um zur Lösung des Zusammenhangs zu führen, sondern daß die Teilnahme an einem derartigen Zusammensein lediglich eine Unterbrechung des Heimwegs bewirkte. Das zeitliche Moment steht dieser Annahme nicht entgegen; denn die Dauer der Veranstaltung von höchstens zwei Stunden zwingt jedenfalls angesichts der dargelegten Umstände, unter denen sie stattfand, nicht zur Annahme einer Lösung des strittigen Zusammenhangs. Mit der Revision ist allerdings bei den sogenannten Wegeunfällen das im Interesse einer gesetzmäßigen Beschränkung des Versicherungsschutzes liegende Bedürfnis nicht zu verkennen, die Unterbrechungsdauer zu begrenzen. Im wesentlichen übereinstimmend mit der bisherigen Rechtsprechung ist der Senat jedoch der Auffassung, daß eine zeitliche Grenze nicht lediglich durch den Wunsch nach praktischer Vereinfachung der Behandlung des konkreten Falles bestimmt und jedenfalls nicht schematisch, ohne Rücksicht auf den konkreten Anlaß der Unterbrechung gezogen werden darf, z.B. bei einer oder anderthalber Stunde. Denn sonst würde die Gefahr bestehen, daß bei der Entscheidung sachlich wesentliche Besonderheiten des Einzelfalles unberücksichtigt bleiben und daraus für die Beteiligten unbillige Ergebnisse entstehen könnten.
Die Revision hält den Zusammenhang der Heimfahrt des T... mit seiner Betriebstätigkeit aber auch deshalb für gelöst, weil er einer selbst geschaffenen Gefahr zum Opfer gefallen sei. Insoweit meint die Beklagte, das LSG. habe unterlassen zu prüfen, ob der Unfall durch eine schlechte Stelle im Vorderreifen des Rades eingetreten sei, und habe überhaupt erwägen müssen, ob T... durch die Benutzung eines schadhaften Fahrrades und durch zu schnelles Fahren auf einer gefährlichen Straße eine außerbetriebliche Gefahr herbeigeführt habe, für deren Folgen die gesetzliche Unfallversicherung nicht einzustehen hätte. Die Beklagte rügt, das LSG. habe dadurch gegen seine Amtsermittlungspflicht verstoßen, daß es diesen Fragen nicht durch weiteres Aufklären des Sachverhalts nachgegangen sei. Diese Rüge entspricht nicht den gesetzlichen Erfordernissen. Eine ordnungsmäßige Verfahrensrüge setzt voraus, daß in der Revisionsbegründung die Tatsachen und Beweismittel bezeichnet werden, die den Mangel des Verfahrens ergeben (§ 164 Abs. 2 Satz 2 SGG). Diesem Formerfordernis hat die Beklagte nicht genügt. Sie hat nicht dargelegt, welche Ermittlungen das LSG. noch hätte anstellen sollen und zu welchem Ergebnis diese nach ihrer Ansicht geführt hätten. Der allgemeine Hinweis auf unterlassene Sachaufklärung, mit dem sich die Beklagte zur Begründung ihrer Verfahrensrüge begnügt hat, genügt jedenfalls nicht, um eine nach § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG formgerechte Verfahrensrüge zu erheben (SozR, SGG § 164 Bl. Da 10 Nr. 28).
Im übrigen wäre es für die Entscheidung des vorliegenden Falles aber auch unerheblich, ob sich T... durch verkehrswidriges Verhalten einer Gefahr ausgesetzt hatte, die ihm das Leben kostete. Ob er auf der Heimfahrt unvernünftig oder leichtfertig etwa dadurch gehandelt hat, daß er wissentlich mit einem nicht verkehrssicheren Fahrrad absichtlich schnell auf einer gefährlichen Straße talwärts fuhr, ist rechtlich unbeachtlich (RVO-Mitgl. Komm. 2. Aufl., Bd. III S. 85 Anm. 6 b II gg) zu § 545 a). Der Versicherungsschutz wäre für ihn auf der Heimfahrt nur dann ausgeschlossen gewesen, wenn er auf dieser Fahrt bei der Benutzung des Fahrrades andere Zwecke verfolgt hätte, als nur den Heimweg zurückzulegen. Das wird jedoch weder von der Revision behauptet, noch ist in dieser Richtung ein Anhalt aus den Unterlagen ersichtlich.
Das LSG. hat somit zu Recht den Unfall des Ehemannes der Klägerin vom 19. Juli 1951 unter den Voraussetzungen des § 543 Abs. 1 RVO als Arbeitsunfall angesehen. Die Revision der Beklagten war daher als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen