Entscheidungsstichwort (Thema)
Waisenrentenbezug bei Verschollenheit. Todestagfeststellung
Orientierungssatz
Der Senat hält an seiner ständigen Rechtsprechung fest, wonach die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit berechtigt und verpflichtet sind, den wahrscheinlichen Todestag des Verschollenen auf Grund eigener Ermittlungen festzustellen (vergleiche BSG 1957-07-04 4 RJ 74/56, BSG 1957-10-24 4 RJ 92/56).
Normenkette
RVO § 1259 Fassung: 1934-05-17, § 1260 Fassung: 1934-05-17, § 1258 Fassung: 1937-12-21
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 1955 mit dem ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Der Ehemann der Muster des am 8. Oktober 1952 geborenen Klägers ist seit Anfang 1945 (die Beklagte hat der Witwenrentenberechnung der Mutter des Klägers als Datum den 30.4.1945 zugrunde gelegt) vermißt. Die Beklagte lehnte den Antrag vom 20. August 1953 auf die Gewährung einer Waisenrente aus der Invalidenversicherung des Vermißten durch Bescheid vom 13. April 1956 ab, da der Kläger nicht dessen Kind sei.
Das Sozialgericht Düsseldorf und das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen sprachen dem Kläger dagegen die Waisenrente vom 1. September 1953 an zu und legten der Beklagten die außergerichtlichen Verfahrenskosten auf.
Zu der auf den 21. Dezember 1955 vor dem Landessozialgericht anberaumten mündlichen Verhandlung waren die Beteiligten nicht erschienen ihre Ladung enthielt einen ausdrücklichen Hinweis auf die § 110 und 126 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG); das Landessozialgericht erließ sein Urteil in jener Sitzung auf Grund der Aktenlage.
Das Landessozialgericht hält sich für berechtigt zu einer Aktenlageentscheidung auch für den Fall, daß nicht nur einer der Beteiligten, sondern beide Beteiligte ausbleiben.
In der Sache selbst führt das Landessozialgericht aus, daß der Kläger zwar von dem verschollenen Ehemann seiner Mutter nicht erzeugt sein könne, daß er jedoch nach §§ 1593 und 1596 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) als eheliches Kind behandelt werden müsse, da eine Todeserklärung des Ehemannes der Mutter nicht vorliege.
Die sich aus jenen Vorschriften ergebende Rechtslage sei auch für das Gebiet der Sozialversicherung maßgebend. Dem Versicherungsträger könne, seit der § 1593 BGB geändert sei, nicht mehr das in der Entscheidung des Reichsversicherungsamts vom 28. Oktober 1936 (Invalidenversicherung 1937 S. 182) angenommene Recht auf einredeweise Geltendmachung der Unehelichkeit eines Kindes ohne gerichtliche Feststellung eingeräumt werden.
Die Bestimmung des § 1260 der Reichsversicherungsordnung (RVO), nach der die Beklagte selbständig den Todestag des Verschollenen festgesetzt habe, erschöpfe sich in der Festlegung eines Zeitpunktes für die versicherungsrechtliche Rentenberechnung eine allgemeine Todes- oder Lebensvermutung - auch für den Bereich der Sozialversicherung - begründe einzig eine gerichtliche Todeserklärung, die hier nicht erfolgt sei.
Weiter sei - mangels ausdrücklicher gesetzlicher Vorschriften - auch eine entsprechende Anwendung des nur für die Kriegshinterbliebenenversorgung erlassenen § 52 Abs. 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) nicht zulässig.
Es sei für einen Rentenanspruch nach § 1258 RVO auch kein allgemeines Erfordernis, daß zwischen dem Bezieher einer Hinterbliebenenrente und dem verstorbenen Versicherten unmittelbar persönliche Beziehungen bestanden hätten.
Schließlich liege in der Erhebung des Waisenrentenanspruchs auch keine unzulässige Rechtsausübung; dies in einem Falle wie dem vorliegenden schon um deswillen nicht, weil der Kläger andernfalls überhaupt niemandem gegenüber einen Waisenrentenanspruch geltend machen könne und daher sonst einzig auf die Fürsorge zu verweisen sei.
Das Landessozialgericht hat die Revision gegen sein am 19. Mai 1956 zugestelltes Urteil zugelassen.
Die Beklagte hat am 9. Juni 1956 unter Antragstellung Revision eingelegt und diese am 16. Juli 1956 begründet.
Sie hält sich für berechtigt, nach § 1260 RVO den Todestag eines Versicherten selbständig mit der Wirkung festzustellen, daß dieser Todestag für das gesamte rentenrechtliche Verhältnis maßgeblich sei demnach sei die Ehe der Mutter das Klägers im Zeitpunkt von dessen Geburt bereits über 302 Tage aufgelöst gewesen und der Kläger als uneheliches Kind nicht waisenrentenberechtigt nach dem Versicherten. Für diese Auffassung spreche auch der Umstand, daß nach § 1258 Abs. 2 RVO nur solche Kinder als rentenberechtigt anzusehen seien, die zu dem Versicherten in einem persönlichen Verhältnis gestanden hätten.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt demgegenüber
Zurückweisung der Revision.
Er vertritt unter Hinweis auf zahlreiche seine Meinung stützende Literaturangaben die Auffassung, auch im Rahmen der Sozialversicherung sei für die Lebens- und Todesvermutung einzig die bürgerlich-rechtliche Todeserklärung maßgebend § 1260 RVO habe nur die ihm von dem angefochtenen Urteil beigemessene Bedeutung, ermögliche jedoch keine selbständige Feststellung des Todestages eines Verschollenen mit der Wirkung, daß seine Ehe bereits von diesem Zeitpunkt an versicherungsrechtlich als aufgelöst anzusehen sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt; sie ist vom Landessozialgericht zugelassen und daher statthaft.
Die Revision ist auch begründet.
Nach Auffassung des erkennenden Senats kann auch beim Nichterscheinen beider Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung ein Urteil nach Lage der Akten ergehen (vgl. Beschluß des BSG. - 3 RJ 100/55 - vom 27.7.1957, SozR. SGG § 126 Da 1 Nr. 1). Das Landessozialgericht durfte daher im Termin vom 21. Dezember 1955 das angefochtene Urteil erlassen.
Der erkennende Senat hat in ständiger Rechtsprechung entgegen der Auffassung des angefochtenen Urteils entschieden, daß jedenfalls in Fällen wie dem vorliegenden, auf den für eine Todeserklärung die Bestimmungen des Verschollenheits-Änderungsgesetzes anzuwenden wären, ohne daß dabei von Amts wegen gerichtliche Ermittlungen hinsichtlich des wahrscheinlichen Todestages anzustellen sind, die Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit berechtigt und verpflichtet sind, die sich nach §§ 1259, 1260 RVO a.F. ergebenden Todes- und Lebensvermutungen für den gesamten Bereich der Sozialversicherung einheitlich anzuwenden (Urteile vom 4.7.1957 - 4 RJ 74/56 vom 24.10.1957 - 4 RJ 92/56 - u.a.). In diesen Entscheidungen hat der Senat sich auch ausführlich mit der von dem Landessozialgericht und von dem Kläger vorgetragenen Rechtsauffassung auseinandergesetzt; es besteht keine Veranlassung, diese in jener ständigen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze wieder zu verlassen. Die Rechtsauffassung des Landessozialgerichts, die die Auflösung der Ehe der Mutter des Klägers allein auf eine etwaige gerichtliche Todeserklärung ihres verschollenen Ehemannes abstellen und deshalb die Unehelichkeit des Klägers unberücksichtigt lassen will, erweist sich demnach als unrichtig; das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben.
Das Landessozialgericht hat - von seinem Standpunkt aus folgerichtig - irgendwelche eigene Feststellungen über den Tod des verstorbenen Ehemannes der Mutter des Klägers weder selbst getroffen noch ist aus seinem Urteil auch nur die Billigung eines etwa von der Beklagten nach § 1260 RVO a.F. festgestellten Todeszeitpunktes des Versicherten - sei es auch nur mittelbar - zu schließen. Für den vorliegenden Fall hängt von dieser Feststellung jedoch entscheidend ab, ob der Kläger unehelich ist oder ob er noch als ehelich gilt; das Bundessozialgericht kann diese fehlenden Feststellungen nicht selbst treffen; die Sache mußte daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.
Fundstellen