Entscheidungsstichwort (Thema)
Waisenrentenanspruch scheinehelicher Kinder
Leitsatz (redaktionell)
Es besteht keine Veranlassung, die in der Entscheidung vom 1957-07-04 - 4 RJ 74/56 - entwickelten Grundsätze wieder zu verlassen. Die Todes- und Lebensvermutungen des VerschÄndG sind nicht anzuwenden, vielmehr hat das Tatsachengericht bei Verschollenen den wahrscheinlichen Todestag nach RVO § 1260 von Amts wegen festzustellen und die sich daraus ergebenden Todes- und Lebensvermutungen nach Maßgabe der Entscheidung vom 1957-07-04 anzuwenden.
Normenkette
RVO § 1260 Fassung: 1934-05-17; VerschÄndG Fassung: 1951-01-18
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 21. Dezember 1955 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I. Der Ehemann der Mutter des am ... 1945 geborenen Klägers ist als Soldat seit dem 25. Januar 1944 vermißt und - während des Verfahrens vor dem Sozialgericht - von dem Amtsgericht in Geldern mit dem 31. Dezember 1945 für tot erklärt worden. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 17. Mai 1954 den Antrag des durch seine Mutter vertretenen Klägers auf Waisenrente aus der Invalidenversicherung nach deren Ehemann mit der Begründung ab, daß sie nach § 1260 der Reichsversicherungsordnung a. F. (RVO) den Todestag des Verschollenen auf den 25. Januar 1944 festgesetzt habe. Demgegenüber verurteilte das Sozialgericht Düsseldorf am 8. März 1955 die Beklagte zur Gewährung der Waisenrente vom 1. Januar 1946 ab.
Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen bestätigte in seinem Urteil vom 21. Dezember 1955 die Entscheidung des Sozialgerichts durch kostenpflichtige Zurückweisung der Berufung.
Das Landessozialgericht begründet seine Entscheidung im wesentlichen folgendermaßen:
Der Kläger sei zwar nicht ehelich, weil er nicht vom Ehemann seiner Mutter erzeugt sein könne (§ 1591 Abs. 1 Satz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -); diese Unehelichkeit könne jedoch nicht geltend gemacht werden. Die Todeserklärung begründe nach § 9 des Verschollenheitsgesetzes (Versch. Ges.) die Vermutung, daß der Ehemann der Mutter des Klägers bis zum 13. Dezember 1945 gelebt habe; die Ehelichkeit sei von dem - neben dem Ehemann - allein dazu befugten Staatsanwalt nicht angefochten worden, wobei es nicht darauf ankomme, warum eine derartige Anfechtung unterblieben sei. Unter diesen Umständen könne die Unehelichkeit des Klägers nicht geltend gemacht werden, so daß er als eheliches Kind auch im Sinne des § 1258 RVO a. F. zu behandeln sei; ihm müsse daher die Waisenrente gewährt werden.
Das Landessozialgericht verneint in seinen weiteren Untersuchungen alle etwa für eine Anspruchsablehnung in Frage kommenden Möglichkeiten.
Infolge der Änderung der Rechtslage sei der Versicherungsträger nicht mehr berechtigt, die Unehelichkeit eines Kindes einredeweise auch ohne vorherige gerichtliche Feststellung geltend zu machen. Eine analoge Anwendung des erst am 7. August 1953 in das Bundesversorgungsgesetz (BVG) eingefügten § 52 Abs. 2 komme nicht in Frage.
Ein Rentenanspruch nach § 1258 RVO a. F. setze nicht unbedingt unmittelbare persönliche Beziehungen zwischen dem Versicherten und dem Kinde voraus.
Die Bestimmung des § 1260 RVO a. F. könne nicht als "lex spezialis" für den Bereich der Rentenversicherung angesehen werden; wie eine zusammenfassende Betrachtung der §§ 1259 und 1260 RVO a. F. ergebe, bezwecke diese Regelung vielmehr allein, den in §§ 1255 f. RVO a. F. genannten Personen Hinterbliebenenrentenansprüche bereits vor einer Todeserklärung unabhängig von einer Verschollenheit nach den Vorschriften des Versch. Ges. zu gewähren, erschöpfe jedoch ihre Bedeutung auch darin. Die gesetzliche Todeserklärung des § 9 des Versch. Ges. dagegen habe eine konstitutive Wirkung für alle Rechtsgebiete einschließlich der Rentenversicherung.
Schließlich versage auch der Einwand unzulässiger Rechtsausübung, da dem scheinehelichen Kind kein Verschulden vorgeworfen werden könne. Eine unzulässige Rechtsausübung allein in der Anspruchnahme eines gesetzlich zustehenden Rechts zu erblicken, sei um so weniger möglich, als einem derartigen Kind auf der anderen Seite die Erhebung von Unterhaltsansprüchen gegen seinen außerehelichen Erzeuger versagt sei.
Das Landessozialgericht hat die Revision gegen sein Urteil ausdrücklich zugelassen.
II. Die Beklagte hat gegen das ihr am 25. März 1956 zugestellte Urteil am 14. April 1956 Revision eingelegt und diese am 9. Mai 1956 begründet. Sie hält sich für berechtigt, unabhängig von einem gerichtlichen Todesfestsetzungsbeschluß nach § 1260 RVO a. F. den Todeszeitpunkt festzusetzen. Im übrigen seien unter "Hinterbliebenen" bei der Verschollenheitsrente nur die im Zeitpunkt der Verschollenheit schon vorhandenen oder erzeugten Angehörigen zu verstehen, da der Versicherungsfall der Verschollenheit nicht günstiger geregelt sein könne als der beim Tod des Versicherten selbst.
Schließlich sei der Kläger nach § 1593 Abs. 1 Satz 2 BGB unehelich; da für die Zahlung der Waisenrente die unmittelbare persönliche Beziehung des Kindes zu dem Versicherten ein gesetzliches Erfordernis sei, müsse sie hier trotz § 1593 BGB geltend gemacht werden können.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts in Düsseldorf aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat demgegenüber keine Anträge gestellt.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist frist- und formgerecht eingelegt, sie ist vom Landessozialgericht zugelassen und daher statthaft.
Die Revision ist auch begründet.
I. Wenn auch ausdrücklich keine entsprechende Feststellung vom Landessozialgericht getroffen ist und Unterlagen über die seinerzeit vorgelegte Todeserklärung des Amtsgerichts Geldern in den Akten nicht vorhanden sind, kann doch auf Grund des festgestellten Datums - 31. Dezember 1945 - im Zusammenhang mit dem wesentlich früheren vermißt werden des verschollenen Ehemanns der Mutter des Klägers davon ausgegangen werden, daß jene Todeserklärung allein auf Grund des Gesetzes über die Änderung von Vorschriften des Verschollenheitsgesetzes (Versch. Änd. Ges.) vom 18. Januar 1951 (BGBl. I S. 51) erfolgt ist. Wenn das Landessozialgericht unter diesen Umständen seiner Beurteilung der Frage der Beendigung der Ehe der Mutter mit ihrem verschollenen Ehemann allein die Todes- und Lebensvermutungen des Versch. Änd. Ges. zugrundegelegt und damit als Tag der Auflösung der Ehe den 31. Dezember 1945 angenommen hat, so hat es damit eine Auffassung vertreten, der der erkennende Senat bereits in seiner Entscheidung vom 4. Juli 1957 - 4 RJ 74/56 - entgegengetreten ist. Nach der in dieser Entscheidung entwickelten Ansicht hat das Tatsachengericht für den Fall, daß ein Versicherter im Sinne des § 1259 RVO a. F. als "verschollen" anzusehen ist, den wahrscheinlichen Todestag nach § 1260 RVO a. F. von Amts wegen festzustellen und die sich daraus ergebenden Todes- und Lebensvermutungen auch für die Frage, wann die Ehe des Versicherten durch seinen vermutlichen Tod als aufgelöst anzusehen ist, jedenfalls dann als maßgeblich anzuwenden, wenn und soweit als Folge einer etwa auf Grund des Versch. Änd. Ges. ausgesprochenen "schematischen" Todeserklärung Todes- und Lebensvermutungen angewandt werden müßten, die die allgemeinen Lebenserfahrungen mehr als erforderlich außer acht lassen. Wenn nach den auf Grund der Feststellung nach § 1260 RVO a. F. sich ergebenden Vermutungen die Ehe des Versicherten schon mehr als 302 Tage vor der Geburt eines Kindes seiner Ehefrau durch seinen Tod als aufgelöst anzusehen ist, so muß das Kind daher als unehelich angesehen werden. Es besteht keine Veranlassung, diese in jener Entscheidung entwickelten Grundsätze wieder zu verlassen. Die vom Landessozialgericht gegen die Anwendung des § 1260 RVO a. F. als "lex spezialis" angeführten Gründe sind in dem erwähnten Urteil bereits ausführlich gewürdigt und widerlegt worden. Zusätzlich sei mit Rücksicht auf die entsprechenden Ausführungen des Landessozialgerichts noch darauf hingewiesen, daß ein derartiges uneheliches Kind bzw. sein gesetzlicher Vertreter es jederzeit in der Hand hat, durch einen Antrag auf Feststellung des wahrscheinlichen Todestages des Verschollenen nach § 2 Abs. 1 Satz 2 Versch. Änd. Ges. seine Unehelichkeit jedermann gegenüber klarzustellen und damit auch die Grundlage für einen klagbaren Unterhaltsanspruch zu schaffen.
Wenn das Landessozialgericht die danach nicht anwendbaren Vermutungen des Versch. Änd. Ges. angewandt hat und wenn es daraus rechtsirrig gefolgert hat, die Unehelichkeit des Klägers müsse unberücksichtigt bleiben, so ergibt sich bereits hieraus die Unrichtigkeit der angefochtenen Entscheidung, ohne daß es noch eines Eingehens auf die weiteren, die Anspruchsablehnung aus sonstigen Gründen mißbilligenden Erwägungen des Landessozialgerichts bedurfte. Die angefochtene Entscheidung war daher aufzuheben.
II. Das Landessozialgericht hat nicht darüber entschieden, ob es die von der Beklagten nach § 1260 RVO a. F. getroffene Feststellung des Todestages des Versicherten als solche billigt; es hat - entsprechend seiner abweichenden Rechtsauffassung - auch selbst eine derartige Feststellung nicht treffen wollen und nicht getroffen. Die Frage, für welchen Zeitpunkt der Todestag des Versicherten gemäß § 1260 RVO a. F. festgestellt wird, ist im vorliegenden Fall entscheidend dafür, ob der Kläger unehelich ist oder als noch in der Ehe erzeugt und damit als ehelich gilt. Da das Bundessozialgericht diese fehlende Feststellung nicht selbst treffen kann, mußte die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen werden.
Fundstellen